Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.13 vom 21.06.2001, Seite 6

Gesundheitsreform

Wer mehr will, muss mehr zahlen

Nach der Wahl 2002 will Kanzler Schröder die kranken Kassen radikal kurieren. Der Bürger soll sich stärker an den Kosten beteiligen — wie bei der Rente.

Ulla Schmidt ist richtig nett. Ob Ärzte, Patienten oder Kassenmanager — für jeden hat die Gesundheitsministerin ein aufmunterndes Wort. Mit pädagogischer Freundlichkeit wirbt die gelernte Sonderschullehrerin für eine "Gesundheitspolitik des Vertrauens" oder lädt zum "Miteinander" ein. "Wir müssen den Menschen Sicherheit geben", näselt die Aachenerin. Eine rheinische Frohnatur als wandelnde Beruhigungspille.
Genau das ist die Aufgabe, die Chefarzt Dr.Gerhard Schröder Schwester Ulla zugedacht hat. Nachdem ihre grüne Vorgängerin Andrea Fischer ständig Zoff in Apotheken, Kliniken und Wartezimmern provozierte, soll die 51-jährige SPD- Frau vor allem zweierlei schaffen: für gute Laune sorgen und Steigerungen der Kassenbeiträge verhindern.
Ihre erste Entscheidung begeistert zumindest die Mediziner: Die gemeinsame Haftung für zu hohe Arzneimittelausgaben wird gekippt. Das zweite Projekt ist die Reform des Krankenkassen-Finanzausgleichs: Die großen Versicherungen mit vielen Schwerkranken sollen mehr Geld von den kleinen, billigeren Betriebskrankenkassen bekommen. Darüber hinaus soll die neue Ministerin, so SPD-Fraktionschef Peter Struck, bis zur Wahl 2002 bloß "keine umstürzlerischen Gesundheitsreformversuche" unternehmen.
Doch der Reformstopp gilt nur bis zu dem Tag, an dem Schröder wiedergewählt ist. Für die Zeit danach plant der Kanzler schon heute eine Art Umsturz im Gesundheitswesen — zumindest für SPD-Verhältnisse. Das geheiligte Prinzip der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird nicht nur bei der Rente aufgegeben, sondern auch in der Krankenversicherung. Künftig müssen die Deutschen für ihre Gesundheit "mehr Eigenverantwortung" übernehmen.
Im Klartext: Die Versicherten werden stärker zur Kasse gebeten. Und Ulla Schmidt, die bis vor kurzem von Gesundheitspolitik auch nicht mehr Ahnung hatte als Ottilie Normalpatientin, soll die Vorarbeit für diesen radikalen Umbau leisten — heimlich, still und leise. Der Wirtschaftsweise Bert Rürup, wichtigster sozialpolitischer Berater der Regierung, geht davon aus, "dass im Laufe der nächsten 18 Monate die überfällige große Gesundheitsreform konzipiert wird, die dann — aufgrund der unvermeidlichen Grausamkeiten — unverzüglich in den Jahren 2002—2004 umgesetzt werden sollte".
Das Problem, das es zu lösen gilt, ist in Berlin längst bekannt. "Wir müssen uns eingestehen, dass uns das Gesundheitswesen permanent Jahr für Jahr mehr kosten wird", beschreibt der parteilose Wirtschaftsminister Werner Müller die Ausgangslage. Da die Deutschen immer länger leben und die Medizin immer besser wird, sind in den nächsten Jahrzehnten Steigerungen des Beitragssatzes von heute 13,5 auf 21—26% programmiert. Damit ist der Reformbedarf sogar größer als in der Rentenversicherung — dort drohte nur ein Anstieg von 20 auf 24%.
Gesundheitsreformerin Schmidt hat nicht viele Alternativen: Die Beiträge einfach steigen lassen? Geht kaum, die rot-grüne Koalition hat sich "die Senkung der Lohnnebenkosten" auf die Fahnen geschrieben, um Arbeitsplätze zu schaffen. Den Kassen strenge Budgets verordnen? Auch schlecht, weil das über kurz oder lang dazu führt, dass notwendige Leistungen verweigert werden. Geld aus dem Steuersäckel zu den kranken Kassen umleiten? Da ist Finanzminister Hans Eichel vor — langfristig sind höchstens drei, vier Milliarden Mark fürs Mutterschafts- oder Sterbegeld drin.
Noch vertrackter wird die Lage, weil der Gesundheitssektor, wie Schröders Staatsminister Hans- Martin Bury entdeckt hat, "einer der innovativsten und zukunftsträchtigsten Bereiche unserer Wirtschaft ist". Schon heute arbeiten dort rund drei Millionen Menschen — Tendenz steigend. Ein Kanzler, der sich am Zuwachs von Jobs messen lassen will, darf die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen nicht abwürgen.
Intern haben sich SPD-Führung und Regierungsspitze daher längst auf einen Ausweg festgelegt: Zwar soll es bei einer obligatorischen Grundversorgung für alle Mitglieder der gesetzlichen Kassen bleiben, für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu gleichen Teilen Beiträge abführen. Doch wer stärker abgesichert sein will, muss privat vorsorgen — oder die Kosten bei einer eventuellen Behandlung selbst tragen. "Soll die gesetzliche Krankenversicherung das medizinisch Notwendige oder das Machbare garantieren?", fragt der rheinland- pfälzische Gesundheitsminister Florian Gerster (SPD). Und antwortet: "Leistungen, die der Versicherte als Ergänzung der Kernversorgung in Anspruch nimmt und deren Nutzen er als Verbraucher einschätzen kann, sollen künftig dem Markt überlassen bleiben."
Was das konkret bedeutet, haben Experten bereits ausgearbeitet. Die Allgemeinheit soll nicht mehr für jedes Wehwehchen aufkommen. "Der solidarische, durch Zwangsabgaben finanzierte Gesundheitsschutz sollte sich auf Krankheiten konzentrieren, die zu gravierenden Schäden und deren erfolgreiche Behandlung zu spürbaren Einkommensverlusten des Einzelnen führen würde", so der Wirtschaftsweise Rürup. Pläne dafür liegen längst in den Schubladen des Gesundheitsministeriums:
Der Leistungskatalog der Krankenversicherung wird abgespeckt. Die Grünen haben bereits einen Parteiratsbeschluss gefasst, dass auf "Überflüssiges, Fragwürdiges und Wünschenswertes zugunsten des medizinisch Notwendigen" verzichtet werden soll. So könnten Zahnersatz, Psychotherapie oder Massagen weitgehend gestrichen oder an strenge Leitlinien gebunden werden. Schon in Arbeit ist die Positivliste: Künftig dürfen nur noch Medikamente verordnet werden, die darauf stehen.
Die Krankenkassen sollen nicht länger für Unfälle bei Risikosportarten zahlen. Ob Drachenfliegen, Fallschirmspringen, Bergsteigen oder Inlineskating — für Ulla Schmidt steht fest: "Wer das macht, muss sich nebenbei versichern." Wirtschaftsminister Müller hat sogar schon einen konkreten Vorschlag: Snowboards oder Skier könnten gleich mit einer "Unfallversicherungsplakette" verkauft werden. Kostenpunkt: zehn Mark.
Wer zum Arzt geht, muss womöglich Eintritt zahlen. Rürup schlägt eine "Praxisgebühr von zum Beispiel 20 Mark" vor, die beim ersten Besuch mit einer neuen Krankheit fällig würde — außer für Kinder und Unfallopfer. Das Geld bekäme die Krankenkasse. So würde das Bewusstsein für die Kosten geschärft, die ein Arztbesuch auslöst, und zugleich die kassenfreundliche "Selbstmedikation" gefördert.
Wie die Eigenverantwortung genau organisiert wird, ist noch nicht entschieden. Neben mehr Selbstzahlungen sind auch private Zusatzversicherungen oder Wahltarife bei den gesetzlichen Krankenkassen möglich, die die Arbeitnehmer allein finanzieren müssten. Kommt es so, wäre das nach dem Tabubruch bei der Rente die endgültige Abkehr von der Sozialversicherung Bismarckscher Prägung — und der Satz aus dem Koalitionsvertrag, zu einer gerechten Gesundheitspolitik "gehört eine paritätisch finanzierte Krankenversicherung", wäre endgültig Makulatur.
Paradox: Ausgerechnet die Sozialdemokraten, deren Erfolg der Eiserne Kanzler einst mit der Einführung der Sozialgesetzgebung eindämmen wollte, räumen zwölf Jahrzehnte später mit dem ehernen Prinzip auf, wonach Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils die gleichen Summen in die Kassen einzahlen. Was in der Parteispitze als "harter Sprung für die SPD" verklausuliert wird, nennt der parteilose Werner Müller beim Namen: "Das wird eine Revolution. Aber wir müssen ja irgendwann mal damit anfangen."
Aus heiterem Himmel kommt das nicht. Wer SPD-Chef Schröder genau zuhörte, konnte voriges Jahr entsprechende Signale entdecken. Die Möglichkeiten der modernen Medizin seien so komplex geworden, schrieb er etwa in einem Aufsatz über die "zivile Bürgergesellschaft", "dass ein Gesundheitswesen ohne finanzielle, geistige und in diesem Fall buchstäblich körperliche Selbstbeteiligung der Versicherten nicht mehr vorstellbar ist".
Unpopulär sind höhere Zuzahlungen trotzdem: Gerade zehn% der Versicherten halten sie für akzeptabel, um das Gesundheitswesen zu sanieren. Keiner weiß das so genau wie Schröder: 1998 war die Kritik an der Erhöhung der Selbstbeteiligung durch die Regierung Kohl ein Wahlkampfschlager. Groß ist die Versuchung auch 2002, mehr zu versprechen, als zu halten ist. Andererseits wollen die Sozialdemokraten nicht noch einmal den gleichen Fehler machen wie in der Rentenpolitik, in der sie ihre Zusagen peu à peu kassieren mussten. Fraktionschef Struck mahnt bereits, die Partei "darf keine weiße Salbe ins Wahlprogramm schreiben". Ulla Schmidt muss nun das Kunststück schaffen, die Wahrheit zu sagen, ohne alles zu verraten. Für sie steht fest: "Wir werden klare Aussagen erarbeiten. Das wird dann umgesetzt."
Eine schwierige Operation wird es allerdings — und das am offenen linken Herzen der Partei und ihrer Anhängerschaft. Schon jetzt, so ermittelte das Haus-Institut "polis" in einer internen Studie für die SPD, trauen nur 28% der Bürger eher den Sozialdemokraten als der Union zu, für ein funktionierendes und bezahlbares Gesundheitswesen zu sorgen — einen schlechteren Wert bekommen die Sozis nur bei der Verbrechensbekämpfung.
Und schließlich müssen — neben den garantiert randalierenden Gewerkschaften — auch noch die Genossen Gesundheitsexperten in der Fraktion überzeugt werden. Die sind fast alle Sozialpolitiker alten Schlags und aus Prinzip dagegen, den Patienten mehr Eigenverantwortung aufzubürden. Ihr Sprecher Klaus Kirschner poltert schon mal vorbeugend: "Die Debatte um eine Spaltung der Krankenversorgung in Grund- und Wahlleistung zerstört die Akzeptanz jedes Solidarsystems."
Mit starkem, hinhaltendem Widerstand ist also zu rechnen. "Aber", so beruhigt sich ein Kanzleramtsmann, "die Rentenreform haben ja auch nicht die Rentenexperten vorangetrieben."

Andreas Hoidn-Borchers/Wieslaw Smetek

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