Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2001, Seite 5

Mord, nicht Notwehr

Notwehr sei es gewesen, sagt die Polizei, und die überall veröffentlichten Fotos und Augenzeugenberichte scheinen dem eine gewisse Glaubwürdigkeit zu geben. Die Fotos zeigen einen Jeep der Carabinieri, gegen eine Häuserwand gelehnt, drei Demonstranten, die ihn bedrängen, Carlo mit erhobenem Feuerlöscher von hinten, eine ausgestreckte Hand aus dem Jeep herausragend, die eine Pistole hält und zielt. Die Fotos sind eine Momentaufnahme in der Endphase des Geschehens, sie zeigen den Tathergang nicht.
Der Corriere della Sera hat Ende Juli den Bericht eines Freundes von Carlo Giuliani veröffentlicht, in dem dieser selbstanklagend sagt: "Ich war dabei, als Carletto durch einen Pistolenschuss ins Gesicht ermordet wurde. An dem Freitag war ich in der Gruppe der Demonstranten, die den Jeep der Polizei angegriffen haben. Auch ich habe mich beteiligt, Steine und andere Gegenstände gegen den Jeep zu werfen. Dann habe ich die gestreckte Waffe gesehen, hab‘ den Carabiniere gehört, wie er schrie: ,Bastarde, ich bring euch alle um, bring euch alle um." Dennoch glaubt er nicht an die These der Notwehr. "Mehr als voller Angst war er außer sich."
"Die Situation war aufs Äußerste gespannt. Nach den wiederholten Tränengasangriffen der Polizei hat sich ein kollektiver Zorn entladen. Da schien es uns gar nicht wahr zu sein, dass wir einen Jeep erobert hätten."
Der "entfesselnde Moment" sei der Steinhagel von der Eisenbahnbrücke durch Gruppen des Schwarzen Blocks gewesen. Die darunter stehenden Demonstranten aus dem Block der Tute bianche schreien: "Aufhören, aufhören." Tränengas wird verschossen, Chaos bricht aus, die Demonstration teilt sich in zwei; die Spannung steigt, das Barometer steht auf Straßenschlacht. "Aber niemand von uns hat versucht, den Carabiniere aus dem Wagen zu zerren, wie dieser behauptet hat, es gab keinen Körperkontakt."
Der Freund beschreibt, wie andere Ordnungskräfte in der Nähe standen, die zu dem Zeitpunkt nicht eingegriffen hätten. Er sieht den Carabiniere auf einen Nebenstehenden, nicht Carlo, zielen und ruft: "Wegrennen, der schießt." Dann sieht er den Feuerlöscher am Boden, sieht wie Carlo, den er zu dem Zeitpunkt nicht erkennt, ihn aufhebt, hört zwei Schüsse, dann einen dritten.
Der Augenzeugenbericht bringt neue Elemente (die in der Nähe stehenden Uniformierten und dass der Carabiniere zunächst auf jemand anderen zielt), scheint aber die Version von der Notwehr zu bekräftigen, auch wenn der Freund das Motiv bestreitet. Eine Fotoserie aus England, bestehend aus 14 Fotogrammen, legt jedoch einen anderen Hergang nahe. Auch sie zeigt, dass der Jeep keineswegs allein dastand, sondern eine Gruppe Soldaten sich in der Nähe aufhielt, die den Vorgang beobachteten, ohne einzugreifen. Sodann ist der Feuerlöscher, den Carlo Giuliani zum Zeitpunkt seiner Ermordung in der Hand hielt, zuerst aus dem Inneren der Wanne nach draußen geschleudert worden. Der Carabiniere, der Carlo erschießen wird, richtet seine Pistole auf einen Jungen, während Carlo auf den Feuerlöscher am Boden schaut. Der Junge flieht, nachdem er die Pistole gesehen hat — hat Carlo sie gesehen? Carlo hebt den Feuerlöscher auf. Er nähert sich dem Jeep, hält den Feuerlöscher hoch. Der Rest ist bekannt: Der Carabiniere feuert zwei Schüsse auf ihn ab, Carlo fällt, der Jeep setzt zurück, überfährt ihn, legt den ersten Gang ein und überfährt ihn nochmal.
Die Polizei hat zunächst versucht, den Mord zu vertuschen, und sprach davon, ein Stein sei ihm an den Kopf geflogen. Ein Fotograf der Agentur Reuters entlarvte die Lüge noch am selben Abend. Seitdem spricht die Polizei — und natürlich auch die Regierung — von Notwehr.
Aber legt das Fotogramm nicht nahe, dass es Carlo gewesen sein könnte, der aus Notwehr gehandelt hat? Aus dem Jeep wird ein Feuerlöscher auf die Demonstranten geworfen, der Carabiniere zieht die Pistole und zielt auf den Jungen neben ihm, Carlo hebt den Feuerlöscher auf, um den Schuss zu verhindern — und wird erschossen.

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