Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2001, Seite 11

Die Straße gehört der Bewegung

Ein Genueser Tagebuch

Die italienische Metropole an der ligurischen Küste wirkte in einigen Stadtteilen fast wie ausgestorben. Viele Genueser waren dem Aufruf des Polizeipräfekten gefolgt, für die Tage des G8-Treffens ihre Stadt zu verlassen. Bei praller Sonne und 30 Grad im Schatten blieben die Liegestühle an den Stränden der Hafenstadt leer und die Sonnenschirme geschlossen. Außerhalb der Roten Zone, die die gesamte Altstadt umfasste und mit Schiffscontainern und auf Beton montierten Drahtzäunen zum Sperrgebiet wurde, hatten die Geschäftsleute an den Hauptstraßen nahezu alle Fensterscheiben mit Holzlatten und Metallgittern verkleidet, um ihre Läden vor den von Medien und Politikern angekündigten Randalen zu schützen.
Die als linke Hochburg geltende Stadt wirkte schon ab Montag geradezu gespenstisch, wären da nicht die mehreren zehntausend Gipfelgegner gewesen, die schon Tage zuvor nach Genua angereist waren. Die ließen sich nicht beirren — auch nicht durch die Bombendrohungen und -attentate. Viele fühlten sich an die 70er Jahre erinnert, als in Italien rechte Organisationen in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten Bomben auf Bahnhöfen detonieren ließen und die Roten Brigaden dafür verantwortlich machten.
Das Genua Social Forum, unter dessen Dach sich knapp tausend internationale Organisationen befanden, erklärte wiederholt, dass zwar einige der GSF-Gruppen wie die Tute-bianche-Aktionen den zivilen Ungehorsam planten, aber alle es ablehnen würden, offensive Gegenstände mit sich zu tragen und Gewalt gegen Personen anzuwenden.
Viele daheimgebliebene Genueser solidarisierten sich trotz medialer Hetzkampagnen. Vor allem Unterhosen dienten ihnen als politisches Symbol, denn der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi hatte die Einwohner der Stadt angewiesen, ihre Wäsche, die in Italien oft an Wäscheleinen vor den Fenstern getrocknet wird, einzuholen. Dieser Anblick sei den Vertretern der G8 nicht zuzumuten, meinte Berlusconi.
Als Zeichen des Protests schwenkten deshalb die daheimgebliebenen Genueser nicht nur Che-Guevara- Fahnen sondern auch ihre Unterwäsche, während unter ihnen die Demonstrationen vorbeizogen. Übel aufgestoßen war vielen auch die historische Entsprechung der Anweisung Berlusconis: 1938, als Hitler seinen Gesinnungsgenossen Mussolini in Rom besuchte, gab es dieselbe Anordnung.

Donnerstag

Aber viele Genueser waren auch dem Ruf des Polizeipräfekten gefolgt, die Stadt zu verlassen. "Unsere italienischen Freunde hatten Angst, in Genua zu bleiben", berichtete ein in Genua praktizierender Therapeut aus Deutschland. Die Berichterstattung in den Medien und die Äußerungen zahlreicher Politiker hätten sie zutiefst verunsichert. Er selbst entschloss sich jedoch an der ersten großen Demonstration am Donnerstag teilzunehmen, nachdem er erfahren hatte, dass an der Schweizer Grenze bei Chiasso mehreren Gipfelgegnern die Einreise verwehrt worden sei. Auf die Demonstration der Migrantinnen und Migranten kamen mehr als erwartet: das GSF hatte lediglich mit 15.000 Teilnehmenden gerechnet, gekommen waren mehr als 50.000.
Das Bild der Demonstration wurde jedoch nicht von Migranten- und Flüchtlingsorganisationen dominiert, sondern von ihren Unterstützern, darunter zahlreiche Mitglieder von Rifondazione Comunista, von der unabhängigen Basisorganisation Cobas und dem internationalen Netzwerk ATTAC. Vielen Flüchtlingen aus dem Ausland war nämlich die Einreise verwehrt worden.
Angesprochen auf die Stimmungsmache im Vorfeld reagierten die zuschauenden Genueser gelassen. "Ich habe keine Angst, in Italien sind wir Proteste gewohnt", sagte ein Hafenarbeiter am Donnerstag. Auch die Busfahrer — Busse sind neben einer U- Bahn-Strecke das einzige Nahverkehrsmittel in Genua — waren gegenüber den Gipfelgegnern durchaus aufgeschlossen. "Sie lassen uns umsonst mitfahren", freute sich ein Antifaschist aus Westdeutschland. Nicht nur für ihn war die Demonstration ein Erfolg, auch für alle anderen schien die Stimmung durch nichts mehr getrübt werden zu können.

Freitag

Mit großen Erwartungen sahen deshalb viele dem Freitag entgegen. Würde es gelingen, mit Mitteln des zivilen Ungehorsams die Absperrungen zu überwinden? Einige waren dieser Ansicht und übten sich im Bauen von Menschentürmen. Die Tage zuvor hatte in einer Turnhalle des Medienzentrums das aus Seattle bekannte "Direct Action Training" begonnen. Dort trainierten mehrere hundert Gipfelgegner, wie ohne Waffen Polizeiketten und Absperrgitter möglicherweise überwunden werden könnten. Doch die insgesamt sechs Demonstrationszüge des GSF — einige Gruppen hatten sich nicht daran beteiligt, weil sie das Konzept wegen mangelnder Radikalität kritisierten — waren gerade losgegangen, da gab es schon die ersten Zwischenfälle.
Die unabhängigen Cobas-Gruppen und andere linke Gewerkschafter sahen sich auf ihrem Kundgebungsplatz auf der Piazza Paolo Novi von einem Schwarzen Block umringt, der ihre Veranstaltung kurzerhand vereinnahmte und die Konfrontation mit der Polizei suchte. Auch später tauchte der Schwarze Block, der zum Teil seine schwarzen Fahnen zu militärischen Trommelrhythmen schwenkte, auf den Kundgebungen des GSF auf.
"Erst habe ich gedacht, das ist ein faschistischer Aufmarsch", sagte eine Demonstrantin aus Frankfurt. Auch ihr Begleiter beschreibt das Szenario als bedrohlich. Ein Teil des Schwarzen Blocks sei auf einem Platz aufgetaucht, der von Jugendlichen der Socialist Workers Party und einigen Friedensaktivisten in Anspruch genommen war, die dort ihre Aktionen durchführten. Nachdem die mit schneckenhausförmig verkleideten Helmen ausgestatteten Anhänger des Schwarzen Blocks eine kleine Tankstelle zerlegt hätten, sei die Polizei gekommen und hätte nicht den Schwarzen Block, sondern die anderen Demonstranten angegriffen.
In anderen Fällen trieb die Polizei den Block immer wieder in die Reihe der friedlichen Demonstranten und nutzte dies als Anlass, anzugreifen, berichtete das GSF. Insgesamt sollen an den Freitagsaktionen mehr als 100.000 teilgenommen haben.
Von den tödlichen Kopfschüssen auf den 23-jährigen Carlo Giuliani erfuhren die meisten erst am Abend im Konvergenzzentrum. Die Polizeipräfektur hatte nach den Schüssen den absoluten Notstand verfügt. Selbst Anwohnern und Journalisten wurde der Zugang zur Roten Zone verwehrt. Diejenigen, die sich darin befanden, kamen für Stunden nicht hinaus.
Giuliani, der von zwei gezielten Kopfschüssen getötet wurde, war nicht bei den Tute bianche organisiert, hatte sich aber deren Demonstration mit 15000 Teilnehmenden angeschlossen. Die Tute bianche zogen sich nach den tödlichen Schüssen in ihre Unterkunft, das Fußballstadion Carlini, zurück. Dabei waren sie heftigen Angriffen seitens der Polizei ausgesetzt. Augenzeugenberichten zufolge sollen Autonome, Gewerkschafter und Aktivisten von Rifondazione Comunista den Tute bianche bei der Verteidigung gegen die Polizei geholfen haben.

Samstag

Am nächsten Tag auf der Großdemonstration trug fast die Hälfte der Teilnehmer ein um den Arm gebundenes schwarzes Band als Trauerflor. Doch nicht nur Trauer, auch Zorn bewegte die Gemüter. "Assassini, Assassini", schrien viele der mehr als 200.000 Demonstranten den Polizisten an den Absperrungen entgegen. An der Piazzale Kennedy, unmittelbar neben dem Konvergenzzentrum des GSF an der Uferpromenade, entwickelte sich die erste große Straßenschlacht. Dort hatte die Polizei demonstrativ mehrere Hundertschaften und Panzerfahrzeuge aufgefahren. Nachdem mehrere dutzend Demonstranten das Gelände des Konvergenzzentrums nutzten, um die Polizei anzugreifen, stürmte diese später das Gelände. Das GSF hatte zwar wegen der Erfahrungen vom Freitag den Ordnerdienst verstärkt, der aber der Größe der Demonstration nicht gewachsen war und nur kurze Zeit standhalten konnte.
Die Polizei reagierte mit ungeheurer Brutalität und Unmengen an Tränengas. Eine Stunde nach Beginn der Demonstration blockierte sie die Großdemonstration und schlug wahllos auf alle Teilnehmer ein. Auch viele der Demonstranten, die sich selbst keinesfalls zum Schwarzen Block zählen, setzen sich gegen die Polizeigewalt zur Wehr. So etwa 70 Gewerkschafer mittleren Alters aus den Cobas-Gruppen, die entschlossen eine von der Polizei gesperrte Kreuzung freikämpften, um anderen Demonstranten zu ermöglichen, der brutalen Polizeioffensive zu entkommen.
Die Straßenschlachten zogen sich bis kurz vor den drei Kilometer vom Konvergenzzentrum entfernten Platz der Abschlusskundgebung hin. Wer auf der Flucht vor der Polizei hinfiel, wurde von den Beamten geschlagen und zusammengetreten. Einige Demonstranten sind sogar über Mauern in einen drei Meter tiefen Abgrund geworfen worden.
Trotz der Verwüstungen auch zahlreicher kleinerer Geschäfte und Privatautos öffneten einige Genueser flüchtenden Demonstranten ihre Haustüren und reichten ihnen das dringend benötigte Wasser — gegen den Durst, und um das beißende Tränengas aus den Augen zu waschen. Manchmal nützte selbst die Flucht in Wohnhäuser nichts und die Polizei schlug sogar Fensterscheiben ein, wenn die Haustüren verschlossen waren. "Dann haben sie die Jugendlichen, die vor Angst zitternd in der Ecke saßen, mit ihren Knüppeln zusammengeschlagen", berichtete völlig aufgelöst eine etwa 60-jährige Frau, die mit den jungen Demonstranten in ein Haus geflüchtet war.
Am Samstag Abend verdichteten sich dann die Informationen, dass zahlreiche Agents provocateurs unterwegs waren. Sogar der staatliche Sender RAI sendete Filme, die nach ihrem Aussehen dem Schwarzen Block zugehörende Gruppen beim Betreten und Verlassen von Polizeistationen und -mannschaftswagen und im Gespräch mit hohen Polizeioffizieren zeigten. Auch das Team der unabhängigen Agentur indymedia hatte gute Arbeit geleistet und viel Bildmaterial gesammelt. Das ist möglicherweise der Grund, so vermuten einige, warum es dann am Abend zum größten Gewaltexzess des Tages kam.
Mit dem Vorwurf, in der gegenüberliegenden Schule des alternativen Medienzentrums hätten Teile des Schwarzen Blocks Unterschlupf gefunden, stürmte die Polizei mitten in der Nacht das Medienzentrum und die Schule. Während es im Medienzentrum, das maßgeblich von indymedia und dem GSF organisiert war, weitgehend bei Festnahmen,ZerstörungvonCom-putern und Beschlagnahmung sämtlichen Bild- und Datenmaterials blieb, wüteten die Polizeibeamten zwei Stunden in der Schule, zu der auch viel später noch Journalisten, Abgeordneten und Anwälten der Zutritt verwehrt blieb. Viele der mehrheitlich jugendlichen Demonstranten hatten schon geschlafen und wurden auf brutale und sadistische Weise zusammengeschlagen, zum Teil anschließend von der Polizei in schwarzen Säcken hinausgeschleppt. Allein diese Aktion forderte nach Angaben von indymedia 43 Verletzte, die im Krankenhaus behandelt werden mussten, darunter mehrere Schwerverletzte.

Was bleibt?

Ein Sprecher des GSF wies den Vorwurf zurück, dass das Medienzentrum "Teile des schwarzen Blocks" beherbergt habe. "Wir sind ein friedliche Bewegung, sie wollen uns zerstören. Dies ist eine Operation wie in Chile unter Pinochet. Sollte die Polizei die Beweisfotos über ihre Kontakte mit dem schwarzen Block suchen, muss sie wissen, dass sie an einem sicheren Ort lagern und demnächst der Staatsanwaltschaft übergeben werden."
Für die Polizei schienen die Gewaltexzesse ein Grund zum Feiern zu sein. Der G8 war erst seit wenigen Stunden zu Ende gegangen, als sich Sonntagnacht aus der Sporthalle des Messegeländes — einer der Sammelplätze der Polizeikräfte — Jubelchöre wie bei einem Fußballspiel erhoben. Hunderte Polizisten brüllten: "Polizia, eh, eh!", hüpften durch die Halle und riefen: "Wer nicht springt, ist Kommunist." So beschreiben übereinstimmend nahezu ein Dutzend Anwohner eine lautstarke Feier der Polizei gegenüber der Genueser Tageszeitung Il Secolo XIX.
Dem Freudenfest müssen auch hochrangige Politiker oder Polizeiführer beigewohnt haben, denn irgendwann fuhr eine Limousine unter Sirenengeheul ins Stadion und verursachte tosenden Beifall. Auch die Anwohner verschiedener Polizei- und Carabinieri- Kasernen berichteten von "Siegesfeiern" der Ordnungskräfte.
Selbst ein Teil der Medien in Italien schien in den darauf folgenden Tagen aufgeschreckt. Sie werfen die Frage auf, ob es sich bei der nächtlichen Aktion nicht um einen Racheakt der Polizei gehandelt hat. Auch bei den Genuesern, die nun aus dem angeordneten Exil zurückgekehrt sind, ist die Brutalität der Polizei und ihr Verhältnis zum "schwarzen Block" das bestimmende Gesprächsthema.
Und trotz der "Siegesfeiern" und der exzessiven Brutalität der Polizei scheint die Rechnung zumindest kurzfristig nicht aufgegangen zu sein: Am Dienstag, zwei Tage nach dem G8-Gipfel, demonstrierten allein in den italienischen Städten nochmal so viele Menschen wie auf der Großdemonstration am Samstag. Nicht eingerechnet die unzähligen Solidaritätsaktionen im Ausland.

Gerhard Klas

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