Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 13.09.2001, Seite 12

Edward Said über Palästina:

Die Besetzung ist das Verbrechen

In den USA, wo Israel seine politische Hauptbasis hat und woher es seit 1967 über 96 Milliarden Dollar Hilfe bezieht, wurden die Verluste an Menschenleben beim Bombenanschlag auf ein Restaurant in Jerusalem am 9.August und bei dem blutigen Zwischenfall in Haifa am 12.August schnell nach dem üblichen Erklärungsmuster interpretiert. Arafat habe nicht genug getan, um seine Terroristen zu kontrollieren. Überall gäbe es selbstmörderische islamische Extremisten, die, von blankem Menschenhass getrieben, "uns" und unseren stärksten Alliierten schaden. Israel müsse seine Sicherheit verteidigen.
Ein nachdenkliches Gemüt könnte noch hinzufügen: Die Menschen dort hätten sich seit Jahrtausenden bekämpft; die Gewalt müsse gestoppt werden; es habe zuviel Leid auf beiden Seiten gegeben, obgleich die Art, wie die Palästinenser ihre Kinder in die Schlacht schicken, ein weiteres Zeichen dafür ist, womit Israel fertig werden müsse. Und Israel, gereizt, aber beherrscht, fällt also in das unbefestigte und unverteidigte Jenin mit Bulldozern und Panzern ein, zerstört die Gebäude der Polizei der Palästinenserbehörde und ein paar weitere und schickt dann seine Propagandisten aus, um zu erklären, dass es Arafat eine Botschaft habe zukommen lassen, seinen Terroristen Zügel anzulegen. Unterdessen betteln er und sein Klüngel um die Protektion der USA, völlig vergessend, dass Israel es ist, das die US-Protektion genießt, und dass für ihn dabei nur herauskommt, dass ihm zum abertausendsten Mal eingeschärft wird, die Gewalt zu stoppen.

Ununterbrochene Schreckensgeschichte

Tatsachen sind, dass gerade in Amerika Israel den Propagandakrieg gewonnen hat und gerade in Amerika Israel sich anschickt, einige weitere Millionen Dollar in eine Kampagne der Öffentlichkeitsarbeit (unter Einsatz von Stars wie Zubin Mehta, Yitzhak Pearlman und Amos Oz) zu stecken, um sein Image weiter zu verbessern. Man bedenke, was Israel mit seinem Dauerkrieg gegen das unverteidigte, praktisch waffenlose, staatenlose und schlecht geführte palästinensische Volk erreicht hat. Die Ungleichheit der Machtmittel ist so gewaltig, dass man schreien könnte.
Ausgestattet mit der neuesten in den USA gebauten (und frei zur Verfügung gestellten) Luftwaffe, mit Kampfhubschraubern, zahllosen Panzern und Raketen und einer hervorragenden Marine sowie mit einem Aufklärungsdienst nach höchstem Standard, misshandelt die Atommacht Israel ein Volk ohne Panzerwaffe und Artillerie, ohne Luftwaffe (sein einziger Flugplatz in Gaza wird von Israel kontrolliert), Marine oder Armee sowie ohne die Institutionen eines modernen Staates.
Die ununterbrochene Schreckensgeschichte von Israels 34-jähriger militärischer Besetzung widerrechtlich eroberten palästinensischen Landes (die zweitlängste in der neueren Geschichte) ist beinahe überall aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt worden, wie im Übrigen auch die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft im Jahre 1948 und die Vertreibung von 68% seiner eingeborenen Bevölkerung, von der 4,5 Millionen heute weiterhin Flüchtlinge sind.
Doch durch die Propagandasprechblasen hindurch sind die scharfen Konturen von Israels jahrzehntelangem täglichen Druck auf ein Volk, dessen Hauptsünde es ist, zufällig dort und Israel im Wege zu sein, in ihrem unmenschlichen Sadismus bestürzend wahrnehmbar.
Die absurd grausame Einsperrung von etwa 1,3 Millionen Menschen, wie menschliche Sardinen im Gazastreifen eingepfercht, dazu die fast 2 Millionen palästinensischen Bewohner der Westbank, das hat keine Parallele in den Annalen der Apartheid oder des Kolonialismus. Nie sind F16-Flugzeuge eingesetzt worden, um südafrikanische Homelands zu bombardieren. Gegen palästinensische Städte und Dörfer aber werden sie eingesetzt.
Alle Ein- und Ausgänge der Gebiete sind von Israel kontrolliert (Gaza ist völlig von einem Stacheldrahtzaun umgeben), und Israel kontrolliert auch die gesamte Wasserversorgung. Zerteilt in 63 nicht zusammenhängende Kantone, völlig eingekesselt und belagert von israelischen Truppen, durchsetzt mit 140 Siedlungen (davon viele erst unter Ehud Baraks Regierung errichtet) mit ihrem eigenen Straßennetz, verboten für "Nichtjuden", einer Bezeichnung für Araber neben anderen wenig schmeichelhaften wie Diebe, Schlangen, Kakerlaken und Grashüpfer, sind die Palästinenser inzwischen unter der Besatzung auf 60% Arbeitslosigkeit und eine Armutsrate von 50% reduziert worden (die Hälfte der Bevölkerung von Gaza und der Westbank lebt von weniger als 2 Dollar pro Tag).
Sie können nicht von einem Ort zum anderen reisen; sie müssen lange Warteschlangen an den israelischen Kontrollpunkten auf sich nehmen, wobei selbst Alte, Kranke, Studenten, Geistliche stundenlang zurückgehalten und gedemütigt werden. 150.000 palästinensische Oliven- und Zitrusbäume sind im Zuge von Strafaktionen ausgerissen worden; 2000 Häuser von Palästinensern zerstört, ihre Ackerflächen vernichtet oder für militärische Siedlungen enteignet worden.

Kollateralschäden der "Zivilgesellschaft"

Seit Beginn der Al-Aqsa-Intifada Anfang September letzten Jahres wurden 609 Palästinenser getötet (viermal mehr als israelische Todesopfer) und 15.000 verwundet (ein Dutzend mal mehr als auf der anderen Seite). Willkürlich hat die israelische Armee angebliche Terroristen in regelmäßigen Mordanschlägen einzeln abgeschossen, wobei meist Unschuldige wie Fliegen getötet wurden. Letzte Woche wurden 14 Palästinenser von israelischen Streitkräften offen mit Kampfhubschraubern und Raketen ermordet; damit sollten sie vorsorglich daran "gehindert" werden, Israelis zu töten, nicht zu reden von den vielen verwundeten Zivilisten und mehreren zerstörten Häusern — Teil der irgendwie akzeptierten Kollateralschäden.
Namenlos und gesichtslos finden die täglichen palästinensischen Opfer kaum eine Erwähnung in den US- Nachrichtenprogrammen, und nichtsdestoweniger hofft Arafat — aus mir unverständlichen Gründen —, dass die Amerikaner ihn und sein zerfallendes Regime retten werden.
Das ist nicht alles. Der Plan Israels ist nicht nur, einfach Land einzunehmen und es mit schrecklichen, mörderisch bewaffneten Siedlern zu füllen, die, von der Armee verteidigt, palästinensische Obstgärten, Kinder und Wohnungen vernichten. Der Plan ist, wie die amerikanische Forscherin Sara Roy es genannt hat, die palästinensische Gesellschaft zu ent-entwickeln, um Leben unmöglich zu machen, damit die Palästinenser fortziehen oder aufgeben oder etwas Verrücktes tun, wie sich selbst in die Luft zu jagen.
Seit 1967 wurden vom israelischen Besatzungsregime politische Führungspersönlichkeiten eingesperrt und deportiert, kleine Geschäfte und Farmen durch Beschlagnahme und nackte Zerstörung vernichtet, Studenten am Studium gehindert, Universitäten geschlossen (Mitte der 80er Jahre wurden die Universitäten auf der Westbank vier Jahre lang geschlossen). Kein palästinensischer Landwirt oder Geschäftsmann kann in irgendein arabisches Land direkt exportieren; seine Produkte müssen Israel passieren. Steuern werden an Israel gezahlt. Selbst nach Beginn des Oslo-Friedensprozesses im Jahre 1993 wurde die Besetzung einfach nur anders verpackt, nur 18% des Landes an die dem mit Hitlerdeutschland kollaborierenden französischen Vichy-Regime vergleichbare korrupte Behörde von Arafat abgetreten, deren Mandat anscheinend nur darin bestanden hat, Israel zuliebe das eigene Volk polizeilich zu beaufsichtigen und zu besteuern.
Nach acht fruchtlosen und elendsträchtigen Jahren der Oslo-Verhandlungen unter der verdeckten US-Regie von Stabsmitgliedern der Israel-Lobby wie Martin Indyk und Dennis Ross ist Israel weiter Herr der Lage, die Besetzung effizienter verpackt, die Phrase vom "Friedensprozess" mit einem Heiligenschein umgeben, der weitere Übergriffe gestattet und noch mehr Siedlungen, Inhaftierungen, palästinensisches Leiden. Darin eingeschlossen ein "judaisiertes" Ostjerusalem mit einem besetzten Orient House, und dessen Inhalt geplündert oder weggeschafft (darunter unschätzbare amtliche Unterlagen, Grundbuchdokumente, Karten, die von Israel, in Wiederholung des Handstreichs, mit dem es 1982 die PLO-Archive aus Beirut stahl, einfach gestohlen wurden).
Schließlich hat Israel nicht weniger als 400.000 Siedler auf palästinensischem Land installiert. Diese als Mitglieder von Vigilantenorganisationen und als Strolche zu bezeichnen ist keine Übertreibung.

Die wirkliche Geschichte von Israels "Opferrolle"

Es lohnt sich daran zu erinnern, dass Israel einige Wochen nach Ariel Sharons willkürlich unverschämtem Besuch des Jerusalemer Haram Al-Sharif am 28.September mit 1000 Soldaten und Schutztruppen, die von Premierminister Barak zur Verfügung gestellt wurden, für diese Aktion durch eine einstimmige Resolution des Sicherheitsrats verurteilt wurde. Damit brach aus, was ein Kind hätte vorhersagen können: die antikoloniale Rebellion mit acht getöteten Palästinensern als ihren ersten Opfern.
Sharon wurde im Wesentlichen an die Macht gespült, um die Palästinenser zu "unterwerfen", ihnen eine Lektion zu erteilen, sie loszuwerden. Seine Taten als Araber-Mörder erstrecken sich über die letzten 30 Jahre, noch weiter zurück als die Massaker von Sabra und Shatila, die seine Truppen 1982 überwachten, und derentwegen er nun vor einem belgischen Gericht angeklagt worden ist.
Und doch möchte Arafat mit ihm verhandeln und vielleicht mit ihm zu einem traulichen Arrangement kommen, um damit gerade die Behörde zu retten, die Sharon systematisch abbauen, zerstören und dem Erdboden gleichmachen möchte.
Aber Sharon ist nicht dumm. Mit jedem palästinensischen Akt des Widerstands haben seine Streitkräfte den Druck um einen Zahn verstärkt, die Belagerung undurchlässiger gemacht, mehr Land weggenommen, sich zur Gewohnheit gemacht, immer tiefer in palästinensische Städte wie Jenin und Ramallah einzufallen, die Versorgung weiter abzuschneiden, palästinensische Führer in aller Öffentlichkeit zu ermorden, das Leben noch unerträglicher zu machen, die Bedingungen für die Aktionen seiner Regierung dahingehend neu zu definieren, dass sie, in der Art sich zu "verteidigen" seinerzeit "großzügige Zugeständnisse" gemacht habe, dass sie Terrorismus "verhindere", dass sie Gebiete "sichere", dass sie die Kontrolle "wiederherstelle", usw.
Gleichzeitig greifen er und seine Vollstrecker Arafat an und dehumanisieren ihn, wobei sie sogar erklären, er sei der "Erzterrorist" (obgleich er sich ohne israelische Erlaubnis buchstäblich nicht bewegen kann), und dass "wir" keinen Krieg gegen das palästinensische Volk führen. Eine Gnade für das Volk!
Warum sollte bei einer derartigen "Zurückhaltung" eine massive Invasion notwendig sein, die gerüchteweise verbreitet wird, um die Palästinenser noch sadistischer zu terrorisieren? Israel weiß, dass es ihre Gebäude nach Belieben wegnehmen kann, wie es ebenso die Palästinenser als Volk nahezu eliminiert hat.
Dies ist die wirkliche Geschichte von Israels angeblicher "Opferrolle", die nun schon seit Monaten mit derart absichtsvoller Anteilnahme und böswilliger Intention entworfen wird. Die Sprache ist von der Realität losgelöst worden. Man sollte nicht die unvernünftigen arabischen Regierungen bemitleiden, die nichts tun können und werden, um Israel zu stoppen. Man sollte das Volk bemitleiden, das die Wunden in seinem Fleisch und in den schmalen Körpern seiner Kinder spürt, von denen einige glauben, dass das Martyrium der einzige Ausweg für sie ist.
Und Israel, in seinem zukunftslosen Feldzug festgefahren, gnadenlos um sich schlagend? Wie James Cousins, der irische Dichter und Kritiker 1925 sagte, steht der Kolonisator unter dem Zwang von "falschen und selbstsüchtigen Beschäftigungen, die seiner Hinwendung zur natürlichen Entwicklung seines eigenen nationalen Genius im Wege stehen, und wird vom Weg der schlichten Redlichkeit auf die gewundenen Nebenstraßen ehrloser Gedanken, Reden und Taten gedrängt, und zwar durch die erzwungene Verteidigung einer falschen Position".
Alle Kolonisatoren sind diesen Weg gegangen, ohne zu lernen oder vor irgend etwas zurückzuschrecken, bis sie, wie Israel nach seiner 22-jährigen Besetzung des Libanon, einfach davonlief, schließlich das Territorium räumen und ein erschöpftes und verkrüppeltes Volk zurücklassen. Warum forderte dies alles, wenn es denn der Erfüllung jüdischer Erwartungen und Ziele dienen sollte, so viele neue Opfer von einem anderen Volk, das mit dem Exil und der Verfolgung der Juden gar nichts zu tun hatte?

Oslo kann nicht restauriert werden

Unter dem Kommando von Arafat und Co. gibt es keine Hoffnung. Was tut der Mann eigentlich, wenn er im Vatikan und in Lagos oder sonstigen beliebigen Orten Eindruck schindet, ohne Würde, sogar ohne Verstand für imaginäre Beobachter, arabische Hilfe, internationale Unterstützung fordert, anstatt bei seinem Volk zu bleiben, zu versuchen, ihm mit medizinischer Versorgung, moralischer Aufmunterung und wirklicher Führerschaft zu helfen? Was wir brauchen, ist eine einheitliche Führung der Menschen, die vor Ort sind, die tatsächlich Widerstand leisten, die wirklich mit dem Volk sind, und nicht die fetten, Zigarren rauchenden Bürokraten, die ihre Geschäfte weiter betreiben und ihre VIP-Pässe erneuert haben möchten und die jede Spur von Anstand und Glaubwürdigkeit verloren haben. Eine einheitliche Führung, die Stellung bezieht und Massenaktionen plant, dazu bestimmt, nicht nach Oslo zurückzukehren (die Verrücktheit dieser Idee ist unglaublich), sondern vorwärts zu drängen mit Widerstand und Befreiung, anstatt die Menschen mit Gerede über Verhandlungen und den albernen Mitchell-Plan zu verwirren.
Arafat ist erledigt: Warum geben wir nicht zu, dass er weder führen noch planen noch irgend etwas tun kann, was irgendeinen Unterschied machen würde außer für ihn selbst und seine Oslo-Kumpane, die materiell von dem Elend ihres Volkes profitiert haben. Alle Meinungsumfragen zeigen, dass seine Präsenz blockiert, was immer an vorwärts gerichteter Bewegung möglich ist. Wir brauchen eine einheitliche Führung, um Entscheidungen zu treffen und nicht einfach vor dem Papst oder dem schwachsinnigen George W. Bush auf dem Bauch zu liegen, selbst dann nicht, wenn Israelis unser heroisches Volk ungestraft töten. Ein Führer muss den Widerstand anführen, die Realitäten an Ort und Stelle bedenken, auf die Bedürfnisse seines Volkes reagieren, planen, denken und sich selbst denselben Gefahren und Schwierigkeiten aussetzen, die jeder sonst erfährt. Der Kampf für die Befreiung von israelischer Besetzung ist der Platz, wo jeder Palästinenser, der etwas wert ist, heute hingehört. Oslo kann nicht wieder restauriert oder neu verpackt werden, wie Arafat und Co. wünschen mögen. Es ist aus für sie, und je schneller sie einpacken und abhauen, desto besser für jedermann.

Edward Said

Edward Said ist Professor für vergleichende Literatur an der Columbia University in New York. Sein Beitrag erschien zuerst in der Tageszeitung "junge Welt" vom 27.8.2001. Die Originalfassung ist zu finden unter www.middleeast.org.



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