Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 25.04.2001, Seite 16

‘Dennoch ging ich diesen Weg‘

Die Autobiografie von Wolfgang Szepansky

Wir werden uns dafür einsetzen, dass sich so etwas Schreckliches nicht wiederholen kann!" Das ist der letzte Satz eines Briefes, den die Klasse 6a der Maria-Montessori-Schule von Berlin Tempelhof am 9.März 1999 an Wolfgang Szepansky geschrieben hat. Und das ist das ganz Besondere an der Autobiografie* des im "Dritten Reich" verfolgten Handwerkers: sie endet nicht mit der Gründung der "neuen" Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und auch nicht in mit den 50er Jahren, in denen Kommunisten an westdeutschen Schulen schon wieder nicht erwünscht waren.
Im letzten Kapitel schreibt der Autor über seine Arbeit als Zeitzeuge in Schulen. Und besonders dadurch wird es zum aktuellen Lehrbuch für alle, die sich mit der faschistischen Vergangenheit beschäftigen und für alle, die sich mit den neofaschistischen Tendenzen und Umtrieben im "wiedervereinigten Deutschland" auseinandersetzen, und auch für alle diejenigen, die den Wunsch nach einer anderen, besseren Zukunft haben und dafür arbeiten wollen.
Oft fragen Lehrende, wie sie diesen Umtrieben begegnen könnten, was ein Pädagoge oder eine Universitätsprofessorin gegen rechtsextremes Auftreten tun kann. Eine außerordentlich wichtige Methode ist sicher das nach wie vor verbreitete feige Schweigen der deutschen Bürger im Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus zu brechen.
Szepansky berichtet in den Schulen und in seinem Buch nicht nur von den Opfern, er wendet sich vor allem den Tätern zu und stellt die Frage, wie ganz gewöhnliche Deutsche, wie "normale" Menschen zu Massenmördern werden konnten, um sich nach dem Krieg genauso schnell wieder in "normale" Menschen zurückzuverwandeln.
Die SchülerInnen, mit denen er spricht — sie kommen hauptsächlich aus Gymnasien und Gesamtschulen, aber auch aus Grundschulen, Universitäten und Volkshochschulen und mitunter sogar aus dem Kindergarten — artikulieren nicht nur ihre Unsicherheit im Umgang mit rechten Jugendlichen. Sie zeigen immer noch, dass sie über den Nationalsozialismus wie auch den aktuellen Rechtsextremismus viel zu wenig wissen. Sie werden ganz offensichtlich von den Erwachsenen allein gelassen. Wolfgang Szepansky redet mit ihnen, und man kann mit ihm reden.

Mit Sieben im Agitproptheater

Seine Autobiografie ist zweifelsohne Teil seiner Aufklärungsarbeit. Er schildert darin nicht nur die Jahre 1933—1945 als "für mich die tragischste Zeitgeschichte des 20.Jahrhunderts", sondern auch seine Kindheit im Berliner "roten" Wedding. Sie begann zunächst so hoffnungsfroh, bis der Erste Weltkrieg "seine eiserne Ferse" in die glücklichen Tage setzte.
Während dieser Zeit der ersten Kindheit macht der kleine Wolfgang die ersten Erfahrungen, mit Bezugspersonen, die ohne Wenn und Aber gegen die Kriegspolitik der Herrschenden und gegen die Kriegsbegeisterung der Massen Positionen bezogen. Es war ganz offensichtlich seine Mutter, die es früh verstand, seine Abscheu gegen den Krieg zu wecken. Aber auch der Vater zeigte ganz deutlich sein Unverständnis und seine Abneigung gegenüber Menschen, die gestern sangen: "Die Internationale wird die Welt befreien", und heute durch die Straßen riefen: "Siegreich wollen wir Frankreich schlagen."
Szepansky beschreibt auch, wie ihm der Gegensatz zu dem, was er von den Lehrern, den Nachbarn und den SPD-Genossen der Eltern hörte, bewusst wurde. Es waren jedoch die Eltern, die die Kinder in ihre subversive Arbeit einbezogen: "Revolution im Pfefferkuchenheim", war sein erster Auftritt mit den Eltern, die ihn als Siebenjährigen in ihr Agitproptheater einbezogen.
Früh musste er auch erfahren, was es hieß, "anders auszusehen, als der Durchschnitt". Seine Mitschüler verspotteten ihn, wo sie konnten wegen seiner langen blonden Locken, die ihm ein mädchenhaften Aussehen verliehen. Er lernte, sich durchzusetzen. Er lernte aber auch, dass man Äußerlichkeiten nicht zum Maßstab der Bewertung anderer Menschen macht. Während der Kriegsjahre war Schmalhans Küchenmeister und oft war der Hunger unerträglich. Kein Wunder, dass ihm die Freudentränen übers Gesicht liefen, als der Vater 1918 aus der Zeitung vorlas, dass der Kaiser geflohen und der Krieg zu Ende sei.
Als Achtjähriger schrieb er sein erstes Gedicht: "Der Krieg ist aus, viele kehren als Krüppel nach Haus — die Mütter weinen". Mit dem Dichten war er in die Fußstapfen von Mutter und Vater getreten. Er begann, wichtige Erlebnisse zu zeichnen, aufzuschreiben und in Verse zu fassen. Gedichte, Zeichnungen und Fotos sind es, die das Buch durch alle beschriebenen Lebensphasen begleiten und es so zu einem richtigen Lesebuch machen.
Trotz dieser vielseitigen Fähigkeiten musste er sich durch die Schule quälen. Wäre da nicht die kommunistische Kindergruppe, die jungen Naturfreunde und der Sportverein Fichte gewesen und die endlosen politischen Diskussionen, hätte es nicht viele Höhepunkte in seinem jungen Leben gegeben.
Nach der Jugendweihe kam er zu seinem Vater in die Lehre, damit er wie dieser ein tüchtiger Maler werde. Nach einer Wanderschaft widmete er sich neben seiner Arbeit wieder dem politischen Theater und der Arbeit in der Agitpropgruppe "Roter Hammer" für die Kampffonds von KPD, Internationaler Arbeiterhilfe und Roter Hilfe. Kein Wunder, dass er und seine GenossInnen sehr schnell mit der Polizei in Berührung kamen.
Als 1931 — das Hakenkreuz warf bereits seine Schatten voraus — die "Verordnung zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen" erlassen worden war, war es nicht nur für den "Roten Hammer" aus mit der Kunst, viele hervorragende Kabarettisten und Arbeiterdichter wurden verboten. Szepanski begann nun die politische Arbeit im Jugendverband der KPD. Als Maler übernahm er das Malen, und das sollte ihm nicht nur einmal zum Verhängnis werden.
Er bemalte mehrere Wände mit den Worten "Nieder mit den Brüning‘schen Notverordnungen", bevor ihn Polizeibeamte zur Wache schleppten. Als ehrlicher und aufrichtiger Mann hat er seine Tat zugegeben und obendrein noch mit dem Polizisten über den notwendigen Sozialismus diskutiert. Wenig später knallte die Tür des Polizeigefängnisses wegen "Verunreinigung der Straße" ins Schloss. Zwar musste er nur drei Tage bleiben, aber seine Akte war nun mit dem Stempel "vorbestraft" versehen. Das sollte ihm lange nachhängen. Mit dem Demonstrieren gegen das Verbot der KPD und gegen das herannahende braune Regime ließ er nicht locker.

‘Nieder mit Hitler‘

Nach der Machtübernahme beobachteten ein Polizeibeamter in Zivil und ein SA-Mann den Schmierfinken bei einer erneuten staatsfeindlichen Malarbeit und nahmen ihn sowie zwei seiner Helfer fest. "Nieder mit Hitler! KPD lebt. Rot Front!" hatte er nunmehr an eine Wand gemalt. Jetzt erlebte er Demütigungen, Schläge und Verhöre, aber er gab nichts zu und seine Genossen verriet er schon überhaupt nicht.
Es war ein Freund aus der Kinderzeit — in der Zwischenzeit SA-Genosse, der ihn befreite. Nun war er zum zweiten Mal vorbestraft. Mit der Widerstandsarbeit wollte er auf keinen Fall aufgeben, vor einem erneuten Verhandlungstermin wegen "Fortführung des verbotenen Roten Frontkämpferbunds" emigrierte er nach Holland, wo er die politische Arbeit mit viel Aufregung, Hoffnung und Enttäuschung weiterführte.
In seiner Autobiografie schildert er die politische Situation der Emigranten, der Widerständler und der nicht geglückten Einheitsfront der Linken gegen den Faschismus anschaulich. Er zeigt aber auch auf, wie er sich mit den verschiedensten Gelegenheitsarbeiten nur mühsam und nur mit der Hilfe solidarischer Mitmenschen über Wasser halten konnte.
Im Mai 1940, als die deutsche Wehrmacht in die Niederlande einfiel, geriet er wieder in die Fänge der Gestapo. Nach einem Gefängnisaufenthalt in Holland wurde er zurück ins faschistische Deutschland, zur Steinwache in Dortmund, geschleppt, von da ins Polizeigefängnis Berlin-Alexanderplatz, bis er nach einem erneuten Transport schließlich durch ein Tor gestoßen wurde, über das die Buchstaben "Arbeit macht frei", gemalt waren.
Nun war er jeder Individualität beraubt, wurde in eine einheitliche Zebrakleidung gesteckt, mit der Nummer 33527 und mit einem roten Winkel für "Politische" versehen. Er musste Kartoffeln schälen, wurde vor einen schmalrädrigen Bauernwagen gespannt, wurde gezwungen auf einer Wiese Grasboden auszustechen und musste die Erniedrigungen von Vorarbeitern und Mithäftlingen ertragen. Er hörte auch von Menschen, die in die hinterste Ecke des Hofes geführt wurden und von dort nie wieder zurückkehrten.
Schließlich hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen "Rassenschande" gegen ihn eingeleitet, weil er in Amsterdam mit einer holländischen Jüdin zusammengelebt hatte. Nun kam er ins Untersuchungsgefängnis Moabit, dann ins Strafgefängnis Tegel, wo er zwei Jahre bleiben sollte. Danach wurde er über das Gefängnis Berlin-Alexanderplatz wieder nach Sachsenhausen zurückgebracht und erhielt die alte Häftlingsnummer.
Er zeichnete jede freie Minute und hielt sich so am Leben. In seinem Buch beschreibt er Erniedrigungen, Korruption und menschenverachtende Demütigungen, Auspeitschung, Todesangst und Mord, aber auch die Solidarität mancher Häftlinge. Am 21. April 1945 wurde er mit den anderen Häftlingen auf den Todesmarsch geschickt. "Oft fielen Schüsse. Ich weiß nicht, wie viele getötet wurden", schreibt er. Dann erfolgte in Schwerin die Befreiung durch britische Truppen.

Der Kampf geht weiter

Szepansky machte sich mit den anderen sofort an die politische Aufbauarbeit. "[W]ir wollten dazu beitragen, eine Welt des Friedens und der Freiheit zu errichten. Wir wollten in diesem friedlichem Aufbau die ersten sein", schreibt er im sechsten Kapitel seines Buches: "Heimkehr — Der Kampf geht weiter". Und die Leserin wundert sich, woher er und seine Genossen die Kraft nehmen.
Wieder fertigte er Transparente an, dieses Mal in deutscher und russischer Sprache: "Dem Tode entronnen", "Wir kommen aus dem KZ Sachsenhausen" und "Den Faschismus mit der Wurzel ausrotten". Mit den so geschmückten Wagen fuhren sie in Berlin ein, das einer Trümmerberglandschaft glich. Sofort schloss er sich der "Antifa" an und gründete zusammen mit Karl Veken und anderen eine antifaschistische Jugendorganisation, schrieb Berichte, Artikel eine öffentliche Wandzeitung und gab eine hektografierte Jugendzeitung heraus.
Schließlich wurde er Lehrer und begann voller Begeisterung, die jungen Menschen für eine neue Demokratie zu erziehen. Er hatte einen Beruf gefunden, der ihm zugleich Berufung war. Aber schon krochen "Reaktionäre aller Schattierungen aus ihren Schlupfwinkeln und machten Russen und Kommunisten für die katastrophale wirtschaftliche Lage verantwortlich". In den Schulen wurden alte, "bewährte Fachkräfte" wieder eingestellt, die schnell zum antikommunistischen Kampf übergingen.
Nach bestandener zweiter Lehrerprüfung (1949) wurde die Atmosphäre in der Schule immer unerträglicher: Schulbücher "aus dem Osten" durften nicht mehr verwendet werden, Klassenfahrten dorthin wurden nicht mehr riskiert, nicht die Atombombe wurde geächtet, sondern diejenigen, die gegen die Atombombe Unterschriften sammelten. Der Kalte Krieg war ein totaler Krieg. Schon wieder wurde der Antifaschist gehetzt und bekämpft. Die Mutter eines Schülers hat ihn bespitzelt, als er an einer Dampferfahrt in die DDR teilgenommen hatte.
Die Einsicht in seine Personalakte ergab noch andere "Vergehen": Teilnahme am Pfingsttreffen der FDJ 1950, Herr S. steht "im anderen Lager", will das Thema Luftbrücke nicht zeichnen lassen, und hat drei Vorstrafen — wegen seiner Malaktionen und wegen "Rassenschande". Nach einem Prozess, der mit einem "Vergleich" endete, wurde er aus dem Schuldienst entlassen. Schulleiter und KollegInnen mit der braunen Vergangenheit hatten gesiegt, und er war erwerbslos. Schon wieder musste er erleben, wie Menschen am 1.Mai festgenommen wurden, weil sie eine rote Nelke im Knopfloch trugen und schon wieder wurde die rote Fahne am selben Tag von seinem Balkon entfernt.
Als Wolfgang Szepansky seine Erlebnisse aufgeschrieben hat, konnte er nicht verstehen, dass es viele aus seiner Generation gelassen hingenommen haben, dass wieder Bunker gebaut werden, die Bundesrepublik wieder aufrüstet und sich junge Menschen für das mörderische Kriegshandwerk ausbilden lassen.
Im letzten Kapitel des Buches beschreibt er, wie er als Zeitzeuge 1979 in "seine" ehemalige Schule zurückgekehrt ist. Bis heute wurde Wolfgang S. in viele Schulen eingeladen. Er erzählt Kindern und Jugendlichen, was er erlebt hat und spricht von seinen toten Freunden, die ihr Leben einsetzten, um den Faschismus zu verhindern und den Frieden zu erhalten. Für ihn selbst gilt heute wie damals: "Es ist besser, für eine gerechte Sache zu kämpfen, als sich für eine ungerechte Sache missbrauchen zu lassen. Der Krieg gegen andere Völker ist das größte Unrecht. Es zu dulden — heißt schuldig werden." Diese Überzeugung hat er für sich gewonnen und so kann er sie glaubhaft weiter geben.
Wolfgang Szepansky würde den Weg, den er gegangen ist, auch heute wieder gehen. Das Buch ist eine unbeschreibliche Beschreibung von Erlebnissen, die unglaublich wären, wenn Wolfgang Szepansky sie nicht niedergeschrieben hätte. Darin liegt sein Verdienst. Es sollte von allen Eltern, Lehrern, Ausbildern, Erwachsenen und Jugendlichen gelesen und schon mit Kindern diskutiert werden.

Gisela Notz

*Wolfgang Szepansky, Dennoch ging ich diesen Weg, Berlin (Trafo) 2000, 278 Seiten, 34,80 Mark.

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