Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 07.06.2001, Seite 1

Göteborg

Für ein anderes Europa

Nej till EU" (Nein zur Europäischen Union) heißt es am 15.Juni im schwedischen Göteborg, "Für ein anderes Europa" einen Tag später. Der Regierungsgipfel zum Abschluss der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft wird wie auch in Amsterdam, Köln und Nizza mehrere 10000 Menschen auf die Straße treiben. Flüchtlingsorganisationen kritisieren die abgeschottete Festung Europa, Freihandelsgegner die Rolle der EU in der Weltwirtschaft und Erwerbslose das Sozialdumping in der EU. Trotz dieser heterogenen Zusammensetzung scheint sich das Lager der EU-Kritiker und -Gegner gerade in Skandinavien um zwei Pole zu gruppieren. Beide, sowohl die "Aussteiger" als auch die Freunde eines "anderen Europa" lehnen die EU in ihrer jetzigen Form ab, ziehen daraus aber unterschiedliche Schlussfolgerungen.
Der offizielle Regierungsgipfel konnte zumindest im Hinblick auf die vom schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson gesteckte Priorität der EU-Osterweiterung einige Missstimmigkeiten im Vorfeld ausräumen. Ende Mai musste der spanische EU-Botschafter Javier Conde seinen EU-Kollegen mitteilen, dass Spanien nicht mehr auf sein Veto gegenüber der von Deutschland und Österreich favorisierten Siebenjahresfrist für Arbeitskräfte aus den Beitrittsländern beharren werde. Entgegen seinem bisher hartnäckigen Insistieren gab sich auch Spaniens Ministerpräsident Aznar nun ganz friedfertig. Es sei auch sein Wunsch, dass "der Gipfel von Göteborg und der gesamte Prozess der Osterweiterung ein Erfolg" werde.
Die spanische Regierung hatte zuvor mit ihrem Veto versucht, eine Garantie für die Zahlungen aus dem EU-Strukturfonds durchzusetzen. Spanien erhält 43 Milliarden Euro aus dem insgesamt 80 Milliarden umfassenden Strukturfonds. Denn wenn die Berechnungsgrundlagen für die EU-Finanzen von 2006 an beibehalten werden, so die Befürchtung, drohe mit der Osterweiterung eine "statistische Falle".
Durch das Absinken des Durchschnittseinkommens fielen außer Andalusien und der Extremadura alle spanischen Regionen, die heute Strukturhilfen empfangen, aus der Förderung heraus. Unterstützung erhielt er dafür nicht nur aus Portugal und Griechenland, sondern zuletzt auch vom designierten italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Allerdings knüpften diese drei Länder ihre Forderungen nicht an die Übergangsregelungen für die Freizügigkeit des Personenverkehrs. Aznar hat als Gegenleistung zugesagt bekommen, dass in künftigen Finanzverhandlungen der Aufwertungseffekt berücksichtigt werde.
Für die Beitrittsländer in Osteuropa ist der Strukturfonds derart knapp bemessen, dass die Memorandum-Gruppe, ein Zusammenschluss kritischer Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland, "verheerende Auswirkungen" für den Beitritt der ersten mittel- und osteuropäischen Länder 2004 prognostiziert. Deshalb fordern sie, wie die Regierung in Madrid übrigens auch, die Erhöhung der Beitragszahlungen der einzelnen Mitgliedstaaten für das EU-Budget.
Zurzeit beträgt die Obergrenze 1,27%, die Memorandum-Gruppe spricht von mindestens 3,6% des Bruttoinlandsprodukts. Für die deutsche Bundesregierung ist das als größter Nettozahler bisher allerdings ein Tabuthema. Nun hat sich Kommissionspräsident Prodi mit dem Vorschlag einer "EU-Steuer" vorgewagt und dabei natürlich offen gelassen, um welche Art der Steuer es sich handeln solle. Aber anders als die marxistischen Wirtschaftswissenschaftler der britischen Zeitschrift Labour Focus on Eastern Europe hat Prodi eher eine Erhöhung der Mehrwertsteuer als die der Unternehmensteuer im Sinn.
Unabhängig davon hat der Vorschlag des Kommissionspräsidenten die konservativen und seit jeher europaskeptischen Landsleute der Wirtschaftswissenschaftler aufgerüttelt. Sie befürchten mit den Vorschlägen zur Steuerpolitik einen Eingriff in ihre nationalen Souveränitätsrechte und versuchen eine Woche vor den Unterhauswahlen in Großbritannien daraus Kapital zu schlagen.
Weitgehende Einigkeit demonstrierten demgegenüber die Innen- und Justizminister, die sich auf ihrem jüngsten Treffen auf eine Höchststrafe für den "Menschenschmuggel" einigten. Das Delikt — in der Ära des Kalten Kriegs noch als "Fluchthilfe" bezeichnet — soll heute mit mindestens acht Jahren Haftstrafe belegt werden.
Die von der schwedischen Regierung geforderte "humanitäre Klausel" wurde nur als Kannbestimmung beschlossen. Sie sieht vor, dass Fluchthelfer, die Menschen ohne Gewinnabsicht illegal in die EU bringen, nicht bestraft werden brauchen. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl kritisierte, dass es den jeweiligen EU-Staaten überlassen bleibe, ob sie die von der schwedischen Regierung vorgeschlagene Bestimmung anwenden.
Bilateral sollen auch die Ausnahmeregelungen für die Ausnahmen bei den Übergangsregelungen gestaltet werden. Vor allem Deutschland und Österreich sollen bei Engpässen ihrer nationalen Wirtschaft für bestimmte Berufsgruppen ihre Grenzen trotz Einschränkung der Freizügigkeit öffnen dürfen.
Die Demonstranten werfen ihnen vor, mit den Übergangsregelungen EU-Bürger "zweiter Klasse" zu schaffen. Denn das bedeutete eine zusätzliche Ausdifferenzierung der Klasse der Lohnabhängigen in Europa, die wie in Deutschland ohnehin schon von Migranten mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus bis hin zu völlig illegalisierter Beschäftigung reiche.
Für die großen Gewerkschaften ist das in Schweden — wie auch im Rest der EU — kein Thema. "Keine Gewerkschaftsführung ist bereit, gegen ihre eigene sozialdemokratische Regierung während der schwedischen EU- Ratspräsidentschaft zu protestieren", erklärt ein Redakteur der Wochenzeitung Internationalen. Lediglich die syndikalistische Gewerkschaft SAC mobilisiert ihre 9000 Mitglieder nach Göteborg — für ein "anderes Europa" und gegen den ersten Europabesuch von US-Präsident Bush am 14.Juni. Denn die weltweit angewandte neoliberale Logik stellt nicht nur in ihren Augen überall die sozialen Errungenschaften in Frage: in den USA, der Dritten Welt, Ost- und Westeuropa.
Während die Anhänger des eher traditionellen Bündnisses "Nej till EU" nach den Volksentscheiden Mitte der 90er Jahre in letzter Zeit weniger geworden sind, findet die Perspektive "Für ein anderes Europa" mehr und mehr Zuspruch. Denn ein purer Ausstieg, so lautet die Kritik, verharre in nationaler Perspektive und biete damit nationalchauvinistischen Kräften eine offene Flanke.
"Für ein anderes Europa" setzt demgegenüber auf die gemeinsame Gestaltung Europas — zusammen mit EU-kritischen Kräften in anderen Ländern. Dort ist bisweilen wieder die Rede von den "Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa"; eine Losung, die revolutionäre Marxistinnen und Marxisten schon vor Jahrzehnten favorisierten.

Gerhard Klas

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