Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.10 vom 10.05.2001, Seite 10

Sesselpupers Tagtraum

Wahrscheinlich hat er schon bei der Anfahrt auf der Hamburger Ost-West-Achse im Stau gestanden. Dann die tägliche Quälerei, einen Parkplatz zu finden und vielleicht hat auch noch der Fahrstuhl im Spiegel-Hochhaus geklemmt. Aber oben angekommen, hat er sich dann zurückgelehnt und Erleichterung verschafft:
"Der Mai war nicht mehr fern, und eine Kolonne von Treckern brach in die geschäftige Routine der Hamburger Innenstadt. Aus den Fenstern ihrer Bürotürme blickten Sachbearbeiter, Sekretärinnen und Chefs auf grüne Traktoren mit großen Hinterreifen und geschmückten Anhängern; dieser Konvoi sah aus wie ein lieber Frühlingsgruß, so, als seien die Bauern in die Stadt gerollt, um den Asphaltmenschen zu sagen: Habt Geduld, bald wird alles grün..."
Und wozu die peinigende Idylle? "Es war ungefähr die 240.Demonstration dieses Jahres in Hamburg, und es war eine Bilderbuchdemonstration ... Sie wird so folgenlos bleiben wie die anderen 239 Hamburger Demonstrationen in diesem Jahr, so folgenlos wie die 353 Berliner Demonstrationen im ersten Quartal des Jahres, so folgenlos wie die tausenden Demonstrationen im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik, so folgenlos wie die meisten der hunderttausenden deutschen Demonstrationen des letzten Jahrhunderts."
Also Schluss jetzt, ruft Cordt Schnibben, die Allzweckwaffe des Spiegel, wenn es gilt, zeitgeschichtliche Ahnungslosigkeit in einen dem parolenpflanzenden Regierungsstil des Kanzlers Schröder angemessenen Ton in Brandstwieten-Prosa zu verwandeln. Das "Protestheater" hätte sich überholt, wenn es denn jemals einen Sinn hatte, und "wir sollten aufhören, auf der Straße herumzumarschieren". "Die Straße ist kein Massenmedium mehr, die Straße ist nur noch Straße. Lang. Still."
Wer etwas zu kritisieren habe, solle ins Fernsehen gehen, zu Harald Schmidt oder eine andere Talkshow oder sich für Geld ein paar Berufsdemonstranten von Greenpeace oder Robin Wood chartern.
Nachdem also die staatstragenden Kräfte des Landes ihre verordneten Großdemonstrationen gegen die Nazis absolviert haben, der Kanzler seinen "Aufstand der Anständigen" propagiert hat, sollen sich diese Steuergelder endlich lohnen.
Nach Beschlagnahme der Aktionsform durch das Establishment muss Kapitel 2 folgen: der Verzicht auf Protest. Warum sonst geht in Nordrhein-Westfalen eine komplette Hundertschaft der Polizei in die Schulen, um den kleinen Staatsbügern multi-medial beizubringen, wie anständig demonstriert und den "Gewaltbereiten" die kalte Schulter gezeigt wird?
Warum sonst organisiert die Berliner Polizei sogar ein Kinderfest (sic!) am Prenzelberg, um der 1.Mai- Randale zuvorzukommen? Das liberale Scheißerchen vom Deutschland-Magazin Spiegel säuselt dazu, dass doch heute ein jeder einsehen müsste, dass die Latschdemos nichts bringen.
Natürlich bringen sie nichts, aber ohne sie passiert auch nichts Bringendes. Im Gegensatz zur Ahnungslosigkeit des Herrn Schnibben ist in Deutschland und auch nicht anderswo, keine gesellschaftliche Veränderung ohne Straßendemonstrationen eingetreten — vom Wahlrecht, sozialen Mindeststandards bis hin zur Pressefreiheit, von der Herr Schnibben Gebrauch macht.
Dass jedes Mittel und jede Taktik von der Dialektik der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auch gefressen und zur Wirkungslosigkeit integriert werden kann, ist Dauerthema auf allen Aktionsberatungen und Demonstrationsbündnissen. Das passende Wort dazu hat Cordt Schnibben am Ende seiner Selbstbefriedigung immerhin noch drangehängt.
Er zitiert die Zeitschrift März von vor hundert Jahren: "Die Straßendemonstration hat nur Sinn in zwei Fällen: einmal, wenn die Regierung so waschlappig ist, dass sie sich durch ein bloßes Augenschauspiel ins Bockshorn jagen lässt, und zweitens, wenn die Demonstranten rabiat genug sind, den eventuell sich entspinnenden Straßenkampf nicht zu scheuen."
Fall 1 wird ebenso eintreten wie Fall 2. Wir arbeiten daran.

Thies Gleiss

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