Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 13.09.2001, Seite 13

Hintergründe von Israels Staatsterrorismus

Mit dem Ablauf des elften Monats der Revolte in Palästina ist die Lage komplexer geworden und voller Fragezeichen. In den Sommermonaten sind viele Elemente zusammengekommen, die eine Orientierung erschweren. Die Verzweiflung darüber, nur Zielscheibe von Raketen, Panzern und Heckenschützen zu sein, hat Selbstmordattentate zur Folge gehabt, die viele Opfer gekostet haben. Sicher sind dies keine Aktionen, die man vertreten oder ermutigen kann, aber wir können uns auch nicht zu Lehrmeistern aufschwingen, die bequem im warmen und gemütlichen Zuhause sitzen, während ein ganzes Volk von etwa drei Millionen Menschen kaltblütig gemordet und ökonomisch erwürgt wird.
Seit dem Attentat auf die Diskothek in Tel Aviv am 1.Juni sind die israelischen Repressalien stets schärfer geworden. Scheinbar gibt es einen Wettbewerb der Massaker im Rhythmus von Aktion und Reaktion, nach einem vorgegebenen Drehbuch. Aber so ist es nicht. Israel verschärft die Mittel der Repression, da klar ist, dass kein Israeli bereit ist, eine unbegrenzte Frist zu gewähren.

Gezielte Morde — für Israel notwendig

Seit dem 28.September 2000 sind etwa sechzig palästinensische Führer von Israel ermordet worden. Man muss zunächst gegenüber denen, die das eine "Neuerung" nennen, betonen, dass die Politik der Ermordung palästinensischer Führer ein charakteristischer Zug der israelischen Politik ist: Gassan Kanafani, Wael Zuaiter, Abu Sharar, Abu Yiad, Abu Jihad, Issam Sartawi und viele andere wurden im Laufe der Jahre von israelischen Kommandos u.a. im Ausland — z.B. in Italien und in Portugal — getötet.
Der Grund für diese terroristischen Aktionen lag nicht nur in der Rangstellung dieser Personen innerhalb der PLO, sondern auch darin, dass sie alle in sehr kritischen Perioden für einen Dialog zwischen Palästinensern und Israelis eingetreten waren. In den 70er und 80er Jahren musste Israel um jeden Preis vermeiden, dass die Palästinenser zwischen die Israelis eine Bresche schlugen.
Heute besteht die Notwendigkeit, alle zu eliminieren, die in den besetzten Gebieten eine politisch-organisatorische Rolle spielen können. In den sieben Jahren Waffenruhe nach den Abkommen von Oslo hat sich in Gaza und im Westjordanland eine lokale Führung herausgebildet, die in den besetzten Gebieten weit anerkannter ist als die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) und selbst Arafat.
Es ist in diesen Jahren sehr bequem gewesen zu glauben, die islamischen Fundamentalisten seien die einzigen gewesen, die sich unterschieden. Sicher ist ihre Rolle im Westen stark übertrieben worden, mit der Absicht dadurch alle, die die Abkommen von Oslo oder die von Arafat verfolgte Rückzugslinie kritisierten, als "Friedensfeinde" mit Hamas und Jihad in Verbindung zu bringen.
Die am 28.September 2000 begonnene Revolte hat stattdessen gezeigt, dass in den auf 1993 folgenden Jahren die Organisationen, die — auch unter Beteiligung eines bedeutenden Teils der Fatah — gegen die Abkommen waren, einen Grad der Koordination entwickelt haben, der die Dauer dieser zweiten Intifada garantieren kann. Nach weiteren 700 Toten, weiteren 20.000 Verletzten, 10.000 zerstörten Häusern, tausenden und abertausenden niedergerissenen Oliven- und Obstbäumen, 24000 "neuen Flüchtlingen" zwischen Gaza und dem Westjordanland, mit einer Erwerbslosigkeit, die fast 50% ausmacht, der völligen Unterbindung der Freizügigkeit in den besetzten Gebieten, die unter der palästinensischer Kontrolle sein müssten, und der unterschiedslosen Bombardierung der Zivilbevölkerung seit Oktober 2000 war nicht vorhersehbar, dass der palästinensische Widerstand andauern würde. Offensichtlich existiert ein Netz, das es erlaubt, erfolgreich Widerstand zu leisten, selbst unter schwierigsten Bedingungen.
In diesem Sinne besteht für Israel die "Notwendigkeit" Führer vom Kaliber eines Tabhet Tabet oder eines Abu Ali Mustafa zu beseitigen. Dieser letzte Mord am hellichten Tag durch einen Raketenangriff auf den Sitz der PFLP (People‘s Front for the Liberation of Palestine) in Ramallah hat noch eine andere Bedeutung.

Israels Armee ist nicht unantastbar

Der Angriff von zwei Kämpfern der DFLP (Democratic Front for the Liberation of Palestine) am 25.August auf einen israelischen Militärposten, bei dem drei Soldaten starben und weitere verletzt wurden, ist ein qualitativer Sprung: keine verzweifelte Selbstmordaktion, sondern ein Angriff auf die bestbewaffnete Armee des Nahen Ostens. Gewiss konnte niemand hoffen, dass die beiden Palästinenser mit dem Leben davonkamen, doch die Botschaft ist klar: der Feind ist nicht unantastbar.
Die Desorientierung in der Armee wird aus den wenig überzeugenden Erklärungen von Armeechef Ben Eliazer deutlich, der nach der üblichen Litanei ("Sie schießen auf uns, wir werden antworten") eine Untersuchung über den Vorfall einleitete. Von Bedeutung ist, dass dies die zweite Aktion dieser Art ist, die einen Schlag gegen die israelische Armee durchführte. Ende Juli fuhr ein Mitglied der PFLP in die Nähe des Verteidigungsministeriums in West-Jerusalem und schoss mit einer Maschinenpistole auf Soldaten, verletzte sieben von ihnen und wurde anschließend getötet.
Die Tragweite dieser Aktionen kann kaum überschätzt werden. Sicher ist, dass Abu Ali Mustafa als Nachfolger von George Habbash, der sich von der aktiven Politik zurückgezogen hatte, sich gerade um eine Versöhnung mit der Fatah und der DFLP bemühte, was Israel sicher in Schwierigkeiten bringen würde. Nicht umsonst hat Arafat kurz vor der Ermordung von Abu Ali Mustafa seine Rückkehr nach Damaskus angekündigt. Diese Reise kann die Einleitung zu einer neuen Einheit unter den Palästinensern sein, die den Widerstand zweifellos nur stärken kann. Wie jede Kolonialmacht hat Israel stets auf die Spaltung unter den Palästinensern gesetzt.
Man kann nicht voraussehen, welche Folgen der Mord an Abu Ali Mustafa haben wird. Wir können jedoch feststellen, dass dies der x-te Akt von Staatsterrorismus seitens Israels ist, bei dem keiner der sog. "internationalen Akteure" — USA, Europa u.a. — dieser Politik der Morde irgendeine konkrete Aktion entgegensetzt. Gewiss ist der Mord an Abu Ali Mustafa bedeutend, aber man darf auch die Dutzende von Morden nicht vergessen, die auch nicht dadurch zu rechtfertigen sind, dass ihre Opfer Anhänger von Hamas und Jihad waren.

Cinzia Nachira

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