Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 25.04.2001, Seite 1

Adiós General!

Die Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur in Chile

Am Ende essen alle Schweine vom selben Tisch", steht auf dem Transparent, das die Demonstration anführt, und von den Wänden der Stadt fragen Sprayer den Präsidenten: "Ricardo, welches Essen gab es beim Nationalen Sicherheitsrat?", jenem Gremium über das das chilenische Militär bis heute seinen Einfluss auf die Politik der zivilen Regierung ausübt. Chiles Staatspräsident Ricardo Lagos steht im Zentrum der Proteste von Menschenrechtsgruppen, zu denen das Netzwerk FUNA aufgerufen hat. "Solange es keine Gerechtigkeit gibt, solange wird es funa geben", schallen die Sprechchöre über die Alameda, jene zentrale Avenida, die tausende von DemonstrantInnen direkt auf den Regierungspalast La Moneda hinführt. Wolken von Flugzetteln flattern empor und werden vom Wind den Umstehenden zugetragen. Gruppen von PassantInnen bleiben stehen, klatschen die Parolen mit, und selbst die Nonnen eines nahegelegenen Klosters an der Plaza de Armas fallen in die Rufe ein, skandieren die noch immer uneingelösten Forderungen nach der Verurteilung der Mörder und Folterer.
Lange war es ruhig in Chile, zu lange. Auf das formale Ende der Militärdiktatur folgte ein Jahrzehnt des Schweigens und der Vertuschung. Die Generation, die den Übergang zur Demokratie noch in den 80er Jahren unter Wasserwerfern und Polizeiknüppeln erstritten oder im Untergrund erkämpft hatte, konnte und wollte es nicht glauben, dass ausgerechnet zivile Regierungen, die aus ihren eigenen Reihen hervorgegangen waren, sich über Jahre hinweg von den Militärs am Nasenring durch die politische Arena führen lassen würden. Doch in den elf Jahren formaler Demokratie hat das Regierungsbündnis Concertación den Nachlass der Diktatur nur verwaltet.
Das neoliberale Erbe wurde kritiklos übernommen, die Verfassung der Junta blieb unangetastet, und die Verbrecher von gestern sitzen heute in den Vorstandsetagen der Konzerne, gehen ihren zivilen Berufen nach, beziehen staatliche Pensionen oder verbringen ihren politischen Lebensabend als Senatoren. Einer von ihnen, "der Tyrann" im Singular, Augusto Pinochet Ugarte, wurde unmittelbar nach seinem Ausscheiden als Oberbefehlshaber der Streitkräfte zum "Senator auf Lebenszeit" ernannt.
Hingegen findet sich eine grosse Zahl jener, die die Diktaturjahre in Gefängnissen, Konzentrationslagern, in Exil und Untergrund verbrachten, heute ohne Arbeit, ohne staatliche Unterstützung und ohne die ihnen gebührende gesellschaftliche Anerkennung am Rande des öffentlichen Lebens wieder. Nicht wenigen sind bis heute die bürgerlichen Rechte nicht zurückgegeben, ihre Berufsverbote nie aufgehoben worden. Auf Entschädigungszahlungen warten die Opfer der Diktatur vergeblich. Und die Angehörigen jener Oppositionellen, die das Militär abholen und verschwinden liess, blieben alleine mit ihrer unablässig gestellten Frage: "Wo sind sie?"
Chile schwieg, fast zehn Jahre lang. Sie schienen sich nicht zu erfüllen, die letzten Worte, die Salvador Allende am 11.September 1973 noch kurz vor seinem Tod über den Äther geschickt hatte, während die Bomben bereits auf den Präsidentenpalast fielen: "Ich glaube an Chile und seine Zukunft. Andere nach mir werden auch diese bitteren und dunklen Augenblicke überwinden, in denen der Verrat versucht, sich durchzusetzen. Sie sollen wissen, dass eher früher als später aufrechte Menschen auf breiten Strassen marschieren werden, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen." In den Strassen Santiagos jedoch kämpften nach 1990 hauptsächlich die Kraftfahrzeuge — um das Recht des Stärkeren. Die zivile Regierung schien geschafft zu haben, was das Militär in seiner Brutalität vergebens versucht hatte: die weitgehende Auslöschung der Opposition.

Unter der Decke

Doch unter der Decke des Schweigens gärte es bereits. In akribischer Kleinarbeit versuchten oftmals vereinzelte AktivistInnen in Städten und Dörfern, in Elendsvierteln, Schulen und Universitäten das Unmögliche. Zurückgekehrt aus Gefängnis und Exil gründeten sie Stadtteilkomitees und Ökogruppen, organisierten Videokooperativen und Jugendprojekte, gaben Konzerte und spielten Theater, diskutierten über die Auswirkungen des Neoliberalismus, sprachen von Verbrechen und Gerechtigkeit und schafften ein neues Bewusstsein bei den ewigen VerliererInnen. "Denken ist wie Liebe machen..." kündeten über Jahre hinweg erneuerte Wandparolen, "...es ist nicht gesund, abstinent zu bleiben!" Dass ihre Saat irgendwann einmal aufgehen könnte, wagten viele selbst kaum mehr zu glauben. Und während sie noch die Tatenlosigkeit "der desillusionierten Jugend" verfluchten, wurden sie im Oktober 1997 davon überrascht, dass genau diese Jugend zu Zehntausenden in das Stadion von Santiago strömte, das seinerzeit international traurige Berühmtheit als Konzentrationslager der Diktatur erlangt hat, um an eben diesem Ort des 30.Jahrestags des Todes von Ernesto Che Guevara zu gedenken.
Man schien plötzlich nicht mehr allein. Die ersten kleineren Demonstrationen folgten, Wohnhäuser und Kulturzentren wurden besetzt, Gegenkultur gelebt und Widerstand organisiert — vorbei an den alten Parteien und Seilschaften, an den Männerbünden und Veteranenzirkeln, jenseits der Hierarchien der traditionellen Linken. Das Vertrauen galt der eigenen Kraft, dem eigenen Denken und Urteilsvermögen, aber stets unter positiver Bezugnahme auf den Widerstand der vorangegangenen Generationen. Massen junger Männer desertierten vor dem Militärdienst und tauchten ab. Die Ökologiebewegung schloss sich zusammen mit den Kämpfen der Mapuche, die im Süden Chiles gegen Staudammprojekte rebellieren, die ihre angestammten Siedlungsgebiete bedrohen.
Langsam wich die Angst — nicht zuletzt auch deshalb, weil die Aura der Allmacht, mit der das Militär lange Jahre seine Unantastbarkeit absicherte, im Vorjahr einen entscheidenden ersten Kratzer erhielt. Da wurden Manuel Contreras Sepulvéda, ehemaliger Chef des Geheimdienstes DINA, und sein Adlatus General Pedro Espinoza trotz massiven Widerstands wegen des Mordes an Allendes ehemaligem Aussenminister Orlando Letelier inhaftiert. Ihre Verurteilung war nur deshalb möglich geworden, weil der Mord in Washington geschehen war und somit nicht unter das chilenische Amnestiegesetz fiel. Noch in den Tagen vor der Verhaftung hielt sich der bereits verurteilte Contreras mit seiner Privatarmee im Süden Chiles verschanzt, verhöhnte auf allen Fernsehkanälen die chilenische Justiz, und aus Militärkreisen gelangten offene Putschdrohungen für den Fall seiner Festnahme an die Öffentlichkeit. Über Tage hinweg beherrschte ein Angstklima die chilenische Öffentlichkeit, in der Linken grassierte die Furcht vor neuen Todesschwadronen.
Doch Contreras und Espinoza wurden inhaftiert und nichts passierte. Die Drohungen verpufften, und die chilenische Öffentlichkeit konnte erkennen, dass auch das Militär prinzipiell verwundbar war.

Eine neue Generation

Nun sind es die Jugendlichen, die den Militärputsch von 1973 selbst nicht miterlebt haben, die die Regierung und die schweigende Elterngeneration nach den faulen Kompromissen fragen, die beim Übergang zur Demokratie gemacht wurden, nach der Straflosigkeit für die Verbrecher der Diktatur, nach der Rolle des Militärs heute.
Unterstützung erhielt dieser Prozess aus dem Ausland, wo der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón den ehemaligen Diktator mit internationalem Haftbefehl suchen liess. Niemand hätte sich damals träumen lassen, welch eine Lawine die Verhaftung Pinochets in London und das 15-monatige Tauziehen um seine Auslieferung nach Spanien in Chile ins Rollen bringen würde.
Noch bei seiner Rückkehr nach Santiago liess sich der General von seinen Anhängern als Sieger feiern. Die weltweiten Proteste schienen nichts genützt zu haben. Demonstrativ liess er den Rollstuhl auf dem Rollfeld zurück und schritt auf eigenen Füssen in die zurückgewonnene Straffreiheit.
Doch die Forderung nach einer Aufarbeitung der Vergangenheit liess sich nicht mehr aufhalten. Längst hatten die Jugendlichen mit der Gründung des Netzwerks FUNA begonnen. Inspiriert aus dem Nachbarland Argentinien, wo sich unter dem Kürzel HIJOS die Kinder der Verschwundenen zusammengeschlossen haben, verleihen sie dem Kampf um Menschenrechte nun ein neues Gesicht. Nicht mehr allein die Verbrechen, sondern die Verbrechen selbst stehen im Zentrum ihrer Öffentlichkeitsarbeit.
1999 startete die erste funa — abgeleitet von funar, das soviel bedeutet, wie jemanden "verbrennen", seine falsche Identität auffliegen lassen. Die Jugendlichen erforschten die Biografien von Tätern, fanden heraus, wo diese heute unter falschen Namen leben und arbeiten, und trugen gerichtsverwertbare Beweise über Verbrechen zusammen, an denen die bis dato Unerkannten beteiligt waren. Unter der Parole "Solange es keine Gerechtigkeit gibt, solange wird es funa geben," zogen sie mit über Telefon, Fax und Email eilig alarmierten MitstreiterInnen vor die Wohnhäuser und Arbeitsplätze ehemaliger Täter, verteilten Flugblätter und liessen deren falsche Identität gegenüber NachbarInnen und KollegInnen auffliegen. In den letzten zwei Jahren haben sich immer mehr Menschen an den spontan ausgerufenen, aber bestens organisierten funas beteiligt. Zu Verhaftungen kam es bislang nie. Zu sehr fürchten die chilenischen Behörden die gerichtsverwertbaren Beweise, die jeder funa zugrunde liegen.

Anklagewelle

Unterdessen haben auch die traditionellen Menschenrechtsorganisationen den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Anklage der Verbrecher verlagert. Findige AnwältInnen, die die Angehörigen der Verschwundenen vertreten, umgehen mit einer klugen Konstruktion die Amnestie, mit der sich die Diktatur seinerzeit ihre eigenen Verbrechen verzieh. In Bezug auf die Verschwundenen, so heisst es vor Gericht, gibt es kein gesichertes Wissen darüber, dass sie wirklich tot seien. Solange die Militärs nicht Rechenschaft darüber ablegten, was sie diesen Menschen angetan haben, solange sei juristisch vom Tatbestand einer bis heute andauernden Entführung auszugehen. Damit falle das Verschwindenlassen von GegnerInnen der Diktatur nicht länger unter die Amnestie. Gegen zahlreiche hohe Militärs wurde Anklage erhoben.
Die Justiz macht sich jetzt eine neue Interpretation des Amnestiegesetzes zu eigen. Entgegen vorheriger Praxis, bei der zahlreiche Verbrechen nie zur Anklage gelangten, heisst es heute: Bevor jemand amnestiert werden kann, muss er oder sie zunächst schuldig verurteilt sein.
Noch während Pinochet in London unter Hausarrest stand, hatten sich einige ehemalige politische Gefangene zusammengeschlossen und Klagen wegen der erlittenen Haft und Folter vorbereitet. Sie bereiteten damit den Boden für eine Welle von Anklagen gegen den Diktator, vor allem wegen des von ihm erteilten Befehls zur sogenannten "Todeskarawane", in deren Rahmen unmittelbar nach dem Militärputsch zahlreiche Oppositionelle in den Gefängnissen ohne Verfahren hingerichtet wurden.
Durch die Prozesslawine geriet das Militär deutlich in die Defensive. Auch die Versuche der Regierung, die öffentliche Debatte einzugrenzen, fruchteten nicht. Im Gegenteil. Mit Untersuchungsrichter Juan Guzmán Tapia hatte die Regierung einen eigenen Baltasar Garzón ernannt, der nunmehr unerbittlich gegen den ehemaligen Diktator ermittelte und Pinochet vorübergehend auch in Chile unter Hausarrest zu stellen vermochte. Auch der Versuch der Anwälte, Pinochet für altersschwachsinnig und daher prozessunfähig erklären zu lassen, blieb ohne Erfolg.
In dieser Situation erwog das chilenische Militär einen juristischen Befreiungsschlag, der sich jedoch zum politischen Rohrkrepierer entwickeln sollte. Es erklärte gönnerisch, es wolle nun endlich Rechenschaft über das Schicksal der Verschwundenen ablegen, um seinen eigenen Beitrag an der Aufarbeitung der Vergangenheit zu leisten. Die Debatte um Menschenrechtsverbrechen sollte auf die Ermordeten reduziert werden; das Militär hätte dann eine Beteiligung daran zugegeben, wäre aber gleichzeitig von der Amnestie geschützt geblieben. Ein juristisch scheinbar erfolgversprechender Schachzug.

Protestwelle

Anfang Januar dieses Jahres legten die Streitkräfte der Regierung ihren Bericht vor. In einer ergreifend vorgetragenen, inhaltsleeren Rede bedankte sich Präsident Lagos für die gute Zusammenarbeit und sprach von dem Stolz, den er für die grossartigen Leistungen seines Landes empfinde.
Doch es dauerte nur wenige Stunden, bis der Inhalt des Berichtes bekannt wurde. Von über 1000 Verschwundenen behandelte er genau 180, eben jene Fälle, in denen es zu Anklagen gegen Militärs gekommen war. Für 49 von ihnen wurden mögliche Orte von Gräbern angegeben, in denen die Leichen verscharrt worden waren. Die übrigen 131 seien aus Hubschraubern über dem Meer, über Vulkanen und Seen abgeworfen worden. Bei näherem Hinsehen erwies sich aber gerade in diesen Fällen das Material als frei erfunden. Todesdaten wurden aufgeführt, zu denen die Opfer noch nicht einmal verhaftet worden waren oder noch danach Briefe aus der Haft geschmuggelt hatten.
Eine Welle der Entrüstung ergriff das Land. "Psychologische Untersuchung Pinochets jetzt überflüssig — nur Psychopathen werfen lebende Menschen ins Meer", titelte die Satirezeitschrift The Clinic, die sich seit ihrem Erscheinen nach der Verhaftung Pinochets in der Londoner Privatklinik zur Zeitung mit der zweitstärksten Auflage Chile entwickelt hat. Andere Zeitungen waren nicht weniger zurückhaltend. "Keine Angst", hiess es unter einem Cartoon in Punto final, auf dem die psychiatrischen Gutachter mit den Anwälten des Diktators sprechen, "bei uns werden Befragungen ohne die Anwendung von Elektroschocks durchgeführt."
Tausende versammelten sich spontan in den Strassen, um ein Ende der Straffreiheit und die Verurteilung Pinochets zu fordern. Seither reissen die Kundgebungen nicht mehr ab. Eine öffentliche Erklärung des chilenischen Innenministers, die Regierung wolle zwar das Schicksal der Verschwundenen aufklären, aber nicht jeder Fall könne vor Gericht gebracht werden, erntete eine Welle der Empörung. Nun ist es nicht länger möglich, die Menschenrechtsverbrechen auf die Morde der Diktatur zu beschränken. Tausende Folteropfer bereiten Anzeigen gegen die Täter vor und auch Pinochet selbst wird sich früher oder später vor Gericht wiederfinden.
Doch die Verurteilung des alternden Diktators ist in erster Linie ein Akt für die Geschichtsbücher. Ein Gefängnis wird er aus Altersgründen kaum von innen sehen, seine Autorität hat er längst verloren, und weite Teile der Bevölkerung stimmen heute in den Ruf "Adiós General" ein, den die Gruppe Sol y Lluvia mit ihrem gleichnamigen Lied auf die Strasse getragen hat.
Wichtig genug, dem Tyrannen den historischen Platz zuzuweisen, der ihm gebührt, wichtiger noch, die Opfer zu rehabilitieren und die Schlächter aus der zweiten und dritten Reihe zur Verantwortung zu ziehen. Das Nachbarland Argentinien zeigt gerade, dass auch Amnestiegesetze wieder aufgehoben werden können. Der Kampf gegen die Straflosigkeit hat erst begonnen, die "aufrechten Menschen in den Strassen Chiles" werden einen langen Atem brauchen.

Knut Rauchfuss

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