Sozialistische Zeitung |
Nach der gescheiterten "Millenniums-Runde" vor zwei Jahren in Seattle treffen sich vom 9. bis 11.November die Finanzminister der
Welthandelsorganisation (WTO) diesmal in der Wüste in Qatar. Das ist eines der Vereinigten Arabischen Emirate am Persischen Golf, dessen reaktionäre feudale Gesellschafts- und
Staatsordnung erlaubt, sich unliebsame Demonstrierende vom Hals zu halten. Wer keine Akkreditierung für die Tagung vorzuweisen hat, darf nicht einmal einreisen.
Was die Minister der 142 Mitgliedstaaten dort bereden, ist nicht weniger reaktionär. Es geht um nichts geringeres als die
Aushebelung der parlamentarischen Befugnisse der Einzelstaaten, die Qualität und den Umfang an staatlich garantiertem sozialem Schutz, Umweltstandards und Bildungsniveau selber
festlegen zu können. Ein Hauptpunkt auf der Tagesordnung ist die Verabschiedung des Abkommens über Handel und Dienstleistungen (GATS General Agreement on Trade
and Services, siehe S.8), das privaten Konzernen die Bereiche Gesundheit und Bildung für private Kapitalanlagen öffnet und Staaten verbietet, ihnen "nicht notwendige"
Auflagen zu machen. Eine solche "nichtnotwendige Auflage" war z.B. das Lebensmittelrecht der EU, auf dessen Basis das Verbot der Einfuhr von hormonbehandeltem Rindfleisch
aus den USA und Kanada verfügt wurde.
Wenn das Abkommen durchkommt, können Privatunternehmen bisherige Standards in jeder Hinsicht durchbrechen; und
wenn dies nationalen Gesetzen widerspricht, ist es dennoch legal, weil die WTO eine zu den einzelstaatlichen und bisherigen internationalen Institutionen parallele Legalität
eingeführt hat: ihre Abkommen, ihre Geheimabkommen und ihre eigene Schiedsbarkeit, die keinem anderen Gericht unterworfen ist. Dieses regelt Streitigkeiten zwischen den
Mitgliedsländern. Von Fall zu Fall bestimmt es ein dreiköpfiges Gremium, auf dessen Zusammensetzung die streitenden Parteien keinen Einfluss haben und der sie auch nicht
widersprechen dürfen, das sein Urteil in geheimer Sitzung fällt, wobei die Stellungnahmen der Richtenden anonym bleiben.
Unternehmerverbände und Regierungen beeilen sich, ihre Harmlosigkeit und ihre wohltuende Wirkung zu unterstreichen.
So erklärte der BDI-Chef Rogowski in einer Stellungnahme im März dieses Jahres, der "Abbau von Handelshemmnissen, Nichtdiskriminierung und Transparenz
Prinzipien, nach denen sich der Welthandel richten sollte [würden dadurch] einklagbar". Arme wie reiche Länder könnten gleichermaßen das
Schiedsgericht anrufen das Gesetz des Stärkeren würde somit "durch klare Normen und Regeln abgelöst". "Jeder, der die WTO in Frage stellt,
sollte sich vorher gut überlegen, wie die internationalen Wirtschaftsbeziehungen ohne dieses Regelwerk aussehen würden."
Nun, bislang ist die Welt gut ohne ein solches Regelwerk ausgekommen. Und was wir von der Wirkungsweise seiner
Vorläufer (z.B. NAFTA) bekannt ist, gibt Anlass zu schlimmsten Befürchtungen.
Die WTO ist eine Geheimorganisation. Sie tagt hinter verschlossenen Türen. Die Dokumente, über die sie
entscheidet, bleiben bis zum letzten Augenblick geheim. Die Presse kann nicht mehr bringen als die dürren Stellungnahmen, die für die Öffentlichkeit zugelassen sind. Weder
Gewerkschaften, noch NGOs noch Verbraucherorganisationen sind zu ihren regulären Sitzungen zugelassen.
Die WTO reklamiert für sich das Aufgabenfeld "Regelung des Welthandels". Darunter fällt so gut wie
jeder wirtschaftliche, soziale und politische Aspekt unseres Lebens, weil es nach neoliberaler Dogmatik keinen Bereich geben kann, der nicht nach dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen
Nutzens für den Einzelnen zu ordnen ist.
Der Rat der Handels- und Finanzminister ist ihr höchstes Organ; er muss mindestens einmal alle zwei Jahre
zusammentreten. In der Zwischenzeit regieren die WTO-Bürokraten in Genf, die keinem Parlament rechenschaftspflichtig sind und nicht einmal über die Verhandlungen, die sie
führen, informieren müssen. Hingegen stehen sie in engem Kontakt zu den Wirtschaftslobbies. Die Internationale Handelskammer rühmt sich eines beispiellosen Einflusses
auf die Verhandlungen der WTO.
Die sensibelsten Fragen werden auf "informellen Treffen" behandelt. Die Länder des Südens werden
dazu nicht eingeladen, höchstens handverlesen. Termine und Inhalte der Verhandlungen werden von den sog. "Quad" festlegt: USA, Kanada, EU und Japan, anders gesagt, die
reichen Länder. Die Finanz- und Außenhandelsminister unterhalten beim Sitz der WTO in Genf sog. "Botschafter", anders als bei Außenministern unterliegen
ihre Entscheidungen aber niemals einer öffentlichen Debatte oder einem Parlamentsbeschluss. Im Fall der EU ist es noch krasser, weil hier der EU-Außenhandelskommissar (derzeit
Pascal Lamy) für die 15 EU-Staaten bei der WTO verhandelt.
Die WTO ist keine Organisation der UNO anders als IWF und Weltbank, die autonome Institute der Vereinten
Nationen sind; sie ist deshalb auch nicht ihren Regeln unterworfen. Tatsächlich wurde sie in offener Brüskierung der Vereinten Nationen an diesen vorbei gegründet: Die
letzte GATT-Runde (die achte Runde der UN-Zoll- und Handelsorganisation) hat in jahrelangen Verhandlungen und hinter verschlossenen Türen eine neue Organisation aus der Taufe
gehoben, die den Welthandel an der UN und an den nationalen Parlamenten vorbei regeln sollte.
Das internationale Vertragswerk sieht vor, dass jede neue internationale Organisation der Beratung und Koordination mit UN-
Organisationen bedarf. Zur Unterschrift unter den Vertrag von Marrakesh im April 1994 aber wurde der damalige UN-Generalsekretär, Boutros-Ghali, nur als "Beobachter"
geladen, was zu erheblichen diplomatischen Verwicklungen führte.
Seit Beginn ihrer Tätigkeit am 1.1.1995 hat die WTO die für Industrie und Handel zuständigen UN-
Organisationen an den Rand gedrängt und ihrer gesetzlichen Befugnisse beraubt: ILO (UN-Arbeitsorganisation), CNUCED (UN-Konferenz über Wirtschaft, Handel und
Entwicklung) u.a. Alles, was mit Handel zu tun hat, von Autorenrechten bis zum Lebensmittelrecht, maßt sich die WTO als ihren ausschließlichen Geschäftsbereich an.
Gleichzeitig hat die WTO dafür Sorge getragen, dass die UN-Organisationen, die direkt mit Kreditvergabe und
Projektfinanzierung zu tun haben, nämlich der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank (WB), ihre Kriterien übernehmen und in eine enge Zusammenarbeit
mit ihr eingebunden sind. Ihr "Rat zur Evaluierung der Handelspolitik" (der Mitgliedstaaten) setzt sich zusammen aus Mitgliedern der WTO, des IWF und der WB. Damit hat das
Dreigestirn eine ungeahnte Macht über die makroökonomischen Entscheidungen des größten Teils der Weltbevölkerung China und Russland sind als
einzige nennenswerte Blöcke bisher nicht Mitglied der WTO.
Unter dem Label der Regulierung des Welthandels definiert die WTO all die Instrumente, die der Deregulierung der für
Industrie und Handel wesentlichen Gesetzes- und Regelwerke dienen: das Arbeitsrecht, die sozialen Sicherungssysteme, die Gesundheitsversorgung, der Umweltschutz. Unter ihrer Ägide
wurden Lebewesen und künstlerische Produktion zu Waren erklärt; sie treibt die Privatisierung der oben genannten Bereiche voran und beraubt die Bürger damit ihrer
elementaren und unveräusserlichen sozialen Rechte.
Unter diesen Bedingungen kann auch ein bedeutendes Wirtschaftswachstum nicht mehr zu einer Verbesserung der
Lebensverhältnisse aller führen (was die Grundannahme einer keynesianischen Wirtschaftspolitik ist). An die Stelle erklärter wirtschaftspolitischer Ziele wie
Vollbeschäftigung in den Ländern des Nordens oder selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern des Südens ist jetzt die Armutsbekämpfung
getreten, die nicht mehr anstrebt als repressive Fürsorge für einen wachsenden Teil der Menschheit, der nach der Profitlogik der Konzerne überflüssig ist und
bestenfalls ausgehalten, schlimmerenfalls sich selbst überlassen oder auch vernichtet wird (z.B. durch Hunger und Krieg). Selbstverständlich ist in dieser Weltordnung eine noch so
bescheidene Umverteilung von Reichtum z.B. durch Lohnverhandlungen ausgeschlossen.
Die Industrie, die Regierungen und die WTO selbst wissen um ihre Angreifbarkeit und sind bemüht, sich den Anschein
zu geben, als suchten sie den Dialog mit der sog. "Zivilgesellschaft". Dazu gehört z.B., dass auch 647 sog. NGOs nach Qatar eingeladen sind natürlich nur
handverlesene. Man kann nicht behaupten, hier werde die Seite der Betroffenen an einen Verhandlungstisch gebeten. Die Mehrzahl der NGOs stellen Wirtschaftsverbände; nur 256 von
ihnen sind nichtkommerzielle NGOs (dazu zählen z.B. die Gewerkschaften), und von diesen kommen nur 74 aus dem Süden. Wahrscheinlich meint der BDI diese Vermummung
der Unternehmer als "NGO", wenn er in einem Diskussionspapier erklärt, er wolle in Zukunft die Techniken der NGOs kopieren und eigene Kampagnen durchführen.
Es sammele aber auch Informationen über Mitglieder, Finanzierung und innere Struktur der Initiativen.
Um auf die Spezialisierung der Kritiker besser reagieren zu können, soll ein Expertennetzwerk mit
Unternehmensvertretern aufgebaut werden; dieses soll besonders auf europäischer Ebene aktiv werden und verstärkt das Gespräch mit Politikern und EU-Beamten suchen.
Die interne Kommunikation soll mittels E-Mail-Verteilern gewährleistet und somit ebenfalls den NGOs abgeschaut werden. Zweck des Dialogs ist es, "den Kritikern der
Globalisierung den Wind aus den Segeln zu nehmen".
Eine wirkliche Dialogbereitschaft mit den "Kritikern der Globalisierung" lässt sich bisher jedoch nicht
erkennen. Zwar gestehen IWF, WB, Unternehmerverbänden und Regierungsvertreter immer wieder zu, dass die Kritiker "der Sache nach Recht haben" (so der italienischen
Außenminister und erste Generalsekretär der WTO, Renato Ruggiero, aber auch Vertreter der Weltbank). Zwar haben die Proteste in Genua erreicht, dass die Tobinsteuer nun auf
der Tagesordnung der Wirtschafts- und Finanzminister der EU am 20. und 21.9. in Lüttich steht. Aber die Finanzminister der G8 haben schon im Juli erklärt, dass von ihrer
Einführung keine Rede sein kann.
In Genua sprachen Knüppel statt Argumente und während der Dialog nur beteuert wird, ist die
Kriminalisierungskampagne gegen die kapitalismuskritischen Teile der Bewegung sehr real, und ihre polizeistaatliche Verfolgung schreitet mit großen Schritten voran.
Angela Klein
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