Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2001, Seite 10

Nicht mehr in Tute bianche

Interview mit Luca Casarini

Luca Casarini ist Sprecher der Tute bianche und der sozialen Zentren im Nordosten Italiens. Die Tute bianche waren Teil des Bündnisses Genoa Social Forum (GSF). Das nachstehende Interview entnehmen wir der italienischen Tageszeitung Il Manifesto vom 3.8.2001.
"Wenn eine Polizeiwanne auf dich zurast, läufst du weg oder du reagierst; ebenso wenn jemand mit einer Waffe auf dich zielt. Wir haben in Genua, in der Via Tolemaide, Barrikaden gebaut, um unsere Unversehrtheit zu verteidigen. Wir zusammen mit vielen anderen. Wir stehen zu diesem Widerstand als einem legitimen Schutz. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen dem, der eine Barrikade baut, um sich zu verteidigen, und dem, der eine breite, verschiedenartige Bewegung wie die gegen die wirtschaftliche Globalisierung militärisch zu brechen sucht."

Es scheint, dass in Genua auch die Tute bianche untergegangen sind.
Luca Casarini: Untergegangen? Ein starkes Wort. Erschöpfung vielleicht, sicher ist eine Phase zu Ende gegangen. Die Tute bianche waren ein Experiment, das das Verdienst hatte, der Idee des Konflikts neue Legitimität zu verleihen. Denk mal an das GSF. Da gibt es Katholiken und uns, Umweltschützer und die Cobas, das Netz Lilliput und die Kampagne für den Schuldenerlass und die Metallarbeitergewerkschaft FIOM. Das ist eine starke Mischung. Wir haben uns wie ein Triebwerk bewegt, das nicht nach Hegemonie strebte, höchstens anzustrebende Prioritäten angegeben hat. Als Tute bianche haben wir ein ordentliches Stück Weg hinter uns gebracht, wir haben uns bewegt und uns auseinandergesetzt mit dem, was wir taten. Es war eine positive Erfahrung, aber jetzt scheint sie mir nicht mehr angemessen, um der imperialen Logik, mit der wir konfrontiert sind, entgegenzutreten — wo die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist und nicht umgekehrt, wie Clausewitz einmal geschrieben hat. Denk an den Balkan, an Palästina, an Afrika.

Im Herbst sehen viele eine schwierige soziale Konfrontation voraus. Für die Metallarbeiter, wo die Gewerkschaften CISL und UIL einen demütigenden Tarifvertrag unterzeichnet haben und die Fiom einen Generalstreik ausrufen will. Für die Schulen, die in gewinnorientierte Betriebe verwandelt werden, für die Krankenhäuser, die Gesundheit als Ware verkaufen.
Luca Casarini: Es sind diese Faktoren, die mich dazu bewegen zu sagen, dass die Phase des zivilen Ungehorsams zu Ende gegangen ist. Jetzt müssen wir zum sozialen Ungehorsam übergehen. Wir sollten einen Krisenzustand für alle Komponenten des Gsf ausrufen. Das muss nicht Lähmung bedeuten, vielmehr die Feststellung, dass unsere Analysen, Perspektiven, politische Agenda beschränkt war. Dass sich in jeder Stadt Social Forums bilden, ist positiv, dass Bündnisse geschlossen werden, ist unerlässlich. Auch wenn ich lieber nicht an Bündnisse, sondern an einen sozialen Prozess denke, in dem die Bewegung ein Attraktionspol für soziale Exponenten und Strukturen werden, die ihm noch fernstehen.
Ich denke an das, was in Genua mit den Anwälten und Sanitätern passiert ist. Demokratische Anwälte, sicher, die dem Gsf aber fernstanden und dennoch untereinander diskutieren, sich T-Shirts mit der Aufschrift "Vereinigung demokratischer Juristen" überzuziehen und zur Demo zu gehen. Die mit anderen Genueser Anwälten streiten und nach den Knüppeleien zu Hunderten anwachsen und veranlassen, dass die Strafrechtskammer eine harte Abrechnung mit dem Vorgehen der Regierung verfasst. Oder schau dir die Erfahrungen der Krankenschwestern und Ärzte an, die den Geschlagenen beigestanden sind und ihrerseits von den Ordnungskräften geschlagen wurden. Das sind zwei Beispiele für neue Netze, die sich bilden, weil sie von den Themen der Bewegung angezogen werden.
Das bedeutet nicht, dass alles glatt läuft, im Gegenteil. Wir stehen vor einer schwierigen, ernsten Situation, die neu analysiert und begriffen werden muss. Wir sind nicht im Faschismus, aber wir erleben eine Änderung der Staatsform, die sich anpasst an eine tiefgreifende Änderung der Art und Weise, wie Reichtum und gesellschaftliche Subjekte hervorgebracht werden. Und all dies muss im globalen Rahmen gesehen werden. Denk nur an die Antwort der Straße in Genua: das sah aus wie ein Aufstand, nicht wie eine Demonstration. Das muss analysiert und begriffen werden. Ich rede natürlich nicht vom Schwarzen Block, sondern von denen, die Widerstand geleistet haben.
Die sog. Tute nere (schwarzen Overalls) sind aber ein Phänomen, das nicht kriminalisiert werden darf. Es sind Menschen, die glauben, um den Kapitalismus zu schlagen reicht es, eine Schaufensterscheibe einzuschlagen. Ihre Losung "Smash capitalism" erschöpft sich darin. Wir denken anders. Wir denken an einen sozialen Transformationsprozess, wo das "Netz der Netze" ein Attraktionspunkt wird, der sich ausweitet und die Entstehung anderer soziale Netze befördert.

Nach Genua ist "nichts mehr wie vorher". Was hat sich in deinen Augen geändert?
Luca Casarini: Kehren wir zum Freitag, den 20., und Samstag, den 21.Juli zurück. Oder besser zu einem Foto, das erst die Wochenzeitung Carta und dann ihr von Il Manifesto veröffentlicht habt. Es stammt von Tano D‘Amico und zeigt, wie die Carabinieri schon in via Tolemaide, also noch bevor Carlo erschossen wurde, die Pistolen gezogen und sie auf uns gerichtet haben. Das zeugt von einer militärischen Logik der Regierung bei der Bewältigung der Mobilisierungen gegen die G8. Die Carabinieri haben bewusst angegriffen. Wir haben Widerstand geleistet und ich stehe zu diesem Widerstand als einer politischen Tat.
Aber es wäre Wahnsinn und politischer Selbstmord, wenn wir die Logik der militärischen Auseinandersetzung akzeptieren würden. In Genua sind alle Ordnungskräfte aufmarschiert, das Heer, die Geheimdienste der acht wirtschaftlich und politisch mächtigsten Länder der Welt. Unsere Bewegung kann sich mit dieser militärischen Macht nicht messen. Wir wären innerhalb von drei Monaten zerrieben. Wir müssen deshalb einen dritten Weg finden zwischen denen, die demonstrieren wollen, dass sie die wirtschaftliche Globalisierung ablehnen, und denen, die für symbolische Aktionen eintreten, wie es die Verwüstung einer Bank sein kann.

Es gibt Leute. die sagen, ihr seid in der Via Tolemaide in eine Falle gelaufen.
Luca Casarini: Waren wir naiv? Vielleicht. Ich sehe das unter einem anderen Gesichtspunkt. Als Tute bianche haben wir ein Abkommen mit dem Genoa Social Forum getroffen und wir haben es respektiert. In den Vorbereitungstreffen vor dem "Tag des Ungehorsams" (am Freitag, den 20.Juli) haben wir nie unsere Absicht verborgen, in die Rote Zone einzudringen. Wir haben auch klargestellt, mit welchen Instrumenten wir das tun würden. Wir haben weder Stöcke noch andere offensive Gegenstände mit uns getragen. Wir haben nicht einmal unsere Tute Bianche angezogen, diese Entscheidung ist lang und breit von uns im Stadio Carlini (die Unterkunft in Genua) diskutiert worden. Ich denke, das war richtig so, denn wenn man sich in einer vernetzten Realität bewegt, wie diese Bewegung sie darstellt, kommt es nie darauf an, auf die Demonstration der eigenen Identität zu pochen, vielmehr ist das Wichtige, dass die Verschiedenen, die an einem gemeinsamen Ziel arbeiten, sich gegenseitig anstecken.
Wenn wir in Genua naiv waren, lag unsere Naivität darin: dass wir uns an das Abkommen gehalten und die respektiert haben, die anders denken, mit denen man aber gemeinsam ein Ziel erreichen will. War das eine Falle? Ja, aber eine, die der gesamten Bewegung gestellt wurde.

Es gibt Leute wie ich, die sagen, die Taktik der Tute bianche, einen Zusammenstoß zu inszenieren und gleichzeitig mit der Polizei zu verhandeln, in Genua in die Brüche gegangen sei.
Luca Casarini: In der Vergangenheit gab es solche, die geschrieben haben, die Tute bianche machen nur Show. Die Konfrontation mit der Polizei sei eine Farce. Es gab sogar solche, die gesagt haben, wir hätten vorher alles mit den Ordnungskräften abgekaspert.
Das war nie so. Vor zwei, drei Jahren haben wir lange darüber nachgedacht, wie wir den Konflikt führen können, ohne dass er je ins Destruktive umschlägt. Unsere Technik war eine andere: Wir haben öffentlich erklärt, was wir tun wollten, und immer gewarnt, wenn die Polizei uns angreift, würden wir uns mit Schilden und Polsterungen wehren. Das war unsere Regel, weil es wichtig war, Konflikt und Konsens über die von uns gesteckten Ziele herzustellen. Wir haben erwartet, dass es in Genua mehr oder weniger so abläuft. Wir wurden getäuscht. Denk mal an die Treffen des Genoa Social Forum mit Scajola (Innenminister) und Ruggiero (Außenminister); sie haben keine ihrer Zusagen eingehalten. Die Ordnungskräfte haben Schusswaffen eingesetzt, während sie uns versichert haben, sie würden das nicht tun; Ruggiero hat das Demonstrationsrecht als ein unveräußerliches Recht bezeichnet. Es kam unter die Räder der Polizeiwannen.

Und nun?
Luca Casarini: Für mich ist wesentlich, dass wir von der Erfahrung ausgehen, die wir das "Laboratorium Carlini" genannt haben. Das war eine intensive Erfahrung. Sie hat mich vieles gelehrt. Zum Beispiel wie man einen öffentlichen Raum aufbaut, in dem Vielzahl nicht nur ein Wort, sondern die gemeinsame politische Praxis der "Ungehorsamen" ist.

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