Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2001, Seite 12

Argentinien am Rande der Explosion

Wirtschaftskrise und Generalstreik

Nach zehn Jahren zieht sich die Falle der Anbindung des argentinischen Peso an den US-Dollar unausweichlich zu. Den Peso strikt an den Dollar zu binden war eine der großen Ideen Präsident Menems und wurde 1991 durchgeführt. Begründet wurde dies mit dem Kampf gegen die Inflation, und es stimmt, dass diese Art der Politik dazu neigt, die Inflation zu senken. Die Ökonomie ist gesundet, aber sie ist nicht weit davon entfernt, von der Rezession getötet zu werden, die vor allem aus den Exportverlusten und den Haushaltseinsparungen resultiert.
Vor einer solchen Degradierung ermöglichte die Wahlniederlage Menems im Dezember 1999, sich ein besonders verfaultes Regime vom Halse zu schaffen. Aber die Hoffnungen, die in die "Allianz" gesetzt wurden, der vom neuen Präsidenten De la Rua geführten Koalition, sind schnell enttäuscht worden. Ganz in sozialdemokratischer Tradition hat die neue Regierung die liberale Orientierung Menems bestätigt, die heute zu einer katastrophalen Situation geführt hat. Argentinien demonstriert heute beispielhaft die völlige Ineffizienz der sog. Strukturanpassungspolitik.

Privatisierungswut

Argentinien ist zweifellos das Land auf der Welt, das am meisten privatisiert hat. France Télécom und die spanische Gesellschaft Telefónica haben sich das Telefonnetz geteilt, Vivendi verteilt das Wasser und hat eine protzige Zentrale in Buenos Aires. Man kann von einer wirklichen Privatisierungswut sprechen: jede Autobuslinie der Hauptstadt ist ein kleines Unternehmen, das nach und nach vollständig dereguliert worden ist. Die Fahrpreise sind zwischen 40 und 100% gestiegen.
Die jüngsten Missgeschicke der Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas sind besonders erstaunlich: Privatisiert, vom spanischen Staat vermittels der Spanischen Gesellschaft Industrieller Beteiligungen (SEPI) aufgekauft, ist sie heute Bankrott und von der Schließung bedroht.
Ein solches Panorama hat heute dem Privatisierungsdiskurs jede Legitimität genommen. Dies ist eine erste Lehre aus den Ereignissen.
Aber diese Privatisierungen waren Bestandteil einer wahnsinnigen Flucht nach vorn, denn sie dienten dazu, den Zufluss des für die Bezahlung der Schulden erforderlichen Kapitals zu erhalten. Die zweite Lehre Argentiniens ist, dass die Auslandsverschuldung (deuda externa) eine ewige Verschuldung (deuda eterna) ist.
Sie beträgt heute 150 Milliarden Dollar und belastet die Zahlungsbilanz beträchtlich. Um die Rückzahlung zu sichern, muss Kapital angezogen werden, und dies bedeutet für das Wirtschaftswachstum ungünstige Maßnahmen, insbesondere die Aufrechterhaltung extrem hoher Zinsraten.
Durch einen Mechanismus kommunizierender Röhren ist das Außenhandelsdefizit im Staatshaushalt eingebunden. Letzterer zahlt die Schulden, aber er muss sich infolge nicht ausreichender Steuereinnahmen verschulden, um die Zinsen zu zahlen, und dieser Schneeballeffekt wird bald unkontrollierbar.
Die Tiefe der Krise ist daher nicht erstaunlich: drei Jahre Rezession, ein Bruttoinlandsprodukt, das seit 1998 um 4,3% gesunken ist, 37% Arme, 30% Erwerbslose, die Hälfte der Lohnabhängigen verdient weniger als 500 Dollar im Monat.

Spirale der "Umstrukturierungen"

Angesichts dieser Situation hat die Regierung De la Rua einfach die neoliberale Politik weitergeführt: noch mehr Flexibilisierung — die "Reform" des Arbeitsmarkts getauft wird —, Steuererhöhungen, die auf die mittleren Schichten und nicht auf die Profiteure zielen, brutale Reduzierung der Beamtenbesoldung.
Ziel ist die Freisetzung von Zahlungskapazitäten und die Beruhigung ausländischer Investoren. Ein Teil der Schulden ist zugunsten der Gläubiger umstrukturiert worden, die von den sehr hohen Zinsraten in der Größenordnung von 15% profitieren werden.
Die Regierung versucht besonders die Anlage privater Pensionsfonds anzureizen und entfesselt so einen neuen teuflischen Mechanismus. Aber diese "präventive Wappnung" reicht nicht aus und Argentinien wird an der Börse als hochgradiges "Risikoland" notiert, was Investoren entmutigt. Am Ende dieser wahnsinnigen Logik, bei der man sich verschuldet, um die Zinsen zu zahlen, steht die Einstellung der Zahlung und eine Finanzkrise großen Ausmaßes, die unvermeidlich von der Abwertung des Peso begleitet wird.
Die derart offene Situation enthüllt eine sehr tiefe soziale Krise. Selbst die herrschenden Klassen sind von Widersprüchen durchdrungen und es existiert eine Art Konkurrenz zwischen Investoren und Spekulanten bei der Erschleichung des Kapitals in einem solchen Ausmaß, dass eine Fraktion der Bourgeoisie sich um die Idee einer Abwertung sammelt, deren Nachteile schlimmer sind als die disziplinierenden Tugenden.
Die Bindung an den Dollar unterscheidet Brasilien von der mehr empirischen Politik die in Brasilien vertreten wird, und destabilisiert seine Wirtschaft gegenüber seinem wichtigsten Partner innerhalb des Mercosur. Diese internationale Isolierung verschärft noch die politische Krise.

Sozialer Widerstand

Aber das ist nicht das Wesentliche: Die Tiefe der Krise zeigt sich vor allem am drastischen Anstieg der Klassenkämpfe. Innerhalb von 15 Monaten haben vier Generalstreiks es den organisierten Erwerbslosen und den Arbeiterinnen und Arbeitern erlaubt, ihre Stärke zu zeigen, wobei sie neue Kampfformen wie z.B. Verkehrsblockaden erfanden.
Die Regierungskrise ist somit sehr weitgehend. In weniger als zwei Jahren gibt es bereits den dritten Finanzminister, Domingo Cavallo. Als ehemaliger Leiter der Zentralbank unter der Diktatur und früherer Wirtschaftsminister unter Menem ist er offensichtlich unfähig, zwischen dem Druck seitens der internationalen Finanzkreise und dem Widerstand der Bevölkerung einen Handlungsspielraum zu finden.
Am 16.Juli erklärte die Tageszeitung der Unternehmer Ambito financiero, dass ein derart harter Anpassungsplan nicht ohne Belagerungszustand angewandt werden könne. Dies ist eine gute Zusammenfassung einer explosiven Situation.

Michel Husson, aus: Rouge, Nr.1934, 2.8.2001.

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