Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2001, Seite 15

Russland

Erziehung zum Markt

Bis vor ganz kurzem habe ich sehr gerne vor Studierenden gelehrt. Nun, recht spät, habe ich entdeckt, dass etwas seltsames passiert ist.
Gerade jetzt kommt die Generation von Studierenden an die russischen Universitäten, die durch jenes Schulsystem gegangen sind, das auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgte. Die Namen der Parteisekretäre bedeuten ihnen soviel wie jene der mittelaterlichen Könige oder der Heroen des antiken Griechenland. Das ist nur natürlich. Weniger verständlich ist jedoch, dass mit den sowjetischen ideologischen Doktrinen auch jede wie auch immer geartete kulturelle Basis abhanden gekommen ist.
Als ich meinen Studentinnen und Studenten von den politischen Strukturen des viktorianischen Englands erzählte, um ihnen den Unterschied zwischen dem Liberalismus des 19.Jahrhunderts und modernen Demokratien zu erklären, sagte ich ungefähr: "Wer erinnert sich denn an das Kapitel über Wahlen in Dickens Pickwick Papers?" Schweigen. Niemand hatte es gelesen. Kurz erklärte ich, wer Charles Dickens war und warum sich ein Blick in seine Bücher lohnt. Schließlich verstand ich, dass ich auch zu erklären hatte, wer Königin Viktoria war und wann sie regierte — und ich sah meine Studenten, wie sie mich mit dankbaren Augen anstarrten.
Shakespeare-Zitate provozierten dasselbe nackte Unverständnis, obwohl zumindest der Name des Barden Erinnerungen wach rief. Die meisten hatten Shakespeare in Love gesehen, wofür ich dankbar bin.
Natürlich ist es nicht mein Job, ihnen die Geschichte der Literatur zu präsentieren. Mein Kurs behandelt die politische Soziologie. Doch es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass gebildete Personen ein bisschen mehr für ihre Spezialisierung brauchen als die minimale Sammlung von Fakten. Noch beängstigender ist, dass alarmierende Lücken selbst in ihrem begrenzten Spezialgebiet auftauchen.
Die Sowjet-Ära garantierte den Menschen trotz all ihrer Fehler eine mehr oder weniger stabile Existenz und gab ihnen Zeit und Möglichkeiten, Bücher zu kaufen und zu lesen. Je weniger abwechslungsreich und dynamisch das reale Leben wurde, je mehr versenkten sich viele Menschen in die kompensierende Welt des Wissens.
Junge Leute, die niemals verreisten, sprachen trotzdem ausgezeichnetes Englisch, und Spezialisten in französischer Geschichte überraschten ihre westlichen Kollegen mit ihrem profunden Fachwissen, obwohl sie niemals die Chance hatten, Paris zu sehen. Heute haben die Menschen viel mehr Möglichkeiten, aber viel weniger Zeit.
Mehr noch, das Kennen von Büchern sichert kein anständiges Gehalt oder allgemeine Anerkennung. Unsere Schulen müssen unsere Studierenden "bereit für die Marktökonomie" machen. Manche Schulen machen dies besser als andere. Keine von ihnen erzieht jedoch umfassend gebildete Bürger.
Die zuletzt angekündigte Erziehungsreform lässt eine weitere Orientierung der Studierenden am pragmatischen Erfolg in der Marktökonomie erwarten. Das ist logisch genug. Aber die Erfahrung zeigt, dass ein enger Pragmatismus kaum eine erfolgreiche Strategie ist. Wenn ein Pragmatist mit Misserfolg konfrontiert ist, hat er, so sehr er sich auch anstrengt, nur wenige Wahl- und keine Umkehrmöglichkeiten. In Wirklichkeit ist die historische Aufgabe der Erziehung, dem puren Pragmatismus der primitiven Markt-"Kultur" mit der Einführung neuer Werte, Traditionen und neuen Wissens zu begegnen.
Deshalb ist es nicht ganz so überraschend, warum sich so viele Leute, die das sowjetische Erziehungssystem durchwandert haben, so ausgesprochen gut im Westen bewegen. Es ist paradox, aber wahr: gerade heute, wo die Gesellschaft mit den harten Imperativen der Konkurrenz konfrontiert ist, brauchen wir ein Erziehungssystem nötiger denn je, das die weiteste und möglichst mannigfaltigste Bandbreite an Werten einimpft.

Boris Kagarlitzki

Boris Kagarlitzki, sozialistischer Aktivist und Autor, unterrichtet Soziologie an der Akademie der Wissenschaften in Moskau.


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