Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2001, Seite 1

Trotz Repression und Einschüchterung

300.000 in Genua

Was in Genua passiert ist, fordert den europaweiten Protest gegen die Infragestellung des Demonstrationsrechts und den systematischen Verstoß gegen die verbrieften Menschenrechte heraus. Die Bewegung in den einzelnen Ländern kann nicht dabei stehen bleiben, die Solidarität mit den "eigenen" Verhafteten und Angeklagten zu organisieren und Strafanzeigen gegen die italienische Regierung zu stellen.
Genua war ein Wendepunkt, hier wurde jedes Recht auf Demonstration einer abweichenden Meinung buchstäblich mit Füßen getreten und der Versuch unternommen, die Bewegung militärisch niederzuschlagen und in ihr Angst und Schrecken zu verbreiten. Gegen diese Eskalation der Gewalt, für die ausschließlich die Regierung und die Ordnungskräfte verantwortlich sind, muss ein europaweiter Protest entfacht werden. Die Bekämpfung einer Militarisierung der Auseinandersetzung, die Durchsetzung des Rücktritts von Innenminister Scajola, von Ministerpräsident Berlusconi und seinem Stellvertreter Fini — das sind Forderungen des Genoa Social Forum (GSF) — sind keine italienische Angelegenheit.
In Genua hat auf der Seite der Regierung mindestens der koordinierte europäische Geheimdienst gekämpft. Es ist nur recht und billig, dass die europäische Bewegung an der Seite des GSF kämpft, damit diese Regierung wieder abtritt und die EU nicht zu einem Polizeistaat wird.
Was in Genua passiert ist, reiht sich nicht einfach ein in die Erfahrungen, die mit der Polizei in Prag, Québec, Göteborg und Barcelona gemacht wurden. Obgleich hier viele Elemente einzeln vorweggenommen wurden, die man dann geballt in Genua wiedergefunden hat: die "Schandmauer" um die Rote Zone wurde erstmals in Québec errichtet, in Göteborg wurde zum erstenmal scharf geschossen und in Barcelona hat die Polizei erstmals massiv Provokateure eingesetzt. Aber in Genua wurde eine neue Qualität erreicht, ein Damm ist gebrochen, der Damm des bürgerlichen Rechtsstaats.
• Erstens war die Strategie der Polizei nicht darauf ausgerichtet, die Demonstration in den von ihr vorher festgelegten Grenzen (keine Gewalttaten) zuzulassen. Sie war darauf angelegt, die Demonstration insgesamt anzugreifen und aufzureiben, also unmöglich zu machen. Die zahlreichen Misshandlungen nicht nur friedfertiger, auch völlig unbeteiligter Personen demonstriert dies, vor allem aber gibt es einen schreienden Widerspruch zwischen den Beteuerungen, es sei darum gegangen, den Schwarzen Block auszuschalten und dem Polizeiverhalten, das eben diesen Block weitgehend hat gewähren lassen.
Schon am Donnerstag hatte das Polizeipräsidium Hinweise aus der Bevölkerung erhalten, dass eine Schule in der Nähe des Bahnhofs Quarto vom Schwarzen Block besetzt worden war, von der aus auch Zerstörungen in der näheren Umgebung ausgingen; die Polizei hat darauf nicht reagiert, ebensowenig wie sie auf den Hinweis des GSF reagiert hat, dass aus der Emilia Romagna 200—300 Faschisten im Anmarsch waren, die sich der Gruppe Forze Nuove zurechneten.
• Des Weiteren gab es keine von der Einsatzleitung koordinierte Polizeiaktion (zu diesem Ergebnis kommt die polizeiinterne Untersuchung des Innenministeriums; das gilt für die Straßenaktionen wie für den Überfall auf die Scuola Diaz); ebensowenig gab es während den Straßenaktionen Absprachen zwischen der Polizei und den Demonstranten. Vielmehr haben sich die Einheiten (und es waren alle Einheiten vor Ort anwesend, auch solche, die da nichts zu suchen hatten) verselbstständigt. Die Männer, die in den Wochen zuvor heiß gemacht worden waren, "Terroristen" zu schlagen, durften sich austoben.
• Der auf der Straße, in der Schule und in den Kasernen entfesselte Sadismus schließlich verweist auf einen starken faschistischen Bodensatz in den italienischen Ordnungskräften. Der hat eine lange Tradition und eine lange Geschichte auch direkter Beziehungen zu faschistischen Parteien und Organisationen. Die Präsenz einer neofaschistischen Partei an der Regierung seit den Wahlen vom 13.Mai hat diesen Kräften kräftigen Auftrieb gegeben. Der Vorsitzende der Linksdemokraten (DS), Massimo D‘Alema, hat die Bande zwischen der neofaschistischen Alleanza Nazionale und Sondereinheiten der Polizei hervorgehoben und dem Vorsitzenden der AN, Fini, vorgeworfen, er habe Genua dazu benutzt, den Einfluss seiner Partei auf die Ordnungskräfte gezielt auszubauen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass es Fini und nicht Innenminister Scajola war, der während der Tage von Genua vor Ort war und mit den Verantwortlichen Kontakt hatte — also die politische Führung übernommen hat.
• In der Nachbereitung der Ereignisse ist es wiederum Fini, der sich zum militanten Betreiber der Kriminalisierung der Bewegung hochschwingt: Alle Verfahren dienen ihm nur dazu nachzuweisen, dass es die Demonstranten gewesen sind, die die Polizei angegriffen haben, dass das GSF ebenso wie Parlamentarier der Opposition den Schwarzen Block decken, und dass die Tute bianche eine kriminelle Vereinigung sind.
Die Ereignisse in Genua werfen ein Licht darauf, was es bedeutet, wenn eine neofaschistische Partei mit in der Regierung sitzt. Während der Aufstieg Haiders in Österreich massive Proteste hervorgerufen hat, noch bevor diese Regierung zeigen konnte, wes Geistes Kind sie ist, schweigt die EU beharrlich zur Präsenz von AN und Lega Nord in der italienischen Regierung — und das auch noch nach Genua, nachdem deutlich geworden ist, dass die Ordnungskräfte in diesen Tagen die italienische Verfassung, sämtliche Menschenrechtskonventionen und selbst die Grundrechtecharta massiv verletzt hat, die sie gerade in Nizza mit verabschiedet hatte.
Wenn Genua also (noch) nicht als der Standard der Polizeigewalt in Europa gelten kann, so tragen die Ereignisse doch auch die Handschrift einer europäischen bis internationalen Polizeiintervention, z.B. die Tatsache, dass das Mobile Einsatzkommando aus Rom eine Woche lang auf Training in den USA gewesen ist. Ebenso die Vielsprachigkeit der als Tute nere (Schwarzer Block) verkleideten Provokateure, die in der Einsatzzentrale der Polizei ein- und ausgingen (deutsch, englisch, spanisch). Und das berührt noch nicht offizielle Innenministervorstöße wie die sog. Hooligan-Kartei oder die europäische Anti-Terror-Gruppe.
Die Bewegung wird sich davon nicht aufgehalten lassen. Im Gegenteil: nach Genua ist sie nochmals breiter geworden, ihre Entschlossenheit ist ungebrochen und sie schließt sich fester zusammen. Aber von nun an müssen wir damit rechnen, auf jeder dieser Gipfeldemonstrationen mit militärischer Gewalt konfrontiert zu werden. Und darauf muss sie dringend eine Antwort finden.

Angela Klein

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