Sozialistische Zeitung |
So wichtig gesellschaftstheoretische Vorreiter als Lehrer und Identitätsstifter auch sind, ganz so einfach sind sie nicht zu bekommen.
Gerade weil sie Traditionslinien zu stiften vermochten, die sich fast naturhaft alsbald verselbständigten, muss man ihr Erbe immer wieder von neuem jenem
Konformismus entreißen, der aus ihrer späteren Instrumentalisierung entsprang, und "der im Begriff steht, sie [die Überlieferung] zu
überwältigen" (Walter Benjamin).
Das gilt auch für den walisischen Sozialisten und Kulturtheoretiker Raymond Williams, der als
Begründer der "cultural studies" gilt und am 31.August 80 Jahre alt geworden wäre. In der deutschen Szene nie so richtig angekommen und auch
heute entsprechend nur noch wenigen bekannt, gehört er im angelsächsischen Sprachraum zu den ganz großen Namen, an die zu erinnern nicht nur von
nostalgischem Interesse ist.
Als Sohn einer Eisenbahnerfamilie im ländlichen Grenzland von Wales geboren, gehörte
Williams zur ersten Generation von britischen Arbeiterkindern, die es in die höheren Bildungsinstitutionen und ihre Zitadellen Oxford und Cambridge schafften.
Bereits seine ersten Werke zur Kulturgeschichte und Literaturtheorie Anfang der 50er Jahre zeichneten sich durch eine humanistisch-linke Kritik des in den 30ern
vorherrschenden marxistischen Reduktionismus aus. Nach seiner Ausbildung in der Oxforder Erwachsenenbildung tätig, veröffentlichte er Studien zu Ibsen, zur
Geschichte des Dramas und des Films und war Mitherausgeber der Zeitschrift Politics and Letters.
Seinen Durchbruch erlebte Williams Ende der 50er Jahre mit den beiden Büchern Culture and
Society (1972 unter dem Titel Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von Kultur auch auf deutsch erschienen) und Long Revolution
(ein Teil dieses Werks wurde in das zweite auf deutsch vorliegende Buch von Williams aufgenommen, in die 1977 erstmals erschienene und 1983 erneut aufgelegte
Aufsatzsammlung Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kunst).
Im Zentrum dieser Studien stehen die Beziehungen von Kultur, Klasse und Politik und ein neues linkes
Verständnis von Kultur. Kultur wird von Williams nicht mehr wie bis dahin noch üblich vorrangig als literarische Hochkultur, als etwas latent elitäres
verstanden. Kultur ist für ihn vielmehr jene Alltagskultur des in Gemeinschaften ("communities") sich entwickelnden einfachen Menschen, eine
ganzheitliche Lebensweise, die nicht zwischen dem ökonomischen und dem ästhetischen Menschen künstliche Schranken zieht und wesentlich inter-
aktiv strukturiert ist. Williams wandte sich damit gegen ein plattes Basis-Überbau-Denken, öffnete den Blick auf die populäre Kultur und ihre subversiven
Elemente und versteht Kultur als komplexes und historisches Produkt von Kampf, Kommunikation und Verhandlung zwischen herrschenden und subalternen
Klassenkulturen bestimmter Epochen, das eigene, nicht auf den ökonomischen Determinismus zu reduzierende Beharrungskräfte aufweise.
Williams nahm damit nicht nur die Bedeutung kultureller Prozesse bei historischen
Übergängen ins Visier seiner materialistischen Kulturwissenschaft. Auch und gerade in der zeitgenössischen Gegenwart hielt er emanzipative
Gesellschaftsveränderungen für nicht nur nicht möglich, sondern für nicht einmal denkbar, wenn sie nicht mit lang andauernden kulturellen
Kämpfen und Neubestimmungen einher gehen.
Raymond Williams Betonung kulturrevolutionärer Prozesse spiegelt nicht nur die
Erfahrungen des Übergangs zum sozialstaatlichen Konsumkapitalismus. Er wurde mit seinem neuen Verständnis auch zum Stichwortgeber einer nach 1956 sich
weltweit entfaltenden Neuen Linken, die nicht nur die Erstarrungen der reformistischen und stalinistischen Linken zu überwinden versuchte, sondern auch jenen
spätbürgerlichen Individualismus angriff, der sich in der Feier seines warenförmiges Monadendasein so auserwählt fühlt. Er hatte ein feines
Gespür für diesen bürgerlichen Individualismus auch in Fragen der wissenschaftlichen Methodik. Seine Klassenerfahrung war ihm nur allzu
präsent, um nicht zu verstehen, dass Individuen Teile einer Gemeinschaft ("community") sind und dem proletarischen Milieu ein spezifischer
Kollektivismus eigen ist, ohne den eine Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung kaum möglich sein wird. Daher auch seine Betonung der
(radikal-)demokratischen Volkskulturen und ihrer kulturellen Bedeutung. Daher auch sein lebenslanges persönliches Engagement in politischen Basisbewegungen
in den 50ern und 60ern innerhalb der Neuen Linken, in den 70ern in walisischen und ökosozialistischen Zusammenhängen, in den 80ern bspw.
zugunsten der großen Bergarbeiterstreiks. 1967 veröffentlichte er zusammen mit Edward P. Thompson und Stuart Hall das May-Day-Manifesto, eine
Streitschrift zum 1.Mai, in der die Autoren mit der sozialdemokratischen Labourregierung abrechnen und deren technokratisches Gesellschaftsdenken angreifen, dem die
allseits im Munde geführte Modernisierung bloßes technisches Mittel ist, mit der Vergangenheit zu brechen, ohne jedoch Zukunft wirklich zu gestalten. Gegen
diese technokratische Fortschrittsgläubigkeit und den daraus entspringenden Kult der Zukunft beschworen sie u.a. die Traditionen der romantischen Kritik der
industriell-kapitalistischen Zivilisation, verstanden dies jedoch nicht im Sinne einer Rückkehr in die vorkapitalistische Vergangenheit, sondern als mentale Kraftquelle
für die Kämpfe um eine nachkapitalistische Zukunft.
Es ging Williams zeitlebens um eine Überwindung der kapitalistischen Industriekultur zugunsten
radikaldemokratischer und undogmatisch-sozialistischer Kulturen und Bewegungen. In den 70ern brachte dies auch ihm den (heute so populären) Vorwurf des
Populismus ein. Er parierte diesen Vorwurf 1976 souverän: "Mit den vorhandenen Ressourcen leben; neue Möglichkeiten zu lernen und vielleicht zu
lehren; die Widersprüche leben und die aufgezwungenen Optionen, so dass es, anstatt sie zu denunzieren oder abzuschreiben, eine Aussicht gibt, sie zu verstehen und
in die andere Richtung anzutippen: Wenn diese Dinge Populismus sind, ist es richtig, dass sich die britische Linke, inklusive der meisten Marxisten, dazu bekennt."
1961 zum Universitätsprofessor in Cambridge gekürt, dehnte Williams seine
kulturmaterialistischen Studien zunehmend auf die neuen Formen der Massenkultur, auf TV, Kino, Zeitungen und Werbung aus. Er radikalisierte sich in den 60ern politisch
und theoretisch, öffnete sich jenen undogmatischen marxistischen Theorietraditionen, die die neue sozialistische Linke damals wieder entdeckte. In seinem Werk
mischen sich realistische und modernistische Einflüsse ebenso wie er bestimmte Trends vorweg nahm, ohne sich ihnen zu ergeben. So sehr er sich bspw. in den 80ern
postmodernen Themen wie Raum und Differenz öffnete, sein letzter großer Kampf galt gleichzeitig dem mit diesen Strömungen verbundenen neuen
Konformismus. Und es ist kein Zufall, dass er als den methodischen und theoretischen Kern dieses neuen Konformismus jenen neoliberalen Individualismus ausmachte, der
in Zeiten des marktradikalen Thatcherismus auch Teile der Linken erfasste.
Verstand Williams seine "cultural studies" als Materialisierung einer Selbstemanzipation der
lohnarbeitenden Klasse, als Demokratisierung und Politisierung, als Ablösung elitärer Kulturkritik, so kehrte just diese wieder in einer akademisch
institutionalisierten Kulturwissenschaft, die mit den politischen und sozialen Kämpfen ihrer Zeit nichts mehr anzufangen wußte, die Popkultur nicht als
Bereicherung einer sozialistischen Linken, sondern als deren Ablösung feierte.
Hatte der "kommunistische" Dogmatismus Kultur nur als politisches Instrument der
Generallinie anerkannt und die Dialektik von Allgemeinem und Individuellem ignoriert, so schlug nun die gerade auch von Williams wesentlich mitbegründete
Revolte dagegen in den postmodernen Kulturalismus um, der Politik gänzlich in Kultur auflöst. Das dies nicht zwangsläufig so sein muss, auch
dafür stehen Leben und Werk des im Januar 1988 gestorbenen Raymond Williams.
Christoph Jünke
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