Sozialistische Zeitung |
Es hätte nicht des Skandals um das Medikament Lipobay bedurft, um klarzumachen, dass das System der Geschäftemacherei
mit der Krankheit der Menschen dringend reformbedürftig ist. Was allerdings als "Gesundheitsreform" durch die Zeitungen geistert, hat mit den
Bedürfnissen von Kranken und Beschäftigten des Gesundheitssystems nichts zu tun. Erneut muss der Begriff "Reform" herhalten für eine
höhere Belastung der Betroffenen.
Dies zeigte sich auch kurz nach dem Wechsel im Ministerium, als die Grüne Ministerin Andrea
Fischer durch Ulla Schmidt, SPD, abgelöst wurde. Als eine erste politische Maßnahme schaffte sie die Budgetierung für die Ärzte ab, und daraufhin
stiegen die Ausgaben der Versicherungen für Arzneimittel um rund 10% im ersten Halbjahr, bei einer Steigerung der Gesamtausgaben von rund 2%. Prompt
erhöhten Krankenkassen ihre Beiträge.
Der Beitrag der Arbeitslosenversicherung an die Krankenkassen für Arbeitslosenhilfebezieher wurde
von der Regierung gesenkt, ebenso sinkt die Arbeitslosigkeit nicht weiter, so dass von dieser Seite den Kassen Einnahmen entzogen werden.
Die Entwicklung der Krankenversicherungen stand im Zentrum der Debatte der letzten Wochen. Erneut
steigen die Beiträge. So erhöhte die AOK Hessen von 13,8 auf 14,8%, ein Spitzensatz unter den AOKs. Die Ersatzkassen liegen nicht viel tiefer. Nur die
Betriebskrankenkassen (BKK) mit ihrem relativ günstigeren Mitgliedsstamm haben noch Beitragssätze von teilweise unter 12%. Erneut gibt es eine Reihe von
Expertenrunden, Gesprächen und Interviews, die andeuten, in welche Richtung die Reise gehen soll, wenn auch im Gesundheitssektor von "Reformen"
geredet wird (siehe SoZ 13/01).
Der rheinland-pfälzische Sozialminister Gerster (SPD) warf einen Stein ins Wasser, der schon einige
Kreise gezogen hat. Er schlägt vor, z.B. Massagen oder Teile der Psychotherapie aus dem Katalog der von den gesetzlichen Krankenkassen zu zahlenden
ärztlichen Leistungen zu streichen, um die Kassen zu entlasten.
Der Bereich Gesundheitssystem bietet sich dem Betroffenen oft als undurchschaubares Geflecht von
Interessen von Firmen, Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken, Kassen und Behandlungsmethoden dar. Nur einiges ist mit dem Rentensystem vergleichbar, mit
dem es oft in einem Atemzug als Teil des Sozialstaates genannt wird. So gibt es hier wie dort den großen Bereich der gesetzlich Pflichtversicherten, deren Beitrag zur
gesetzlichen Krankenkasse direkt vom Bruttoeinkommen abgezogen wird. Die Arbeitgeber betrachten ihren Anteil an der gesetzlichen Krankenversicherung als
Lohnnebenkosten, dabei ist er genau so ein Lohnanteil wie die Beiträge zur gesetzlichen Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung.
Wer über der Beitragsbemessungsgrenze verdient (das waren im Jahr 2000 insgesamt 6450 DM
monatlich), kann sich privat gegen Krankheit versichern, Privatversicherungen bieten oft einen anderen Leistungskatalog je nach Beitrag als die gesetzlichen.
Dafür zahlt man aber Beiträge gestaffelt nach Risiko, je älter der Versicherte oder je größer die Familie, desto mehr Beitrag verlangen
Privatversicherungen. Die gesetzlichen Beiträge richten sich allein nach dem Bruttolohn, nicht verdienende Ehepartner und Kinder sind beitragsfrei.
Im Gegensatz zur Rentenversicherung haben die Pflichtversicherten in bestimmten Grenzen seit einiger
Zeit freie Kassenwahl, d.h. sie konnten innerhalb der Pflichtversicherung sich eine günstigere Kasse (z.B. auch eine allgemein zugängliche BKK) aussuchen.
Diese Wahlmöglichkeit wurde vorübergehend eingeschränkt bis nächstes Jahr.
Angesichts der Tatsache, dass das Gesundheitswesen ein gewinnträchtiger Zweig der Industrie ist,
dass nicht an der Gesundheit, Vorbeugung und Aufklärung, sondern an Krankheit und Medizin verdient wird, sollte die Kritik wie im Fall Lipobay nicht dabei bleiben,
Bayer wegen seines Informationsverhaltens zu belangen.
Die Interessen der Pharma-Firmen werden inzwischen von der Politik als entscheidender Standortfaktor
angesehen. So verlangte NRW-Ministerpräsident Clement angesichts der Kritik an Bayer, dass nicht die Leistungen der in der Forschung und Produktion
Beschäftigten "herabgesetzt" werden dürften.
Oder in einer Funktionärszeitung der IG BCE heißt es: "Hauptaufgabe des auf Initiative
des IG-BCE-Vorsitzenden Hubertus Schmoldt vor zwei Jahren gestarteten Pharma-Dialogs ist die Stärkung des Standorts Deutschland."
Angesichts der sich andeutenden Reformen sollten die Beschäftigten des Gesundheitswesens, aber
auch die Mitglieder der Krankenkassen und die Kranken unruhig werden. Ihre Belastungen werden zunehmen. Das Gesundheitswesen in England ist ein warnendes Beispiel.
Das Gesundheitswesen wird womöglich schon vor den Wahlen mit Miniänderungen so
"deformiert", dass eine Reform im Schröderschen Sinne scheinbar unausweichlich wäre. Auf die kommende Debatte, welche Reform gebraucht
wird, muss sich die Linke noch sorgfältiger vorbereiten als bei der Rentenreform. Der Kongress der Gewerkschaftslinken und die Arbeitsgruppe Sozialpolitik
könnten dazu beitragen. Erfahrungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen, aber auch Kranker und Pflegebedürftiger müßten ein
Ausgangspunkt sein.
A.R.
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