Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 13.09.2001, Seite 6

Bayer: Lipobay-Skandal

Nicht an Symptomen herumdoktern

Der Skandal um den Cholesterinsenker Lipobay der Bayer AG gibt Anlass, verschiedene Aspekte der bundesdeutschen oder auch weltweiten Pharmapolitik zu hinterfragen. Zur Erinnerung: Bayer hatte das Medikament am 8.August vom Markt genommen, nachdem es mit mehreren Todesfällen in Zusammenhang gebracht wurde.
Als Lipobay 1998 zum ersten Mal angeboten wurde, gab es in vielen Ländern schon fünf andere Lipidsenker (Senker von Blutfetten) der gleichen Substanzklasse (Statine). Um auf dem Markt Fuß fassen zu können, wurde es aggressiv beworben. In dem Informationsmaterial der Pharmavertreter, die die Ärze über die Produkte unterrichten, wurde der Eindruck erweckt, Lipobay sei besser als andere Mittel, die geringere zu verabreichende Dosis sei der Beweis. Die Nebenwirkungen wurden unterbelichtet. Mit der Zeit wurden allerdings immer höhere Dosen des Arzneimittels angeboten. Schließlich mussten die ehrgeizigen Umsatz- und Gewinnziele, die den Aktionären versprochen und der Belegschaft in Zielvereinbarungen aufgedrückt wurden, ja irgendwie erreicht werden. Im vergangenen Jahr gab die Bereichsleitung vor, den Umsatz von Lipobay zu verdoppeln. 2001 sollte er mit "Power auf über eine Milliarde DM gepusht werden". Ärzten winkte bei einer bestimmten Verschreibungsquote eine Fahrt mit dem Orientexpress.

Mehr Index als Ethik

Höhere Dosis, mehr Nebenwirkungen, das Unheil nahm seinen Lauf. Bayer wollte selbst noch die fällige Rücknahme des Produkts werbewirksam verkaufen. Patientenansprüche wurden dennoch von der ersten Minute an als unbegründet zurückgewiesen. Dies ist angeblich kein Widerspruch zu der kurz vorher erfolgten Aufnahme in den sogenannten Ethik-Index oder der viel propagierten Initiative der Chemieindustrie "Responsible Care".
In einem internationalen Presseauftritt gab die Konzernleitung die Rücknahme von Lipobay bekannt und sprach gleichzeitig eine Gewinnwarnung an die Aktionäre aus. Um deren aufgebrachte Gemüter zu beruhigen, stellte sie weltweit den Abbau von 4000—5000 Arbeitsplätzen in Aussicht. Darüber hinaus kündigte sie an, die Pharmastrategie des Konzerns grundsätzlich zu überdenken. Anstelle des bisherigen Viersäulenkonzepts (Gesundheit, Polymere, Chemie und Landwirtschaft) soll ein "Strauss von Möglichkeiten" treten.
Seitdem reißen die Gerüchte nicht ab. Könnte der Pharma-Bereich fusionieren oder sogar verkauft werden? Mögliche Partner und Käufer finden sich in den nicht enden wollenden Ergüssen der Analysten. Die Hauptsorge gilt eben nicht den möglicherweise durch das Medikament Geschädigten. Der Aktienkurs ist von weit größerem Interesse. Folgerichtig dürfen in diesem unserem Lande nicht einmal die Ärzte oder Patienten vor den Aktionären über ein solches Desaster unterrichtet werden.
Die Bayer-Aktie fiel beträchtlich. Das traf auch den Teil der Beschäftigten, der wenige Tage vorher das jährliche Aktienangebot der Firma wahrgenommen hatte. Die ca. 120 Beschäftigten der Wirkstoffproduktion in Wuppertal, die sofort abgeschaltet worden war, stehen von einem Tag auf den anderen ohne Arbeitsplatz da. Keiner wird entlassen. Der Personalabbau geschieht durch Vorruhestand und Versetzung in andere Werke und Bereiche.
Ob das alles zur Zufriedenheit der Betroffenen abgewickelt werden kann, ist noch unklar. Die Beschäftigten können nur hoffen, dass die viel gepriesene Standortvereinbarung, wonach sie in einen Pool abgegeben und mit weniger Geld versetzt werden könnten, nicht zur Anwendung kommt. Konsequenzen für das Management sind nicht erkennbar. Vielleicht wird die Pharmaleitung ja bei einer möglichen Fusion entsorgt.
Die Bayer AG sieht sich als Opfer eines Komplotts: Die Presse richte ein deutsches Unternehmen zu Grunde, andere Mittel seien viel schädlicher, und überhaupt — warum haben die Ärzte nicht besser den Beipackzettel gelesen, in dem die Nebenwirkungen erwähnt waren? Nun, da das eigene Ansehen beschädigt wurde, empört man sich weinerlich und scheinheilig über die kapitalistische Praxis, Konkurrenten auszustechen, klein zu kriegen, kaputtzumachen.
Wie nicht anders zu erwarten, hatte Bayer aber auch eine verlässliche Verbündete. Die IG BCE stand dem Unternehmen auch in diesen schweren Stunden bedingungslos zur Seite, hieß alles gut, was es getan und unterlassen hat, und betonte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass der Fall Lipobay keine prinzipiellen Fragen aufwerfe.
Auch der vereinbarte Kauf der Aventis Crop Science (ehemals Pflanzenschutz Hoechst), der massenhaft Standorte und Arbeitsplätze kosten und durch die Pflanzengenetik nur noch zusätzliches Risiko bedeuten wird, findet die ungeteilte Zustimmung der IG BCE. Hauptsache, die Aufsichtsratsposten sind gesichert.

Gesellschaftliche Diskussion nötig

Das Lipobay-Desaster sollte Anlass sein, Grundsätze und Stilblüten der derzeitigen Pharmapolitik zu durchleuchten. Nachdem die Proteste abgeebbt sind, darf nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden. Neben der Verantwortung des Herstellers muss auch die Verantwortung der Ärzte gesehen werden, die sich von Pharmafirmen sponsern und auf Urlaubsreisen oder Scheinkongresse schicken lassen.
Der Werbeetat der Pharmaindustrie hat ihren Etat für Forschung und Entwicklung schon lange übertroffen. Die eigentliche Innovation findet im Marketing und nicht in den Laboren statt. Wie kann eine Arzneimittelbehörde wirksam sein, die sich in erster Linie auf die Angaben der Hersteller stützt?
An Lipobay wird klar, dass es gesellschaftlich unsinnig war, den schon vorhandenen Produkten zur Cholesterinsenkung noch ein weiteres hinzuzufügen. Es gibt aber auch Stimmen und Studien, die sogar grundsätzlich in Frage stellen, dass die Senkung von Cholesterin überhaupt den versprochenen Effekt zur Verhinderung von Herzinfarkten und Schlaganfällen hat. Eine neuere Studie weist nach, dass für ältere Menschen ein niedriger Cholesterinspiegel sogar riskanter ist.
Wie auch auf anderen Gebieten stellt sich die Frage, ob der leichte Griff zum Medikament nicht eine falsche Lebensführung begünstigt, indem man einem falschen oder zu üppigen Essen eine Pille zur Reparatur hinterher schiebt, in der Annahme, sie werde es schon richten, statt sich aufs Fahrrad zu setzen oder weniger und bekömmlicher zu essen. Ein Problem, das es natürlich nur in den "Wohlstandsländern" gibt.
Richtig ist, auch andere Pharmafirmen ziehen Produkte zurück, ohne dass es zu solch einem Aufschrei in der Öffentlichkeit kommt. Richtig ist auch, dass viele auf dem Markt befindliche Mittel ebenfalls wenn nicht mehr ernste Nebenwirkungen haben. Das entbindet Bayer aber nicht von der Verantwortung für das eigene Produkt.
Deshalb darf man in der jetzt ausgebrochenen Debatte nicht nur an den Symptomen herumdoktern. Wichtig wäre eine grundsätzliche Diskussion über Risiken und Nutzen von Arzneimitteln, die Pharmapolitik und über mögliche Alternativen, sowohl bei den Arzneimitteln selbst als auch bezüglich des Ersatzes von Arzneimitteln durch andere Gesundheitsmaßnahmen.
Wenn diese Diskussion nicht geführt wird, wird sich an dem beschriebenen Problemen und dem makabren Widerspruch, dass für einen großen Teil der Menschheit erschwingliche Medikamente gegen Epidemien fehlen, während die Länder des Nordens Milliarden für Forschung, Entwicklung und Vermarktung von Arzneimitteln gegen "Zivilisationskrankheiten" ausgeben, die zudem noch mehr Schaden als Nutzen anrichten, nichts ändern.

Gerd Gabriel

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