Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 31.08.2001, Seite 5

VW

Keine Billigjobs für Arbeitslose

Arbeitslos sein ist in diesen Zeiten nicht eben einfach, und viele fanden sich wohl in ein Wirrwarr widerstreitender Gefühle gestürzt: eben noch von allen Seiten der volksschädlichen Faulpelzerei geziehen und darob geprügelt, finden wir uns nun nahezu lückenlos umstellt von FreundInnen und FürsprecherInnen, denen nichts mehr am Herzen zu liegen scheint als unser Wohlergehen. Und besonders verwirrend: eben die, die gerade noch die Keule am heftigsten schwangen, streiten nun am beredtesten für uns und unsere Interessen. Etwas überaus Dramatisches muss sich ereignet haben, um solchen Sinneswandel auszulösen. Was war passiert?
Am 27.Juni schrieb die Frankfurter Rundschau unter dem Titel "Abgesang auf eine kleine Revolution": "dass es nach dem Scheitern des Volkswagenmodells ‘5000 mal 5000‘ keine Gewinner gibt, dass im Grunde alle verloren haben, vor allem jene 10.000 Arbeitslosen, die sich nach Angaben des VW-Konzerns schon bei den Arbeitsämtern in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt oder direkt beim Unternehmen beworben hatten." Über die Schuldigen konnte kein Zweifel bestehen: "Gewerkschaften — dies ist eine Lehre der gescheiterten Verhandlungen — vertreten im grauen Alltag eben in erster Linie die (Lohn-)Interessen der Arbeitsplatzbesitzer und nicht die der Erwerbslosen."
Ebenfalls am 27.Juni ließ die Hannoversche Neue Presse den Hauptgeschäftsführer des Verbands der Metallindustriellen Niedersachsens, Dietrich Kröncke, sagen, die gescheiterten Gespräche seien "ein Schlag ins Gesicht der 10.000 Arbeitslosen, die auf einen Job gehofft hatten — der zudem für drei Jahre garantiert gewesen wäre".
Bild-Hannover wusste gar zu vermelden: "Es gibt schon über 40.000 Bewerbungen bei VW". Tags drauf allerdings stellte die HNP, "Arbeitsmarktexperten" zitierend, klar: "Da alle Arbeitsämter Bewerber an VW verwiesen hätten und dort nur 4000 gezählt worden seien, sei diese Zahl die realistischste."
Aber ob nun 4000, 10.000 oder 40.000 — mit den Hoffnungen, Chancen und der schnöden Realität hat es eh eine besondere Bewandtnis: wenn Angebot und Nachfrage so eklatant auseinanderfallen wie auf dem Arbeitsmarkt, bleiben in der Realität immer Legionen Enttäuschter zurück.
Im Fall "5000 mal 5000" wurden die Medien ihrer nationalen Verantwortung allerdings gerecht, denn da war er wieder: der "Interessengegensatz" zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Erwerbslosen; die eigentliche, einzige Klassenspaltung unserer Gesellschaft, mutwillig herbeigeführt von den Gewerkschaften, die ohne Not und aus purem Egoismus die Gemeinschaft aller Altruisten aufgekündigt und damit zerstört haben.
Doch jenseits dieser von den "bösen Gewerkschaften" angezettelten Spaltung herrscht — eigentlich — Interessenidentität zwischen Kapital und Arbeit. Bereits am 15.Mai 2001 ließ Peter Hartz, im Vorstand des VW-Konzern zuständig für Personalwesen der staunenden Öffentlichkeit verkünden: "Unser Modell wird Aktionäre und Arbeitslose freuen."

Das VW-Modell "5000 mal 5000"

Das Modell, das jetzt so viel Aufregung verursacht, wurde bereits im Spätherbst 1999 formuliert. In einem nur schwer erträglichen neoliberal- sozialdarwinistisch gewendeten Management-Neusprech, das interessengeleitete Entscheidungen als bloßen Vollzug anonymer Sachzwänge vorführt, wird dort dargelegt, um was es gehen soll: Mit einem "Wettbewerbskonzept für neue Arbeit" "an internationale Standorte verlorene Fertigungsumfänge zurückzuholen", und zwar mittels "eines weiterentwickelten Geschäftsprozesses auf der Basis eines neuen Arbeitsmodells mit Programmentgelt", wodurch "Deutschland im Vergleich auch zu europäischen Low-cost-Standorten voll wettbewerbsfähig darstellbar wird" (dieses und die anderen Zitate entstammen dem Konzeptpapier).
Realisiert werden sollte dies im Wolfsburger VW-Werk, wo gerade Produktionskapazitäten freigeworden waren, weil die Konzernleitung beschlossen hatte, die geplante Fertigung des Modells Colorado lieber an europäische Niedrigkoststandorte "verloren" gehen zu machen. Doch um der Geltung des VW-Haustarifs zu entgehen, wäre es nötig gewesen, eine eigenständige "Business Unit" zu gründen, eine innerhalb des VW-Konzerns unabhängige GmbH.
Es geht also wohlgemerkt nicht um die Konkurrenz zwischen verschiedenen Automobil-Produzenten, sondern um die Konkurrenz verschiedener Fertigungsbetriebe ein- und desselben Herstellers, freilich mit dem Ziel, dass alle einzelnen "Standorte" für sich genommen — und erst recht alle zusammen — den höchstmöglichen Profit abwerfen sollen.
Bei dem Modell geht es jedoch um viel mehr als eine bloße Veränderung der Arbeitsorganisation: um "voll wettbewerbsfähig darstellbar" zu werden, "soll eine Business Unit einschließlich eines Lieferantenparks ganzheitlich den gesamten Geschäftsprozess neu definieren und organisieren: Alle Bereiche und Funktionen des Unternehmens (einschl. Betriebsrat) würden grundsätzlich in die Business Unit vor Ort integriert und dem Selbstregelungsmechanismus der strikten Bedarfsorientierung bis hin zum Aufgabenentfall ausgesetzt."
Die Teams in diesem Modell sollten also nicht nur für die Fertigung im engeren Sinn, sondern für alle vor- und nachgelagerten Bereiche, von der Beschaffung bis zur Qualitätskontrolle und zum Vertrieb, verantwortlich sein. Und weil die Teams selber für alle Produktionsstufen verantwortlich sind, setzen sie sich gegenseitig unter Druck: "Ein Team prüft und informiert das andere Team … Standards steigern sich, welche Qualität annahmefähig und weiterzuverarbeiten ist."
Ziel war eine Fertigung "von rund 1000 Fahrzeugen arbeitstäglich … In der Spitze würden ca. 1200—1300 Fahrzeuge durch arbeitsorganisatorische Maßnahmen gebraucht."
Die Durchlaufzeiten der Kundenaufträge sollten verkürzt, die Flexibilität mittels modernster Produktions- und Kommunikationstechnik sowie Abbau von Zwischenlagern erheblich erhöht werden. Zur optimalen Ausnutzung der Produktionskapazitäten sollte das Ganze an sechs Tagen im 3-Schichten-Betrieb ablaufen, auch die möglichst weitgehend flexibilisiert: "Arbeitszeit wird in diesem unternehmerischen Arbeitsmodell nicht länger durch feste Schichtpläne organisiert."
Im Klartext hätte das Arbeitszeiten von bis zu 60 und im Halbjahresschnitt bis zu 48 Stunden pro Woche bedeutet!
Warum auch nicht: schließlich beträgt die jährliche Lebenszeit eines Menschen 8760 Stunden, doch davon werden nur 1060 im Basismodell der VW-Woche als bezahlte Grundarbeitszeit derzeit abgerufen.

Gescheiterte Verhandlungen

Alle MitarbeiterInnen sollten "grundsätzlich" am gleichen Entgeltmodell teilnehmen und 4500 DM plus Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung monatlich bekommen. "Halbjährlich wird der Bonus in Höhe von monatlich 500 DM ausgezahlt. Hinzu kommt eine Ergebnisbeteiligung oberhalb des Erreichens der geplanten operativen Ergebnisse — Programmeinhaltung unterstellt." Mit dem Bonus sollten sämtliche Zulagen (für Schicht-, Feiertags-, Nachtarbeit etc. und für Überstunden) pauschal abgegolten sein.
Die Medien begleiteten die "heiße Phase" der Verhandlungen in zu erwartender Weise: praktisch nie wurde der Gegenstand der Auseinandersetzungen und daher auch die "Rollenverteilung" korrekt dargestellt. So wurde, als VW noch auf dem Ausschöpfen des gesetzlich Zulässigen beharrte, von Arbeitszeiten bis zu 48 (statt eben 60) Wochenstunden geschrieben; als VW seine Forderung auf 42,5 Stunden reduzierte, hieß es, es gehe um 35 Stunden "wertschöpfender Arbeit" plus 7,5 Stunden "Qualifikationszeit", obwohl VW 35 Stunden Wertschöpfung, 2,5 Stunden Qualifikation und weitere 5 Stunden forderte, die auch der Qualifikation, vor allem aber der "Nacharbeit" (Qualitätssicherung!) und Teamabsprachen ("Kommunikationszeit") dienen sollten.

Ehrlichen Dank an IG Metall

Die IG Metall allerdings beharrte bis zum Schluss auf der im Flächentarifvertrag festgelegten 35-Stunden-Woche, zuzüglich 2,5 Stunden Qualifikationszeit, die ebenfalls bezahlt werden sollten, auf Basis des auf eine 35-stündige Wochenarbeitszeit bezogenen Monatsentgelts. Erst als die Einstellung von Arbeitslosen für das Modellprojekt zugesagt wurde, war die IGM bereit zu akzeptieren, dass ein Teil der Qualifizierung auch in die "Freizeit" fallen könnte.
Zum anderen wurde verschwiegen, dass es derzeit überhaupt nicht um 5000 Neueinstellungen (3500 in Wolfsburg für die Produktion des Mini-Vans AMVP, weitere 1500 evtl. in Hannover für den Micro-Bus) ging, sondern um das Heuern von zunächst 1500 "Trainees" ab September 2001 bis September 2002, dann Produktionsaufnahme mit diesen 1500 und sukzessive Aufstockung auf 3500 bis frühestens September 2003. Gesamtlaufzeit des Projekts bis September 2004.
Die IG Metall hatte also gute Gründe, die Verhandlungen um eine Rahmenvereinbarung für dieses "Pilotprojekt" für gescheitert zu erklären:
Erstens hätten die Vorschläge des Konzernvorstands nicht nur — zunächst für die Business Unit — den Haustarif außer Kraft gesetzt und sogar noch den Flächentarifvertrag (Arbeitszeit und Entgelt ins Verhältnis gesetzt) deutlich unterschritten, was ja wohl auch Zweck der Übung war, denn: "Auf der Basis der bisherigen Tarifverträge kann es nicht ewig weitergehen", so VW-Sprecher Fred Bärbock.
Die Rede vom "Modell-" oder "Pilotprojekt" war also durchaus ernstzunehmen: erprobt werden sollte eine völlige Umstrukturierung der bisherigen industriellen Produktionsweise. Und natürlich wären — im Erfolgsfall — sofortige Versuche zu erwarten gewesen, dies Modell zu übertragen: nicht nur auf andere VW-Werke, sondern ebenso auf andere Autoproduzenten und letztlich auf alle Industrien, in denen es ebenfalls realisierbar erschiene.
Zweitens aber hätte das Modell "5000 mal 5000" zur Ablösung bisheriger Arbeitsverhältnisse (Übertragung des Rechts der Anwendung der Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit unter bestimmten Bedingungen zu einem bestimmten Entgelt auf den Kapitaleigner) durch Werkverträge geführt (Ablieferung eines fertigen Produkts mit bestimmten Merkmalen zu einem festgesetzten Preis, wobei alle Risiken auf Seiten des Vertragsnehmers liegen). Die Kapitaleigner könnten sich dann auf die Realisierung des Profits beschränken. Fehlte nur noch, dass die Teams der Business Unit die Produktionsmittel mieten und die Umsatzrendite gleich in cash überweisen!
Zusammengefasst: Erwerbslose — zumindest die, deren Perspektive nicht "Arbeit um jeden Preis" heißt — haben dieses Mal keinen Grund, den Gewerkschaften Verrat ihrer Interessen vorzuwerfen. Und die, die in den Medien beklagen, die Arbeitslosen habe niemand gefragt, haben uns natürlich auch nicht gefragt.

u-dur

Der Autor ist Mitglied der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO).


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