Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 31.08.2001, Seite 3

Alternativen entwickeln

1.Internationale Konferenz der sozialen Bewegungen in Mexiko

Ihr sprunghaftes Anwachsen in den letzten beiden Jahren stellt die Bewegung gegen die Konzernherrschaft, die von den Gegnern gern "Antiglobalisierungsbewegung" genannt wird, vor eine schwierige Situation: Sie wird getragen von wachsender öffentlicher Aufmerksamkeit und Zustimmung, zugleich konfrontiert mit der Tendenz, sie zu diffamieren und kriminalisieren, und sie wächst zunehmend in die Rolle einer sich vereinheitlichenden sozialen Opposition gegen den Kapitalismus neoliberaler Prägung, zu einer Zeit, wo Parteien und die tradititionelle Gewerkschaftsbewegung diese Oppositionsrolle aufgegeben haben. Will sie die Konfrontation bestehen und die auf sie gerichteten Erwartungen nicht enttäuschen, braucht die Bewegung vor allem eins: eine fassbare und umsetzbare Alternative zur "neuen Weltordnung", eine andere Weltwirtschaftsordnung, die auf den Grundsätzen der Solidarität, Selbstbestimmung und Demokratie basiert.
Das Weltsozialforum in Porto Alegre, das im Januar 2001 erstmals als Gegenstück zum Weltwirtschaftsforum in Davos stattfand und Anfang Februar 2002 erneut am selben Ort zusammentritt, versteht sich als Ort, solche Alternativen zu entwickeln. Der organisatorische wie auch mediale Erfolg dieser Veranstaltung — beim erstenmal trafen sich 20.000 Menschen, für das zweite Treffen rechnen die Organisatoren mit 100.000 Teilnehmenden — ist der ergebnisorientierten Arbeit an Inhalten jedoch nicht zuträglich; die muss in kleinerem Kreis geschehen.
ATTAC Frankreich, die in Asien beheimatete Forschungseinrichtung Focus on the Global South und die brasilianische Gewerkschaft CUT luden deshalb Mitte August zu einem 1.Internationalen Treffen der sozialen Bewegungen nach Mexiko-Stadt ein. Auf der Grundlage des Aufrufs von Porto Alegre vom vergangenen Januar wurden drei Tage lang folgende Themen debattiert:
Wer sind und wie agieren die Vertreter des internationalen Kapitalismus und mit welchen Folgen?
Welche Bilanz ist aus den internationalen Mobilisierungen der letzten zwei Jahre zu ziehen?
Welche gemeinsamen Aktionen können wie in den kommenden zwei Jahren durchführen?
Das Treffen fand im Anschluss an das einwöchige Jahrestreffen der Lateinamerikanischen Koordination der Landorganisationen (CLOC) statt, in der Bauern, Indígenas und Landarbeiterinnen zusammenarbeiten. Trotz der dadurch gegebenen Dominanz von VertreterInnen des südamerikanischen Kontinents und der Bauernschaft waren 38 Länder aus 4 Kontinenten mit 190 Teilnehmenden vertreten. Die ersten beiden Fragestellungen dienten der Positionsbeschreibung: Wo steht heute die Kapitalseite, wo die Bewegung?

Eine dreifache Krise

Eric Toussaint von der CADTM und Nicola Bullard von Focus on the Global South machten drei größere Krisenherde der neoliberalen Offensive aus, die Ende der 70er Jahre mit dem Regierungsantritt Ronald Regans begann:

1. Eine Krise des neoliberalen Modells
Die weltweite Durchsetzung der neoliberalen Dogmen — Freihandel mit allen materiellen und immateriellen Gütern, die es gibt, schrankenlose Liberalisierung der Märkte und Deregulierung der industriellen und sozialen Beziehungen — stößt auf offensichtliche Grenzen. Sie führt zum Kollaps wirtschaftlich bedeutender Länder wie Mexiko (1994), Südostasien (1999—2000), Argentinien und Türkei 2001, demnächst vielleicht Brasilien, die in der Schuldenfalle hängen bleiben und von den Strukturanpassungsplänen des IWF erdrosselt werden. Die Privatisierung wichtiger Güter der öffentlichen Versorgung hat in Kalifornien und in Brasilien zu einer schweren Energiekrise geführt; eine Krise der Wasserversorgung droht mehreren Regionen der Welt. Die Instabilität der Finanzmärkte ist alles andere als überwunden und war vielleicht auch nur als Vorläufer einer neuen, schweren Weltwirtschaftskrise zu interpretieren, in die nun auch die USA und Japan getrudelt sind, mit deutlichen Auswirkungen auf Europa und noch unabsehbaren Folgen. Die Gefahr einer globalen Systemkrise ist mit Händen zu greifen.

2. Eine Krise der Glaubwürdigkeit und Legitimität
Obwohl offensichtlich ist, dass das neoliberale Wirtschaftsmodell Menschheit und Natur in den Ruin treibt und Alternativen dringend entwickelt werden müssen, sind die G8, die Herrscher der Welt, nicht einmal zu kleinsten Korrekturen und Reformschritten bereit oder in der Lage. Nicht einmal von ihnen selbst verkündete Maßnahmen wie der Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt, oder eine so periphere Regelung wie die Eindämmung der Spekulation durch ihre Besteuerung, oder Schritte zur Bekämpfung von AIDS wenigstens in dem Umfang, den die UNO gefordert hat, lassen sich derzeit verwirklichen. Nicht zu reden von den hochtrabenden Versprechungen von Wohlstand und Freiheit, die nach dem Fall der Mauer und dem angeblichen Ende der Geschichte urbi et orbi verkündet wurden. Selbst die angekündigten gesellschaftspolitischen Ziele wurden in den letzten Jahren erheblich heruntergeschraubt: In den 70er Jahren waren eine selbstständige, nicht abhängige Wirtschaftsentwicklung der Dritten Welt, oder die Wiedererlangung von Vollbeschäftigung in den Industrieländern noch allgemein akzeptiert.
Heute ist nur noch von Armutsbekämpfung die Rede. Jahr für Jahr werden Hunderttausende von Menschen mehr aus dem kapitaldominierten Wirtschaftskreislauf ausgegrenzt, die für die Profitvermehrung der Konzerne buchstäblich keinen Wert mehr haben; was kann mit ihnen vom Kapitalstandpunkt aus anderes geschehen, als dass sie wie überschüssiges totes Kapital ruhiggestellt oder vernichtet werden? Durch Hunger, Krankheit, Krieg?
Der nach Seattle eingeleitete "Reformprozess der internationalen Institutionen" (IWF, WB, UNO) ist im Sande verlaufen. Und die immer noch behauptete Dialogbereitschaft der G8 erschöpft sich zunehmend in der versuchten Integration von Nichtregierungsorganisationen, vor allem Gewerkschaften, die bereit sind, den unveränderten neoliberalen Kurs mitzutragen. Ein wirklicher Dialog, ein Angebot, gemeinsam Auswege aus einer tiefen Sackgasse zu finden, das immer auch Kompromissbereitschaft beinhalten müsste, findet nicht statt. Dafür spricht jetzt wieder die Gewalt und die Drohung, die Bewegung einfach zu unterdrücken.
François Houtard von der Zeitschrift Alternatives Sud nannte fünf neue Strategien, auf die Bewegung zu antworten, ohne auf sie einzugehen: die Kolonisierung (Privatisierung) der UN; die Kooptation der NGOs und der großen Religionen; die Verstärkung der Repression; die "Folklorisierung der Bewegung" ("unernste Spinner und Moralisierer"); die Übernahme und Perversion von Begriffen der Bewegung (Solidarität, Autonomie, Fortschritt, Revolution u.v.a.).
Mit der Glaubwürdigkeit und Dialogfähigkeit geht der Rückhalt in der Bevölkerung verloren, das beweisen zahlreiche Umfrageergebnisse. Aber auch der Konsens zwischen den G8 nimmt ab. Nicola Bullard von Focus on the Global South nannte es

3. die Krise des Multilaterialismus.
Der "Washington Consensus", das Übereinkommen, das die führenden Industrienationen nach dem Fall der Mauer unter der Vorherrschaft der USA geschlossen hatten, nach welchen Regeln die Jagd auf die neuen Märkte im Osten und die Durchsetzung der uneingeschränkten Konzernherrschaft auch gegenüber dem Süden verlaufen sollte, bröckelte zum erstenmal in Seattle, als die WTO-Runde an den Differenzen der USA mit der EU und mit den Ländern des Südens zerbrach.
Auf die zunehmenden Krisenherde antworten die internationalen Institutionen mit der Tendenz, ihren Aktionsradius auszuweiten. Sie benötigen dafür aber den Konsens der G8, und diese sind sich über eine Ausweitung des Mandats z.B. für die Weltbank nicht einig. Insbesondere die USA sehen den Zuwachs an Kompetenzen für die internationalen Institutionen mit Misstrauen bis Ablehnung, weil er eine Machtkonkurrenz beinhaltet; der einzige internationale Ort, den sie uneingeschränkt unterstützen, sind die G8-Gipfel selbst, zu denen sie mit der weitaus größten Delegation anreisen.
Auf Widerspruch stoßen die USA aber auch in anderen Fragen: zum Atomraketenschild (NMS), zum militärischen Engagement der USA in den verschiedenen Regionen der Welt, zum Kyoto-Protokoll und die Maßnahmen zum Emissionsabbau, zur Haltung zum Rassismus, die Forderungen afrikanischer Länder nach Reparationen für den Sklavenhandel und das Recht, die Politik Israels in einer öffentlichen Resolution zu kritisieren (UN-Konferenz in Durban), usw. Es mehren sich die Felder, wo die USA einseitige Maßnahmen ergreifen und internationale Vereinbarungen oder das Trachten danach offen missachten.
Auch für die kommende WTO-Runde in Qatar, die etliches abzuarbeiten hat, was in Seattle unverrichtet blieb, ist eine Überwindung der Differenzen nicht in Sicht. Die Tagesordnung ist lang, die möglichen Ergebnisse bisher wenige und das Risiko ist groß, dass die Runde endet wie der G8-Gipfel in Genua: mit wohlfeilen Erklärungen.
Je länger dieser Prozess läuft, um so mehr entlegitimieren sich die internationalen Institutionen, um so stärker wird das Konstrukt der globalen Herrschaft selbst in Frage gestellt.
Christophe Aguiton von ATTAC Frankreich sah darin für die Bewegung auch eine Gefahr: Anders als in den 30er Jahren sei heute eine systemimmanente Alternative für das Kapital nicht sichtbar. Selbst ganz kleine Reformen wären nicht möglich und würden sofort die Gefahr einer inneren Spaltung beschwören. Für die Bewegung sah er darin ein Problem, weil sie Erfolge braucht, um zu wachsen. Materielle Erfolge sind derzeit nur schwer möglich, dafür aber symbolische, wie der Rückzug des internationalen Konferenzzirkus auf kürzere Tagungen in entlegeneren Gegenden und hinter immer höhere Mauern.

Der schwierige Weg zur Alternative

Zu diesen "drei Krisen der globalen Herrschaft" gesellten sich in der Debatte noch eine ganze Reihe mehr: die Rezession als Krise der Überproduktion — andere nannten es eine Wachstumskrise, und deswegen Existenzkrise des Kapitals; die Bankenkrise, die u.a. zu einer Entkapitalisierung des Südens führt; die Krise der exportorientierten Agrarwirtschaft, die in Lateinamerika massiv spürbar ist, die Grundlage der traditionellen, auf Selbstversorgung orientierten Landwirtschaft zerstört hat und in einem Land wie Nicaragua Hungersnöte auslöst. João Pedro Stedile von der brasilianischen MST beschrieb, die Offensive des Finanzkapitals sei heute in der Landwirtschaft besonders spürbar: die Produktionsbereiche Pharmazie, Pestizide und Düngemittel und Biotechnik seien in der Hand von sieben multinationalen Konzernen vereint, ihre Produktionsentscheidungen würden von der Börse diktiert; die WTO agiere als Regulierungsbehörde für die Agrarmultis, die den bäuerlichen Kleinproduzenten ihre Existenzgrundlage rauben. Landflucht und Wanderungszwang sind die Folgen.
Es schwindet auch das Bild vom "guten" Imperialismus, als welcher die EU lange Zeit galt — wegen ihrer hohen Sozialstandards, aber auch wegen der ausgeprägten Formen bürgerlicher Demokratie. Die Angriffe auf den Sozialstaat, die Schüsse von Göteborg und Genua erschüttern das Bild. Die lateinamerikanischen Vertreter hatten kein Problem damit, Genua in eine Reihe mit dem Plan Colombia zu stellen.
Die Konferenz war sich einig in der Einschätzung, dass wir heute einen neuen internationalen Anstieg der sozialen Bewegungen erleben, deren Orientierung noch nicht klar ist. Der stellvertretende Vorsitzende des Volksparlaments von Ecuador (CONAIE), das im vergangenen Jahr das Parlaments- und das Regierungsgebäude gestürmt hatte, legte den Finger in eine offene Wunde, als er sagte: "Es nutzt nichts, eine Gegenmacht aufzubauen, wenn sie auf nichts beruht. Auch wir sind in einer Krise und brauchen Antworten. Wir geben der Welt noch keine Alternative."
Damit hat er zweifellos Recht. Dennoch verdeutlichte diese 1.Internationale Konferenz der sozialen Bewegungen, welch riesigen politischen und materiellen Fortschritt die Bewegung gegen die Konzernherrschaft in den letzten beiden Jahren gemacht hat: Die dort saßen und sich den Kopf über eine alternative Weltwirtschaftsordnung zerbrachen, waren keine universitären Zirkel und keine routinierten NGOs mehr. Es waren soziale Bewegungen, die jede in ihrem Land einen realen, manchmal bedeutenden Machtfaktor darstellen. Eine konkrete Alternative zur neoliberalen Weltordnung wird dann entstehen können, wenn diese Bewegungen unter Einschluss noch vieler anderer sich auf die Kernelemente einer solidarischen und selbstbestimmten internationalen Regelung ihrer Produktions- und Austauschverhältnisse einigen können. Dazu wurde in Mexiko-Stadt der Grundstein gelegt.

Angela Klein

Die Teilnehmenden der Konferenz: Vom afrikanischen Kontinent war niemand anwesend, das war ihre größte Schwäche. Der südafrikanischen Delegation war das Einreisevisum verweigert worden, auch der philippinischen. Thailand, Indonesien und Indien hatten Teilnehmer geschickt, Südkorea nicht, auch nicht Australien. Kanada und die USA waren mit Vertretern der Kampagne gegen das FTAA (Free Trade of the Americas — Québec), Global Exchange, Food First und universitären Gruppen vertreten. Aus Europa waren angereist: in der französischen Delegation ATTAC, die unabhängige Gewerkschaft SUD Télécom und der Weltfrauenmarsch; in der italienischen Delegation, die mit zehn Personen die stärkste war, ATTAC, der italienische Ableger von Via Campesina, die Basisgewerkschaft Cobas und Vertreter des Genoa Social Forum; aus Deutschland Euromarsch und der Caritasverband; aus Österreich Euromarsch und ATTAC; die belgische Kampagne für die Schuldenstreichung CADTM; TIE (Trans International Exchange — ein Netzwerk von Betriebslinken) Niederlande; Indymedia Dänemark; die Initiative für ein anderes Davos aus der Schweiz; Organisationen aus dem Baskenland.


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