Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.13 vom 21.06.2001, Seite 11

Göteborg

Vorbeugende Gewalt

Was in Schweden passiert ist, war kein Unfall. Dahinter stand ein vorgefasster Plan. Es riecht nach Geheimdienst." Der Führer der Tute Bianche und Sprecher der Centri sociali im italienischen Nordosten, Luca Casarini, erklärt dem Corriere della Sera (18.6.), welche Auswirkungen Göteborg auf Genua haben wird. "Was sollte das Ziel sein?", fragt der Corriere zurück. "Die Temperatur zum Kochen zu bringen, Alarmstimmung verbreiten, uns in die Ecke von Terroristen und Gewalttätern zu stellen. So ist es aber nicht. Der Kampf gegen die neoliberale Globalisierung ist gerecht und er wird von vielen Menschen geteilt."
Der Hergang, wie er sich aus vielen schwedischen und Augenzeugenberichten rekonstruieren lässt, legt eine solche Interpretation nahe. Die norwegische Zeitung Klassekampen (18.6.) schreibt: "Dieses Wochenende hat Schweden eine Brutalität seitens der Polizei erlebt, die in der Geschichte Schwedens ohnegleichen ist, betont die schwedische Linkspartei (Vänsterpartiet). Sie beschuldigt die Polizei, das schwedische Grundgesetz gebrochen zu haben.
Am Donnerstag vormittag versammelten sich tausende von Demonstrierenden, vornehmlich aus Schweden, zu einer Demonstration gegen die Ankunft von George Bush; an ihr nahmen 15000 Leute, teil. Das Bündnis Gothenburg 2001 hatte von der Stadt Schulgebäude für Übernachtungen und Veranstaltungen zur Verfügung gestellt bekommen.
In der Hvitfeltska-Schule in der Nähe des Konferenzzentrums Fritt Forum hatten gewaltfreie Gruppen ihr Hauptquartier aufgeschlagen, darunter auch der schwedische Ableger von Ya Basta und "Direkte Demokratie". Ohne ersichtlichen Grund stürmte an diesem Vormittag die Polizei die Schule und hielt mehrere hundert Menschen eingeschlossen; das Gelände um die Schule riegelte sie generalstabsmäßig ab, später holte sie dafür sogar Transportcontaoner heran. 400 der Eingeschlossenen wurden kollektiv festgenommen; die Polizei behauptete, sie gehörten zu einer Gruppe, von der Gewaltverstöße ausgehen könnten.
Die Polizei ging mit großer Härte gegen die eingeschlossenen zu Werke, sie schlug brutal mit Knüppeln auf sie ein. Bei den Veranstaltern stieß das Vorgehen auf massiven Protest; die Stimmung eskalierte.
Am Freitag vormittag versuchten 1500 bis 2000 Menschen, das Tagungszentrum zu blockieren; wieder ging die Polizei mit Pferden und Hunden gegen sie vor. Nun gingen die ersten Scheiben zu Bruch, Banken und Cafés wurden angegriffen. Am Freitag abend versammelten sich 20000 meist sehr junge Menschen zu einer Demonstration gegen die EU, gegen die europäische Armee, die Festung Europa, den Euro. Zu den Aufrufern gehörten vornehmlich die Parteien der Nein-zur-EU-Koalition, darunter auch bürgerliche Parteien.
Die Demonstrierenden aber waren vornehmlich junge Sozialistinnen und Sozialisten aller Schattierungen. Parallel feierten Hippies auf dem Vasaplatsen eine Reclaim-the-Streets-Party. Hier war es, wo erstmals auf Globalisierungsgegner scharf geschossen wurde. Drei junge Männer wurden schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert; einer schwebte bei Redaktionsschluss der SoZ immer noch in Lebensgefahr.
Der Corriere della Sera hatte sich seinem 20-jährigen Freund an die Fersen gehängt, der ihn ins Krankenhaus begleitete und ihm nicht von der Seite wich. Der Freund beschreibt den Hergang so: "Es war eine friedliche Demonstration auf Vasaplatsen, wir amüsierten uns. Es gab Musik, mein Freund tanzte. Auf einmal kamen viele Nazis auf den Platz, an die 300. Die Nazis haben uns angegriffen, auch ich wurde geschlagen. Sie hatten Messer und Steine dabei. Wir bekamen Angst, sie könnten uns umbringen. Die Militanten haben reagiert. Es war superstressig. Die Polizei hat die Nazis abgedrängt. Dann kriegte sie Panik und hat auf die Militanten eingeschlagen."
Der Reporter hält ihm die Polizeiversion vor, die lautet: Der Freund hat einen Stein auf den Helm eines Polizisten geworfen, der Helm flog weg. Ein anderer kam hinzu und hat den Polizisten, der zu Boden gefallen war, getreten, der Freund hat weiter Steine auf ihn geworfen. Das war die Situation, in der ein zweiter Polizist sich in Gefahr fühlte und geschossen hat.
"Nein, nein, nein", verteidigt sich der Junge. "Mein Freund hat nur zwei Steine geworfen. Einer war zu groß, er fiel schon ganz nah von ihm. Der zweite traf den Polizisten, weil er klein war, aber er traf den Plexiglasschild. Ich glaube, es war ein Deutscher, so scheint es mir, der dann weiter mit Steinen auf den Polizisten zielte. Mein Freund hat ihn nicht geschlagen." Aber er hatte eine Holzlatte in der Hand... "Alle waren nervös geworden durch den Angriff der Nazis. Die Latte hatte er eben aufgehoben. Das war das erstemal, dass ich ihn agressiv erlebt habe..."
In der Nacht tobten Straßenschlachten. Auch die Polizei warf mit Steinen. Es konnte jedoch verhindert werden, dass die Polizei auch das Konferenzzentrum, das Fritt Forum stürmte, wie es ihre Absicht gewesen sein soll.
Am Samstagvormittag versammelten sich noch mehr Menschen, die Rede ist von 25000, zur Demonstration "für ein anderes Europa". Die Zusammensetzung war fast die gleiche wie am Vortag, die Stimmung entschlossen. Hier wie am Vortag dominierten die Parolen, die die internationale Solidarität betonten.
Nach dem Ende der Demonstration jagte die Polizei wieder Demonstranten; mehrere hundert von ihnen hatten sich auf Järntorget versammelt, um gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. Sie wurden ohne Vorwarnung eingekesselt, ohne dass ihnen mitgeteilt wurde, wessen sie beschuldigt wurden, und vier Stunden festgehalten.
Die Polizei hatte sie zu keinem Zeitpunkt aufgefordert, die Demonstration aufzulösen. Die Demonstrierenden hatten keinerlei Gewalt angewendet.
Die Sache wird im schwedischen Reichstag wie auch im norwegischen Storting ein Nachspiel haben; die Linkspartei beschuldigt die Polizei, das Grundgesetz gebrochen zu haben.

Angela Klein

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