Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 13.09.2001, Seite 9

Sozialklauseln und Verhaltenskodizes

Kontrolle statt Vertrauen

Mit der kommenden Ministertagung der Welthandelsorganisation (WTO) und der anschließend geplanten neuen Verhandlungsrunde Anfang November in Katar wird auch der Streit um Sozial- und Umweltschutzstandards in dieser mächtigen Institution neu entbrennen. Die Frontstellung der nichtstaatlichen Akteure scheint auf den ersten Blick klar und deutlich: Der neue Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Michael Rogowski, hat im jüngsten Jahresbericht das Anliegen vieler Gewerkschaften und einiger NGOs nach einer Implementierung dieser Standards kategorisch zurückgewiesen. Lediglich zu "Selbstverpflichtungserklärungen" der Industrie sei sein Verband bereit.
Diese Erklärungen, in Fachkreisen auch "Verhaltenskodizes" genannt, haben in den USA große Resonanz gefunden. Mehr als 2000 Konzerne machen dort in regelmäßigen Berichten Angaben über ihre soziale, ökologische und wirtschaftliche Praxis, so die Global Reporting Initative, eine Organisation aus den USA. Auch bei exponierten Kritikern des Marktradikalismus erfreuen sich die Kodizes einer gewissen Beliebtheit. Sie erscheinen ihnen als ein probates Mittel gegen die scheinbare Unfähigkeit nationaler Regierungen, international operierenden Konzernen Zugeständnisse abzuringen.

Verhaltenskodex

Erstmals hatten die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in den 70er Jahren solche Kodizes in Form von Empfehlungen entwickelt. Doch sie wurden von den Unternehmen kaum aufgegriffen und in vielen Ländern des Südens verschlechterten sich in den Folgejahren sogar die Arbeitsbedingungen. Seit Beginn der 90er Jahre versuchen nun Gewerkschaften, Menschenrechtsgruppen und entwicklungspolitische Organisationen mit öffentlichen Kampagnen transnationale Konzerne zur Übernahme von individuellen Kodizes zu bewegen.
Dabei geht es vor allem um die zentrale Frage, welche Mittel der Kontrolle zur Verfügung stehen. Solange die Firmen ihre Berichte an den jeweiligen Industrieverband abgeben, bleibt die Rechenschaftspflicht gegenüber den Konsumenten und der Öffentlichkeit minimal. Viele NGOs versuchen, diese Lücke zu füllen.
Denn ohne eine unabhängige Kontrolle sind die Unternehmen kaum bereit, ihren eigenen Verhaltenskodizes Geltung zu verschaffen. Bei einigen NGOs war die Unabhängigkeit von kurzer Dauer, sie sind schnell in eine finanzielle Abhängigkeit des eigentlich zu kontrollierenden Konzerns geraten. Andere hatten jedoch Erfolg. Sie konnten in einzelnen Branchen Firmen unter Druck setzen und ihnen weitgehende Zugeständnisse abringen.
Das Rugmark-Siegel etwa garantiert einer wachsenden Zahl von Kindern in Indien und Nepal, dass sie nicht mehr wie Sklaven in Teppichfabriken schuften müssen, sondern eine Schulausbildung erhalten. Auch der Schnittblumenhandel musste nach zehn Jahren der Kritik ein Übereinkommen mit NGOs und Gewerkschaften eingehen, das die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards auf Plantagen in Ecuador, Kenya und Zimbabwe garantiert.
Schnittblumenproduktion und Teppichherstellung sind ökonomisch jedoch eher schwache Sektoren. Schwieriger ist es, die Verhaltenskodizes im milliardenschweren internationalen Textilgeschäft durchzusetzen. Dennoch haben Arbeiter, NGOs und studentische Aktivisten in den USA mit offensiven Kampagnen Konzerne aus dem Textilsektor dazu gezwungen, sehr weitgehende Verhaltenskodizes zu übernehmen.
Nachdem 1995 ein besonders skandalöser Fall von sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen thailändischer Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Fabrik des Kleidungsherstellers El Monte in Kalifornien an die Öffentlichkeit gelangte, sah sich die Clinton-Administration sogar dazu gezwungen, ein gesondertes Gremium zur Überwachung der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor einzuberufen.
Unternehmer, NGOs, Gewerkschaften und das US-Arbeitsministerium bildeten das AIP (Apparel Industry Partnership), das mühsam einen Verhaltenskodex für Textilfirmen voranbrachte, der einen (regionalen) Mindestlohn, ein Mindestalter für Beschäftigte von 14 Jahren und eine Höchstarbeitszeit von 60 Wochenstunden vereinbarte (allerdings konnten Beschäftigte "freiwillig" mehr arbeiten). Im November 1998 rief das AIP zudem die "Fair Labor Association" (FLA) ins Leben, um diesen Verhaltenskodex zu implementieren und zu kontrollieren.
Zu Kontroversen kam es, als mehrere Gewerkschaften und NGOs das AIP mit der Begründung verließen, die gestellten Bedingungen seien zu schwach. Tatsächlich wurde das Element der "Freiwilligkeit" einer Implementierung überbetont und es waren keine Standards für ein Existenzminimum festgeschrieben. Außerdem seien die Kontrollmechanismen weder unabhängig noch transparent.
Das externe Inspektionssystem war zu stark von den Herstellern beeinflusst. Sie konnten bestimmen, welche Fabriken von wem untersucht werden. Die Veröffentlichung der Berichte war zudem nicht verpflichtend. Die von der Industrie gestützte FLA versuchte, vor allem die Kritik der studentischen Bewegung gegen Sweatshops (Schwitzbuden) aufzugreifen, die mit mehreren Demonstrationen in US-amerikanischen Großstädten 1997 und 1998 große Aufmerksamkeit erregt hatte. FLA sprach sich für interne und externe Untersuchungen aus, die von akzeptierten Organisationen auch unangemeldet durchgefürhrt werden sollten.
Dennoch hielten mehrere studentische Aktivisten von den United Students Against Sweatshops (ein Zusammenschluss von Studierenden, Arbeitsrechtlern und Universitätsbeschäftigten) an ihrer Kritik an AIP/FLA fest, die sie mit Gewerkschaften und NGOs teilten. Mit Unterstützung des US- Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO und der Textilarbeitergewerkschaft UNITE riefen sie im vergangenen Jahr das Workers Rights Consortium (WRC) als radikale Alternative ins Leben. Das WRC, das insgesamt von 80 Universitäten unterstützt wird, setzt sich für ein Existenzminimum der Textilarbeiter ein und will unangemeldete Betriebsbesichtigungen durchführen.

Kurzes Gedächtnis

"Textilkonzerne machen Zugeständnisse, die noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen wären", konstatiert die US-Zeitschrift Foreign Policy. Der Aufwand dafür war jedoch beachtlich. "Aktivisten können nicht in allen Industriesektoren ständig Druck machen", so Foreign Policy weiter. Auch Thomas Greven und Christoph Scherrer, Professor an der Universität Kassel und Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Globalisierung in Deutschland, attestieren diesen Kampagnen klare Grenzen.
"Bei einigen Firmen, wie z.B. Nike, war selbst für geringe Fortschritte hinsichtlich der Arbeitsbedingungen in den südostasiatischen Fabriken ein hohes und anhaltendes Mobilisierungsniveau notwendig", so die Autoren zweier Studien zum Thema. Es sei fragwürdig, ob langfristig der öffentliche Druck aufrechterhalten werden kann. "Bisher haben sich soziale Bewegungen zyklisch entwickelt, und soweit es ihnen nicht gelang, auf dem Höhepunkt ihrer Mobilisierungsfähigkeit die von ihnen erzielten Konzessionen gesetzlich zu verankern, erwiesen sich ihre Erfolge eher als ein vorübergehendes Phänomen", sagen Greven und Scherrer.
Dies gilt vor allem für Strategien, die an das bewusste Kaufverhalten von Konsumenten mittels öffentlichen Kampagnen appellieren. Denn selbst bei Kaufentscheidungen, die das unmittelbare Wohl der Konsumenten betreffen, z.B. bei kontaminierten Lebensmitteln, setzen sich nach einer ersten Panik alte Kaufgewohnheiten schnell wieder durch. Dieses Verhaltensmuster wird sich bei Kampagnen, die nicht das Produkt selbst, sondern den Herstellungsprozess im Visier haben, wegen der geringeren persönlichen Betroffenheit noch schneller durchsetzen.
"Ohne eine mit ausreichend Ressourcen ausgestattete Aufsichtsbehörde bzw. Monitoring-Instanz wird es den Organisationen, die für bessere Arbeitsbedingungen in den Weltfabriken eintreten, schwer fallen, die Öffentlichkeit immer wieder davon zu überzeugen, dass ein … spezifischer transnationaler Konzern gegen seinen eigenen Verhaltenskodex verstößt", resümieren Greven und Scherrer. Sie setzen deshalb auf eine international verbindliche Regelung zur Einhaltung von Kernarbeitsrechten, verbunden mit einem effektiven Sanktionsmechanismus: eine Sozialklausel in der WTO. Sie würde ihrer Ansicht nach nicht nur imagesensible Markenartikler treffen, sondern alle Unternehmen in den WTO-Mitgliedstaaten, die ihre Produkte grenzüberschreitend anbieten.
Diese Ansicht teilen auch die großen Gewerkschaftsverbände und viele NGOs aus dem Norden. Der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) wollen sich für Sozialstandards einsetzen, die sich an den 1998 verabschiedeten Kernarbeitsnormen der ILO orientieren.
Diese Normen sehen die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf kollektive Verhandlungen, Beseitigung aller Formen von Zwangsarbeit, Abschaffung der Kinderarbeit sowie die Beendigung jeglicher Diskriminierung vor. Auch eine gestärkte ILO, die gemeinhin als zahnloser Tiger gilt, wäre nach Ansicht des DGB kaum in der Lage, den Kernarbeitsnormen zur Durchsetzung zu verhelfen. Die WTO sei dafür das schlagkräftigere Instrument.
Am 9.November, parallel zur Ministerrunde der WTO in Katar, planen die Gewerkschaften deshalb einen internationalen Aktionstag. Mit Demonstrationen, Arbeitsniederlegungen und öffentlichen Veranstaltungen wollen sie sich für die Implementierung der Sozialstandards in der WTO einsetzen.

Protektionismus

Viele Regierungen aus dem Süden befürchten jedoch, dass die WTO-Standards vor allem den Protektionismus in den industrialisierten Ländern befördern und Konkurrenzprodukte von den Märkten des Nordens ferngehalten werden sollen. Einige Gewerkschaften, wie z.B. die in Brasilien, Malaysia und auf den Philippinen, geraten nun in einen offenen Konflikt mit ihren Regierungen.
Andere Gewerkschaften, z.B. in Indien und Singapur, unterstützen jedoch die Haltung ihrer Regierungen gegen Sozialstandards. Viele Süd-NGOs, aber auch einige aus dem Norden teilen die Befürchtungen. Sozialklauseln in der WTO würden im Zweifel selektiv angewandt, meint z.B. Martina Schaub von Germanwatch, einer deutschen NGO. Es ist fraglich, ob soziale Klauseln gegenüber wichtigen Handelspartnern wie Indien oder China durchgesetzt werden können.
Man müsse "Ebenen finden, auf denen Sozialklauseln einklagbar sind — wo die angesiedelt sind, ist weniger wichtig", meint hingegen Werner Oesterheld, Referent beim Nord-Süd-Netz des DGB-Bildungswerks. Diese demonstrative Unbefangenheit verkennt die realen Verhältnisse in der WTO. Denn gerade ihr Sanktionsmechanismus, der "Dispute Settlement Body" (DSB), auf den sich alle Protagonisten der Sozialklauseln gerne beziehen, ist ein deutlicher Ausdruck der ungleichen Machtverhältnisse in der WTO.
Für das langfristige und aufwendige Procedere des DSB benötigt der jeweilige Staat Wirtschaftsexperten, Juristen und die dafür notwendigen finanziellen Mittel. So verwundert es kaum, dass weit mehr als die Hälfte der Klagen aus der sog. "Quad-Gruppe" (USA, Kanada, EU und Japan) gekommen sind, einige aus Schwellenländern wie Brasilien, Indien und Südafrika. Nur in wenigen Ausnahmefällen haben bisher als "Entwicklungsländer" eingestufte Staaten den DSB in Gang gesetzt.
Hinzu kommt, dass nur ein Staat gegen einen anderen klagen kann. Die verhängten Sanktionen richten sich nach der Schadenshöhe. Während also die Quad-Gruppe die verhängten Sanktionen, die aus Klagen von "Entwicklungsländern" resultieren, aus der Portokasse bezahlen kann, bedeuten die Sanktionen umgekehrt entweder eine unmittelbare Aufhebung des beklagten Tatbestandes oder den finanziellen Ruin.
Um den Befürchtungen der Entwicklungsländer vor Protektionsimus den Wind aus den Segeln zu nehmen, könne die EU sich auf konkrete Handelszugeständnisse einlassen, so eine Empfehlung des DGB. Mit ihrer Initiative "Everthing but arms" hat die EU diese Zugeständnisse längst angekündigt und dafür bereits ein müdes Lächeln aus den Ländern der Peripherie geerntet. Selbst der designierte Generaldirektor der WTO aus Thailand, Supachai Panitchpakdi, zitiert seine Landsleute, die ironisch von "Everything but farms" sprechen. Denn einige der wesentlichen Agrarbereiche bei der "Marktöffnung" für die 48 ärmsten Länder der Welt bleiben ausgeklammert: Bananen, Reis und Zucker.
Auf gerade mal 10 Millionen US-Dollar pro Jahr schätzen deutsche NGOs die sich auf diese Marktöffnung belaufenden Mehreinnahmen. Und welche Waffen die EU jemals aus den unterentwickeltsten Ländern der Welt importiert hat, bleibt ebenfalls ein Geheimnis.
Die Kritik aus dem Süden beruht also auf verifizierbaren Erfahrungen, die nicht — wie von einigen Gewerkschaftsvertretern — als diffuse Ängste ohne Berechtigung abgetan werden können. Dies erweckt eher den Eindruck, dass es mit den Sozialstandards in der WTO letztendlich doch wieder um eine Neuauflage der sozialpartnerschaftlichen Standortsicherung geht, diesmal auf internationaler Ebene.
Nichtsdestotrotz ist der Kampf um internationale und verbindliche Sozialstandards der Sisyphusarbeit zur Durchsetzung von Verhaltenskodizes vorzuziehen. Denn allein die universelle gewerkschaftliche Organisationsfreiheit ist eine unabdingbare Notwendigkeit, um den Lohnabhängigen eine Grundlage zu schaffen, einen größeren Anteil an den Gewinnen der Konzerne zu erkämpfen. Aber die WTO ist dafür der falsche Ort.

Gerhard Klas

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