Sozialistische Zeitung |
Das von Finanzminister Kemal Dervis am Osterwochenende vorgestellte Reformprogramm wurde inzwischen vom Internationalen
Währungsfonds (IWF) sowie von der US-Regierung begrüßt. Der IWF hat bereits Unterstützung in Höhe von 6 Milliarden US-Dollar
zugesagt. Ein Hilferuf der türkischen Regierung an die G7-Staaten blieb bisher ohne Antwort. Die Türkei erwartet von ihnen finanzielle
Unterstützung in Höhe von 10 Milliarden US-Dollar. Angeblich bestehe Uneinigkeit unter den G7-Staaten, berichtet die Financial Times Deutschland am
Wochenende. Einige Staaten sehen die Türkei als "Fass ohne Boden", zitiert die Zeitung ungenannte Quellen. Deutschland wolle, dass die
Türkei sich bei strittigen Fragen, wie z.B. Zypern, bewege, bevor weitere finanzielle Zusagen gemacht werden. Die USA hält sich bisher zurück.
Außenminister Colin Powell will die Türkei als strategischen Partner stärken, Bush selbst hat außer einer allgemeinen Sympathiebekundung
gegenüber Ecevit noch keine konkrete Aussage gemacht.
Ohne das Geld aus dem Ausland wird Kemal Dervis sein Programm nicht realisieren können.
Der Plan sieht drastische Kürzungen im Regierungsetat um 9%, beschleunigte Privatisierungen und eine Reformierung des Bankenwesens vor. Unklar ist, welche
staatlichen Bereiche von den Kürzungen betroffen sein werden. Die Löhne im öffentlichen Dienst wurden bereits für 6 Monate eingefroren.
Geplante Rüstungsgeschäfte im Wert von rund 20 Milliarden US-Dollar wurden auf Eis
gelegt. Der türkische Generalstab hatte das bereits vor dem Osterwochenende mitgeteilt. Allerdings wird durch diese Entscheidung lediglich die geplante
Neuverschuldung reduziert. Die Privatisierungen sollen vor allem im Telekommunikationsbereich, der Luftfahrt und im Energiesektor beschleunigt werden.
Ausländische Firmen sollen aber nicht mehr als 49% Anteile erwerben können.
Kemal Dervis will die türkische Wirtschaft aus der engen Umklammerung der Politik heraus
auf eigene Füße stellen und für den globalisierten Weltmarkt fit machen. Ob das gelingen wird, hängt auch davon ab, ob Regierung und
Parlament bereit sind, entsprechende Gesetzesänderungen vorzunehmen. Besonders im Bereich der Korruptionsbekämpfung werden einige Politiker mit
unangenehmen Entwicklungen zu rechnen haben, falls der Dervis-Plan realisiert wird.
Zur Abwicklung eigener Geschäfte hatten sie Druck auf Banken ausgeübt, damit diese
günstige Kredite geben. Als die Kredite nicht zurückgezahlt werden konnten, gingen die Banken pleite. 11 private Banken hat es so erwischt, denen ein
Kapital von 34 Milliarden US-Dollar fehlte. Während die Urheber der Krise sich davon machten, waren die einfachen, ahnungslosen Kontoinhaber die Verlierer.
Für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet der Dervis-Plan keine Verbesserung ihrer
prekären Lage. Durch den hohen Wertverlust der türkischen Lira sind die Preise für Lebensmittel, Medikamente und Gas in die Höhe
geschossen. Benzin wurde um 60% teurer. Gleichzeitig haben zehntausende Arbeiter ihren Job, Rentner ihre Ersparnisse verloren und selbst Angestellte im staatlichen
Dienst können für ihr monatliches Durchschnittsgehalt von 315 Dollar nicht mehr viel kaufen. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 110 Dollar.
In der Provinz von Sivas haben sich sogar 11 Dörfer zum Komplettverkauf angeboten, weil sie
zahlungsunfähig sind. Die Dorfbewohner wollen damit Druck auf die Regierung ausüben, ihre Kreditrückzahlungen entweder teilweise aufzuheben
oder aber zu verlängern.
Parallel zur Bekanntgabe des neuen Wirtschaftsprogramms demonstrierten am 14. April in der ganzen
Türkei zehntausende von Menschen dagegen. Die "Plattform der Arbeit" hatte die Proteste organisiert. In dieser Plattform sind alle Gewerkschaften
der Türkei und verschiedene Oppositionsparteien zusammengeschlossen. Türk-Is, DISK, KESK und Hak-Is sind ebenso vertreten, wie die
Architektenkammer, die Ingenieurs- und Ärztekammer. Von den Oppositionsparteien beteiligen sich ÖDP, EMEK, HADEP und SIP. Im März hatte die
Plattform auf einem Symposium ein alternatives Programm der Arbeit vorgelegt.
Um die Krise zu überwinden, müsse die Arbeit in der Türkei ebenso
geschützt werden, wie die Unabhängigkeit des Volkes und des Landes, heißt es da. Man wende sich mit dem Programm gegen die Globalisierung und
den "wilden Kapitalismus". Das Programm verurteilt die mafiösen Strukturen in Wirtschaft und Politik der Türkei, die undemokratische Haltung
und den Ausverkauf der türkischen Landwirtschaft an internationale Monopole.
In dem detaillierten Programm wird die Privatisierung abgelehnt und eine Neuregelung zur
Rückzahlung von Schulden gefordert. Anstatt einen "schlankeren Staat" zu etablieren, müsste staatliches Engagement im Bereich von Bildung
und Gesundheit verstärkt werden. Eine bessere Absicherung von Arbeitslosen sowie ein Mindesteinkommen für Rentner und ArbeiterInnen wird gefordert.
Die Plattform will, dass die 18 Freihandelszonen in der Türkei aufgelöst werden und
erteilt den Programmen von IWF und Weltbank eine klare Absage. Außerdem wird die verfassungsmäßige Garantie von Arbeiterrechten
entsprechend der Internationalen Arbeiterkonvention gefordert, ein Verbot der Kinderarbeit (1,6 Mio Kinder seien davon betroffen) und die Abschaffung der
Verfassung von 1982, die "allen demokratischen Entwicklungen im Wege" stehe.
Neben den Gewerkschaften und Oppositionsparteien beteiligten sich tausende unorganisierter
Geschäftsleute, Kleingewerbetreibende und Bazarhändler an den Protesten. In einer Analyse der Demonstrationen vom 14.April stellt die (in Köln
ansässige) Föderation der Arbeiter aus der Türkei, DIDF, fest, dass sich zunehmend auch Schüler und Studenten sowie in den kurdischen
Gebieten in Gaziantep, Adana und Mersin, auch Bauern beteiligten. Zu den häufigsten Parolen gehörten "Nein zu Privatisierung", "Weg
mit dem IWF" und "Weg mit den Verboten".
An der letzten Parole wird eine Tendenz sichtbar, die die mangelnde Demokratie und Freiheit in der
Türkei für die wirtschaftliche und politische Krise in der Türkei mit verantwortlich macht. Die "Plattform der Arbeit" hat als Organisator
für die Demonstrationen am 14.April eine wichtige Rolle gespielt. Von einer gemeinsamen Strategie der politischen Opposition kann aber nicht die Rede sein.
Die massenhafte Beteiligung an den Protestaktionen bedeutet nicht automatisch eine Übereinstimmung mit den politischen Positionen, sondern ist vor allem
Ausdruck purer Existenzangst.
Selbst Anhänger und Abgeordente der faschistischen MHP, die ja zusammen mit DSP und
ANAP die Regierungskoalition stellt, lehnen die Pläne des IWF als unzulässige Einmischung von außén ab. Der MHP-Abgeordnete Mehmet
Gül machte kürzlich aus seiner Meinung über den neuen Finanzminister Dervis keinen Hehl. Als er meinte, die Fernsehkameras seien schon
abgeschaltet, schimpfte er, Dervis gehöre der Freimaurerloge an und seine Mutter sei eine "Ungläubige". Es gehört zu den
unsäglichen schwarz-weißen Denkmustern in nationalchauvinisten Kreisen der Türkei, dass für innere Probleme des Landes gerne
unspezifizierte ausländische Interessen verantwortlich gemacht werden.
Karin Leukefeld
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