Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 13.09.2001, Seite 5

Tarifabschluss VW

Unternehmerisches Risiko für Beschäftigte

Der Tarifabschluss bei Volkswagen über die Einrichtung einer neuen Fabrik, aber auch das Krisenprogramm "Olympia" für die General- Motors-Gruppe Europa zeigt, wohin die Entwicklung in der Automobilindustrie gehen soll. Dass schon ein relativ gut dastehendes Unternehmen wie VW mit diesem Einbruch in die Tariflandschaft Erfolg hat, zeigt, dass sich die Beschäftigten auf harte Auseinandersetzungen gefasst machen müssen. Im Folgenden bringen wir einen aktualisierten und leicht gekürzten Artikel zum Tarifabschluss bei VW von Tom Adler, Betriebsrat bei DaimlerChrysler in Stuttgart, der vor dem Abschluss in Sozialismus erschien und jetzt in der schweizerischen Wochenzeitung WoZ abgedruckt wurde.
Am 29.August einigten sich die IG Metall und der Vorstand von VW auf einen Tarifvertrag über die Bedingungen der Produktion eines neuen Minivan in Wolfsburg, ein Thema, das seit Monaten als Projekt "5000 x 5000" Furore gemacht hat. Als "wegweisend" bezeichnete Bundeskanzler Gerhard Schröder die Einigung und erklärte, "andere Unternehmen und Gewerkschaften sind nun aufgefordert, dem Beispiel zu folgen und ähnlich innovative Lösungen zu schaffen".

Radikalisierung des Konkurrenzkampfs

Die warme Empfehlung dieses Modells durch den Auto-Kanzler stößt unter Gewerkschaftern jedoch durchaus nicht einhellig auf Zustimmung. Führt es doch, verglichen mit den Standards in den andern deutschen VW-Werken, zu deutlichen Lohnsenkungen, Arbeitszeitverlängerung und einer Institutionalisierung des management by stress für die künftigen Arbeiter in der neu gegründeten "Auto 5000 GmbH". Und das ganze mit einer Quasi-Unbedenklichkeitsbescheinigung durch einen Tarifvertrag.
Unüberbrückbar schienen die unterschiedlichen Positionen Ende Juni zu sein, als die Verhandlungen zwischen IG Metall und VW-Vorstand über das Projekt "5000 x 5000" für gescheitert erklärt worden waren. Die öffentlichen Reaktionen darauf waren heftig und hätten unterschiedlicher nicht sein können. Politik und Medien schimpften im Namen von Tausenden Arbeitslosen erwartungsgemäß über die angebliche Blockade des zukunftweisenden Projekts durch den Vorstand der IG Metall, namentlich Klaus Zwickel. Gewerkschaftlich orientierte Arbeitsloseninitiativen bspw. unterstützten dagegen Zwickels Position und wiesen öffentlich die Instrumentalisierung der Erwerbslosen für Tarifdumping zurück.
Für die zweite Verhandlungsrunde hatten sich die Verhandlungsführer der Gewerkschaft selbst zum "erfolgreichen" Abschluss der Verhandlungen verdammt — was auch immer "erfolgreich" dann bedeuten sollte. "Mehr als nur einen Blechschaden" für die IG Metall und die Beschäftigten in der Autoindustrie sah hingegen Jörg Hofmann in der Frankfurter Rundschau vom 8.6.2001.

Ziel: Arbeiten ohne Ende

Ausgangspunkt für das VW-Konzept ist das inzwischen allgegenwärtige Profitcenter-Prinzip, nachdem jeder Betrieb, ja jeder Fertigungsbereich für sich allein maximalen Profit abzuwerfen hat. Mischkalkulationen auf Konzern — bzw. Werksebene soll es nicht mehr geben.
Die ab Herbst 2002 geplante Produktion eines "Mini-Van" in Wolfsburg und eventuell eines "Micro- Bus" in Hannover müsse deshalb, so VW, genauso billig und profitabel werden wie am Produktionsstandort Portugal. Deshalb wurde bereits 1999 angekündigt, dass dies nicht zu den Konditionen des VW-Haustarifvertrags, sondern durch Ausgründung in eine eigenständige GmbH mit deutlich niedrigeren Standards für die Beschäftigten geplant werde. Dieses Ziel hat der VW-Vorstand erreicht: Laut VW-Verhandlungsführer Josef-Fidelis Senn spart das Unternehmen mehr als 20% im Vergleich zum VW-Haustarif ein.
Die Arbeitszeit soll sich ausschließlich an wechselnden Bedürfnissen der Produktion orientieren, d.h. vom jeweils aktuellen Auftragsvolumen und der aktuell notwendigen Arbeitszeit zur Produktion des jeweils geforderten Programms bestimmt werden. "Zumutbar" solle jede Arbeitszeit werden zwischen null und der gesetzlichen Obergrenze von 48 Stunden pro Woche, meinte VW-Vorstand Peter Harz.
Diese unternehmerischen Tagträume waren selbst in Wolfsburg nicht durchsetzbar, doch das letztlich vereinbarte Arbeitszeitmodell ist so flexibel, dass es Unternehmerherzen höher schlagen läßt. Gearbeitet werden soll in 3 Schichten an bis zu 6 Tagen, von Sonntag Nacht bis Samstag Nachmittag. An bis zu 30 Samstagen pro Jahr darf VW sogar in der Spätschicht über die Belegschaft verfügen. Ist all das immer noch nicht flexibel genug, erlaubt der Tarifvertrag die Vereinbarung weiterer betrieblicher Arbeitszeitflexibilisierung.
Die wöchentliche Arbeitszeit soll im Jahresdurchschnitt bei 35 Stunden liegen, also offenbar konform gehen mit den bisher gültigen Tarifverträgen. In der einzelnen Woche sind jedoch bis zu 42 Stunden möglich. Und von 3 Stunden geplanter wöchentlicher Qualifizierungszeit muss VW nur die Hälfte bezahlen, was unterm Strich heißt: Verlängerung der Arbeitszeit. Vor nicht allzulanger Zeit hatten Belegschaften der Autoindustrie solche Vorschläge als "Horrorkataloge" abgewehrt.

Lohnsenkung und neues Lohnsystem

Man kommt um die Feststellung nicht herum: mit der öffentlichen Präsentation der magischen "35" als Wochenarbeitszeit hat die IG Metall vielleicht vordergründig Gesicht wahren können. In der Realität werden mit "5000 x 5000" Jahre, nein: Jahrzehnte arbeitszeitpolitischer Erfolge der IG Metall geschliffen und ausgehöhlt.
Nachdem VW bereits 1999 erklärt hatte, dass der Haustarif der VW-Werke in der neuen Produktion nicht gelten solle, war absehbar, dass es zuallererst um Lohnsenkung gehen sollte. Tatsächlich bedeutet der Einheitslohn von 5000 Mark (4500 Mark pro Monat plus 500 Mark Bonus) eine massive Lohnsenkung um ca. 40% gegenüber dem heutigen VW-Niveau. Dass diese Lohnsenkung eine Abwärtsspirale für die VW-Standorte mit Haustarifvertrag und die gesamte Branche in Gang setzen würde und auch soll, versteht sich von selbst.
Die umwälzende Wirkung auf die bisherigen Grundsätze und Niveaus der Tarifpolitik soll darüber hinaus durch die Verbindung von Fabrikkonzept und Arbeitszeitmodell mit einem neuen Lohnsystem entstehen. Das sogenannten Programm-Entgelt, schon eines der Kernstücke des ursprünglichen "5000 x 5000"-Modells, ist nun tarifvertraglich vereinbart.
Bezahlt wird für die garantierte Ablieferung des jeweils vom Unternehmen geforderten Produktionsprogramms, also nicht für eine definierte Anzahl Arbeitsstunden pro Woche oder Monat. Praktisch heißt das: wenn wegen Maschinen- und Ablaufstörungen, Qualitätsproblemen o.ä. bei Schichtende nicht die geforderte Menge Autos montiert ist, müssen die Beschäftigten "nachsitzen". Und zwar ohne Bezahlung, wenn die Ausfälle nicht nachweislich vom Unternehmen zu verantworten sind.
Das unternehmerische Risiko, ob in der "normalen" Schichtzeit die gewünschten Produktionszahlen immer möglich sind, wird so auf die Beschäftigten abgewälzt. Insofern ist dieses Konzept die perfekte Ergänzung der Ziele von "Modular-Produktion" bzw. "Lieferantenpark": Dort werden Kapitalkosten und Risiko auf die Zulieferbetriebe, hier Restrisiken aus der verbliebenen Produktion in der eigenen Fabrik auf den "Arbeitskraftunternehmer" abgewälzt — gegen 5000 Mark im Monat. Auch dies ist ein großer Erfolg für VW, der Unternehmer zur Nachahmung einladen wird.

Quo vadis, IG Metall?

…fragte IG-Metall-Sekretär Jörg Hofmann in seinem Beitrag in der Frankfurter Rundschau und stellte fest, dass die IG Metall beim Thema "5000 x 5000" am Scheideweg mit gravierenden Folgen für die Beschäftigten in ihrem Organisationsbereich steht. Selbst die Financial Times Deutschland bilanzierte nach den gescheiterten ersten Verhandlungen zutreffend: "VW-Personalchef Peter Harz wollte in Deutschland die Löhne senken … Ein Feldversuch, von dem eine ungeheure Signalwirkung hätte ausgehen können", und zeigte Verständnis für die damalige Position der IG Metall.
"Offen für eine Weiterentwicklung … in den Bereichen Arbeitsorganisation, Qualifizierung, Leistungs- und Personalbemessung sowie Mitbestimmungsrecht", sei die IG Metall, sagte der Hannoveraner Bezirksleiter Hartmut Meine vor der Wiederaufnahme der Verhandlungen. Weiterentwicklung wohin, war damals schon die bange Frage an Hartmut Meine, und das Ergebnis bestätigt: "Weiterentwicklung" ist heute ein ebenso vernebelnder Begriff wie "Reform" geworden.
Setzt die Absenkung der Löhne vom VW-Haustarif auf Flächentarifvertragsniveau etwa keine Spirale nach unten für die anderen Werke in Gang? Zwar ist nicht jedes Detail des "5000 x 5000"-Vertrags unbesehen auf andere Betriebe, auch der Autoindustrie, übertragbar. Die eigentliche Bedeutung ist das politische Signal.
Die Taz, den wirtschaftsliberalen deutschen Grünen eng verbunden, hat es formuliert: "die vergleichsweise privilegierten traditionellen VW-Werker können nicht mehr der Maßstab sein, wenn es um die Schaffung neuer Jobs geht. Das genau ist die Botschaft des neuen VW- Kompromisses: Manchmal muss man sich eben nach unter orientieren."
Die IG Metall am Scheideweg hat sich statt für offensive Auseinandersetzung für "Gesichtswahrung bei Funktionsverlust" entschieden. Wohin diese Art von Politik letztlich führt, hat Detlef Hensche, der letzte Vorsitzende der in ver.di aufgegangenen IG Medien, einmal auf den Punkt gebracht: Eine solche Gewerkschaft drohe, nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems zu sein.
Doch die von vielen Gewerkschaftern geforderten Lohnerhöhungen und ein Ende der Bescheidenheit werden nicht ohne Konflikt zu haben sein. Und der ist und bleibt das Lebenselixier jeder Gewerkschaft, die mehr sein will als ein Ordnungsfaktor zur Sicherung der Konkurrenzfähigkeit deutscher Konzerne auf dem Weltmarkt.

Tom Adler

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