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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.13 vom 21.06.2001, Seite 1

Demokratie in der EU

Von Göteborg nach Genua

Die Polizeiaggression gegen friedliche Demonstranten und Gegner der EU-Politik hat in Göteborg eine neue Qualität ereicht. Während das PDS-nahe Neue Deutschland sich der Sprachregelung einer Journaille unter, während auf den Straßen von Göteborg scharf geschossen wurde, haben am Ende ein Ziel erreicht: eine Arbeitsgruppe von Mitarbeitern der Außen- und Innenministerien soll das "Demonstrationskarussell" in den Griff bekommen. "Man wird davon ausgehen dürfen, dass das keine spontane Entscheidung war", kommentiert ein Augenzeuge in der jungen Welt. "Von dieser Seite gesehen erscheint die Eskalationsstrategie der schwedischen Polizei in einem besonders interessanten Licht."
Andere Beobachter vermuten die Geheimdienste am Werk. Wie dem auch sei: die Antiglobalisierungsbewegung und die Bewegung gegen die EU müssen sich darauf einstellen, dass von nun an jeder ihrer Proteste mit polizeilichen Provokationen konfrontiert sein wird.
Das ist eine neue Situation. Bislang hatten die Herrscher der Welt auf die gegen sie gerichteten Proteste entweder gar nicht (so in Amsterdam, Köln, Nizza) oder mit dem Eingeständnis eines Legitimationsdefizits reagiert — so in Seattle und Prag. Die Weltbank wie die EU-Kommission überschlugen sich in Beteuerungen, man suche den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Veranstaltungen wie der Konvent, der die Grundrechtecharta der EU ausgearbeitet hat, schienen und scheinen eine wohlfeile Möglichkeit, Demokratie zu simulieren, ohne irgendeine Forderung der Zivilgesellschaft wirklich in Rechnung stellen zu müssen. Der Öffentlichkeit Sand in die Augen streuen und weitermachen wie gehabt — das war bisher die Strategie.
Das irische Nein zum Vertrag von Nizza hat dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Noch in Göteborg stellte der irische Premier sich hin und bekannte, er wisse nicht, warum die so EU-freundlichen Iren die Gefolgschaft verweigert hätten. Eine solche Frage zu stellen, traut sich in diesen Etagen niemand ernsthaft. Stattdessen bekommen die Iren Nachhilfeunterricht in Sachen "europäische Demokratie" und sollen das Referendum noch einmal durchführen. Irgendwann wird das Ergebnis schon stimmen, wie in den 90er Jahren in Dänemark, als dort die Volksabstimmung über den Beitritt zur Wirtschafts- und Währungsunion wiederholt werden musste.
Die vom schwedischen Ministerpräsident Göran Persson ostentativ demonstrierte "Dialogbereitschaft" — als erster seiner europäischen Kollegen setzte er sich gleich mit drei Ministern in die voll besetzte Aula der Göteborger Universität, um medienwirksam zu zeigen, wie er sich den EU-Kritikern stellt — stand in scharfem Widerspruch zu den Polizeitruppen, die unter fadenscheinigen Gründen die Quartiere der Gipfelgegner "generalstabsmäßig" räumten.
Die Legitimationskrise der EU war noch nie so groß und so offensichtlich wie vor Göteborg. Die Antwort, die die EU in Göteborg darauf gegeben hat, bestätigt die schlimmsten Vermutungen über den Weg, den sie einzuschlagen gewillt ist: Undemokratische weil nicht legitimierte und fern vom Licht der Öffentlichkeit agierende Strukturen, gegen die sich eine neue Generation junger Menschen erhebt, werden jetzt mit dem Polizeiknüppel, wenn es sein muss auch mit Soldaten durchgesetzt.
Wie vor 150 Jahren müssen die Gegner von Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung für ihr Recht auf Protest wieder kämpfen. Ihr Recht auf Bewegungs- und Meinungsfreiheit ist nach dem Schengener Abkommen nicht mehr viel wert. An der italienisch-französischen Grenze wurden im vergangenen Dezember anlässlich des EU-Gipfels in Nizza Grenzkontrollen wieder eingeführt und Züge mit mehreren tausend Reisenden aufgehalten.
Als Begründung reichte ein Paragraf im Schengener Abkommen, der innereuropäische Grenzkontrollen bei "Gefährdung der öffentlichen Ordnung" vorsieht. Mit Blick auf den G8-Gipfel von Genua hat Bundesinnenminister Schily seine europäischen Kollegen dazu aufgerufen, sich auf ein "koordiniertes und hartes Vorgehen gegen diese neue Form grenzüberschreitender extremistischer Gewalt zu verständigen".
Nicht alle Organisationen der "Zivilgesellschaft", die zu den "Dialogtreffen" und "Konsultationsgesprächen" eingeladen sind, verstehen die Doppelzüngigkeit dieser Politik und wie sie die Spaltung befördert. Die informellen Gesprächsrunden erwecken den Eindruck demokratischer Beteiligung, die allerdings weder durch Wahlen noch eine sonstige Mandatierung legitimiert ist. Vielmehr nehmen an ihnen in der Regel handverlesene NGOs teil.
Die meisten davon singen ein Loblied auf die EU — als "humanitärer Gegenpol" zur Allmacht der USA. Kein Wunder, sind sie doch häufig von der EU auch finanziell abhängig. Sollten sie einmal aus der Reihe tanzen, wird ihnen kurzerhand der Geldhahn abgedreht — wie vor wenigen Monaten dem europäischen Dachverband der entwicklungspolitischen NGOs, wie vor zwei Jahren auch der ENU, dem europäischen Dachverband der Erwerbslosenorganisationen.
Der Notstand scheint zum Regelfall zu werden, wenn sich die Mächtigen dieser Welt treffen. Zum alljährlichen Europatreffen des einflussreichen World Economic Forum, das seit 1971 stattfindet, wird Salzburg am 30.Juni zu einer Festung. Die Konzernchefs und befreundeten Politiker, die sich in diesem Privatverein zusammengeschlossen haben, lassen die knapp 150.000 Einwohner zählende Stadt mit 6000 Polizisten besetzen und haben dort Demonstrationsverbote durchgesetzt.
Beim kommenden G8-Gipfel in Genua sind sogar Armeeeinheiten damit beauftragt, Demonstrationen zu blockieren. Damit wird — einzige Ausnahme Nordirland — seit dem Ende der portugiesischen, griechischen und spanischen Diktatur in den 70er Jahren in Westeuropa erstmals wieder Militär gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.

Gerhard Klas

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