Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 31.08.2001, Seite 10

Destruktivkraft Gentechnologie

Menschen sind mehr als die Summe ihrer Gene

Krankheit zu besiegen war das Versprechen der Gentechnologie, das die 1984 eingesetzte Enquetekommission des Deutschen Bundestages über "Chancen und Risiken der Gentechnik" besonders beeindruckte. Die Ergebnisse dieser Kommission schufen der Technologie in der BRD breite Akzeptanz und massive politische Unterstützung. Man lese genau: Nicht nur einzelne Krankheiten sollten geheilt werden können, sondern man versprach, nunmehr zur Ursache von Krankheit überhaupt vordringen und sie beseitigen zu können. Diese Ursache seien, so wurde behauptet, gestörte Gene. Sie würden durch richtig funktionierende ersetzt und niemand müsse mehr an Krankheiten sterben. Als die Erfolge ausblieben, legte die Industrie 1992 nach: Mit Unterstützung einiger Prominenter (u.a. Bischof Lehmann, der sich jetzt so arg über den Zugriff auf Embryonen durch eben diese Technologie beschwert) erklärte sie in einer Anzeigenserie: "Nur mit Gentechnik haben wir im Kampf gegen Krebs, Aids und Herzinfarkt eine Chance". Die Idee nannte sich somatische Gentherapie und hat bis heute zwar einige Tote aber keinerlei Heilungsverfahren hervorgebracht.

Genauer hinsehen!

Das ist eines der Beispiele, an denen das Menschenbild erkennbar wird, das mit der Gentechnologie engstens verbunden ist: Menschen werden als die Summe ihrer Gene verstanden. Auch da muss man wieder ganz genau hinsehen und -hören. Im Fachdiskurs hat man sich längst von den schematischen Sichtweisen verabschiedet, die "Gene" als feste Abschnitte auf der DNA definieren. Nur noch in bunten Computeranimationen fürs mehr oder weniger bewusst für dumm verkaufte Publikum wird eine Darstellung gewählt, in der man dort Sequenzen herausschneidet, durch neue ersetzt und alles im Griff hat.
Längst ist klar, dass "Gen" bestenfalls ein Konzept ist, ein Satz von Vermutungen darüber, wie bestimmte Erbinformationen funktionieren könnten — "könnten", wissen tut das keiner. Ein "bestimmtes" Gen kodiert keineswegs immer für das gleiche Eiweiß und mal kodieren auch für das gleiche Eiweiß verschiedene "Gene"; Gene sind weder ortsfest (es gibt "springende Gene", die mal hier und mal da sein können) noch gegen andere abgrenzbar (es gibt "eingelagerte Gene", die völlig von einem einzigen anderen Gen umschlossen sind, und "überlappende", die sich mit einem oder mehreren anderen überschneiden). Das Konzept "Gen" umfasst nur 2—5% der DNA, vom Rest wird behauptet, er sei für nichts da, nur evolutionärer Müll, "junk DNA". Man hat eine Vorstellung davon, dass Gene, eventuell sogar das ganze "Genom" bei der Vererbung und den täglichen Körperprozessen interagieren, aber keinerlei Ahnung, wie dies geschieht. Gar mancheR GenetikerIn nimmt für sich in Anspruch, eine "ganzheitliche" Sicht auf den Menschen zu haben.
Aber auch das ist eine Sicht auf ein System. Das System besteht aus Teilen, auch wenn deren Abgrenzung und Funktion unbegriffen ist, aus Material, auf das zugegriffen, das ersetzt, verändert, benutzt werden kann. Das System hat zu funktionieren, tut es das nicht, wird es repariert, misslingt dies, wird es ausgemustert und durch ein besseres ersetzt. Es sind keine Zufälle und auch keine Auswüchse profitgieriger Hirne, wenn Forscher Ersatzorgane in Mensch-Schweine-Chimären oder Reparaturgewebe aus embryonalen Stammzellen oder gar ganze Ersatzteillager als geklonte Embryonen züchten wollen. Das liegt in der Logik der Technologie und ihres Menschenbilds; so wie es in der Logik der Transplantationsmedizin liegt, sog. "Ganzköpertransplantationen" vorzunehmen, d.h. von einem "gesunden" Kopf wird ein "kranker" Körper am Hals abgetrennt und durch einen "gesunden" ersetzt. In den USA gibt es konkrete Vorbereitungen dafür; auch deutsche Forscher wie der Bonner Professor Detlef Linke halten das ethisch für unproblematisch.
Keine Politik, kein gesellschaftlicher Konsens kann, wenn der Weg erst einmal beschritten ist, hier noch sinnvolle, allgemein begründbare und für alle (zumindest fast alle) nachvollziehbare Grenzen setzen. Der nächste Schritt ist immer klein, unterscheidet sich in der Qualität kaum vom vorhergehenden. Die Geschichte der Technologie ist eine unendliche Reihe von kleinen Grenzüberschreitungen — Setzen neuer Grenzen weit in der Ferne und Überschreiten eben dieser, sobald der technische Fortschritt dort angekommen ist.

Tabubruch als Methode

Gentechnologie ist Tabubruch als Methode. Das hängt nicht vom aktuellen kapitalistischen Gebrauch der Technologie ab (obwohl die Möglichkeit, damit reichlich Geld zu verdienen, sicherlich ein starker Anreiz ist), sondern davon, dass die Technologie als solche Körper, Körperstücke und Flüssigkeiten in Material verwandelt. Damit ist die Grenze der Technologie diejenige der technischen Möglichkeiten des Materials.
Wieder bedarf es eines sehr genauen Blicks auf die Konsequenzen dieser Aussage. Es scheint keine besondere Bedeutung zu haben, dass Köperflüssigkeiten wie Blut aus ohnehin genommenen Proben oder Körperteile von Leichen zu wissenschaftlichen Zwecken benutzt wurden. Und lange hatte es das auch nicht. Aber als die Technologie bestimmte Möglichkeiten eröffnete, änderte sich das.
Wieso denn dann nicht "Leiche" neu definieren, wie es das Hirntodkonzept für Sterbende tut, um den Zugriff zu sichern oder wie es viele Wissenschaftler für komatöse, nicht sterbende Menschen fordern? Wieso dann nicht in die Autonomie und körperliche Integrität Nichteinwilligungsfähiger eingreifen, um ihnen ohne Zustimmung und Information Blut zu Forschungszwecken abzunehmen, deren Ergebnisse ihnen nie nützen werden?
So praktiziert über Jahre seitens des Humangenetischen Instituts der Universität Würzburg im Behindertenstift St.Josef in Eisingen. Warum dann nicht Frauen mit finanziellen Anreizen, die für Arme oft wie Zwänge wirken, dazu bewegen, sich der körperlich und psychisch problematischen Prozedur der Eizellspende zu unterziehen? Wenn wir lebende Körper "optimieren", warum dann nicht ungeborene? Warum dann nicht Selektieren in der Petrischale, Qualitäts- und später vielleicht Merkmalskontrolle als erste Hürde auf dem Weg ins Leben?
Ist in so einer Welt Peter Singers Argument nicht nachvollziehbar, dass es vernünftige, für Dritte nachvollziehbare ethische Gründe nicht mehr gibt, warum bestimmte, schwerstbehinderte Babys leben sollten? Ihre Geburt wäre, wäre ihre mangelnde "Qualität" aufgefallen, doch ohnehin verhindert worden. Da ist nicht ein inhumaner, kalter Philosoph wegen seiner Tierliebe einfach durchgeknallt, da hat jemand lediglich die Technologie und die ihr eigene Rationalität konsequent zu Ende gedacht. Körperliche Integrität, individuelle Selbstbestimmung, Schutz der Schwachen, gesellschaftliche Demokratie haben darin so wenig Platz wie ein von Dritten nicht zum Zweck gemachtes Leben.
Utilitaristische Philosophie und technische Machbarkeitsvorstellungen sind legitime Zwillinge: Die Technologie betrachtet ihr Material und — wieder einmal — was damit möglich scheint. Es waren die Heilsversprechen, die die somatische Gentherapie ermöglichten; dass nichts daraus wurde, holt die Technologie nicht wieder zurück. Es sind Heilungshoffnungen, die heute zum Zugriff auf embryonale Stammzellen animieren. Ob je eine einzige Anwendung daraus entstände, weiß niemand.
Dagegen ist die utilitaristische Philosophie konkret und ihre Wirkungen spielen in der Gegenwart: Die Embryonen würden ja ohnehin weggeworfen, also könnten sie auch benützt werden, sagt Ethik-Rambo Clement. Die Wachkoma-Patienten würden vermutlich sowieso sterben, begründeten Ärzte und Ethiker 1997 ihren Vorschlag, diese Menschengruppe verhungern und verdursten zu lassen. Weil das ein zu schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis ist, werden alten Menschen in Großbritannien bestimmte Behandlungen wie z.B. Dialyse nur noch gegen Privatzahlung gewährt. Das scheint zwar nicht alles unmittelbar mit Gentechnologie zu tun zu haben, ist aber logische Folge eines Welt- und Menschenverständnisses, für das der Zugriff auf Ressourcen, genetische Ressourcen eben, zentral ist.
Und dem sich eben deshalb alles, was sich nicht wehrt, unter der Hand auch zur Ressource wird. Dabei ist die Möglichkeit der Patentierung solcher "Ressourcen" wie menschliche Gene, indigenes Wissen, lokale Pflanzensorten in der Tat die kapitalistische Umsetzungspraxis des technisch induzierten Blicks. Die Verwandlung lebendiger Pflanzen, Tiere, Menschen in Ressourcen aber, also etwas unmittelbar und ausschließlich auf die Interessen Dritter hin Definiertes, ist direkter Ausfluss der Technologie. Wer als Problem definiert, dass eine einzelne Pflanzensorte einen bestimmten Ertrag geben muss, für den ist ein Anbausystem, das seinen Nutzern Nahrungssicherheit jenseits von Höchsterträgen garantiert, keine Lösung. Die Elemente dieses Systems sind aber interessant, um ihre einzelnen Eigenschaften in eigene, technische Lösungen einzubauen. Wer als Problem definiert, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu heilen, für den ist eine andere Ernährung keine Lösung, wohl aber sind die Gene widerstandsfähiger Menschengruppen oder wenig belastender Nahrungsmittel Ressourcen.
Auch Wildpflanzen, ja ganze Ökosysteme sind lediglich Ressourcen. Was real heute schon durch Gentechnologie mit ihnen geschieht, ist alles reparabel: Kreuzen gentechnisch hergestellte Eigenschaften aus, findet man technische Lösungen. Geht Vielfalt verloren, stellt man im Labor neue her. Entstehen resistente Schädlinge, schafft man Gegenmittel. Dass solche Entwicklungen sich als nicht rückholbar erweisen könnten — und einige das auch sein werden — ist unübersehbar. Sie müssen also vor ihrem Eintreten verhindert werden. Das geht nur durch den Ausstieg aus der gesamten Technologie. So wie das einzige sichere Atomkraftwerk dasjenige ist, das nicht gebaut wird, ist die einzige in ihrer Wirkung eingrenzbare gentechnologische Anwendung diejenige, die nie stattfindet.

Werner Rätz

Der Autor ist im Bonner Arbeitskreis gegen Gentechnologie aktiv.


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