Sozialistische Zeitung |
Mit dem Ablauf des elften Monats der Revolte in Palästina ist die Lage komplexer geworden und voller Fragezeichen. In den Sommermonaten sind viele
Elemente zusammengekommen, die eine Orientierung erschweren. Die Verzweiflung darüber, nur Zielscheibe von Raketen, Panzern und Heckenschützen zu sein, hat
Selbstmordattentate zur Folge gehabt, die viele Opfer gekostet haben. Sicher sind dies keine Aktionen, die man vertreten oder ermutigen kann, aber wir können uns auch nicht zu
Lehrmeistern aufschwingen, die bequem im warmen und gemütlichen Zuhause sitzen, während ein ganzes Volk von etwa drei Millionen Menschen kaltblütig gemordet und
ökonomisch erwürgt wird.
Seit dem Attentat auf die Diskothek in Tel Aviv am 1.Juni sind die israelischen Repressalien stets schärfer geworden.
Scheinbar gibt es einen Wettbewerb der Massaker im Rhythmus von Aktion und Reaktion, nach einem vorgegebenen Drehbuch. Aber so ist es nicht. Israel verschärft die Mittel der
Repression, da klar ist, dass kein Israeli bereit ist, eine unbegrenzte Frist zu gewähren.
Gezielte Morde für Israel notwendig
Seit dem 28.September 2000 sind etwa sechzig palästinensische Führer von Israel ermordet worden. Man muss zunächst gegenüber denen, die das eine
"Neuerung" nennen, betonen, dass die Politik der Ermordung palästinensischer Führer ein charakteristischer Zug der israelischen Politik ist: Gassan Kanafani, Wael
Zuaiter, Abu Sharar, Abu Yiad, Abu Jihad, Issam Sartawi und viele andere wurden im Laufe der Jahre von israelischen Kommandos u.a. im Ausland z.B. in Italien und in Portugal
getötet.
Der Grund für diese terroristischen Aktionen lag nicht nur in der Rangstellung dieser Personen innerhalb der PLO,
sondern auch darin, dass sie alle in sehr kritischen Perioden für einen Dialog zwischen Palästinensern und Israelis eingetreten waren. In den 70er und 80er Jahren musste Israel um
jeden Preis vermeiden, dass die Palästinenser zwischen die Israelis eine Bresche schlugen.
Heute besteht die Notwendigkeit, alle zu eliminieren, die in den besetzten Gebieten eine politisch-organisatorische Rolle
spielen können. In den sieben Jahren Waffenruhe nach den Abkommen von Oslo hat sich in Gaza und im Westjordanland eine lokale Führung herausgebildet, die in den besetzten
Gebieten weit anerkannter ist als die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) und selbst Arafat.
Es ist in diesen Jahren sehr bequem gewesen zu glauben, die islamischen Fundamentalisten seien die einzigen gewesen, die sich
unterschieden. Sicher ist ihre Rolle im Westen stark übertrieben worden, mit der Absicht dadurch alle, die die Abkommen von Oslo oder die von Arafat verfolgte Rückzugslinie
kritisierten, als "Friedensfeinde" mit Hamas und Jihad in Verbindung zu bringen.
Die am 28.September 2000 begonnene Revolte hat stattdessen gezeigt, dass in den auf 1993 folgenden Jahren die
Organisationen, die auch unter Beteiligung eines bedeutenden Teils der Fatah gegen die Abkommen waren, einen Grad der Koordination entwickelt haben, der die Dauer dieser
zweiten Intifada garantieren kann. Nach weiteren 700 Toten, weiteren 20.000 Verletzten, 10.000 zerstörten Häusern, tausenden und abertausenden niedergerissenen Oliven- und
Obstbäumen, 24000 "neuen Flüchtlingen" zwischen Gaza und dem Westjordanland, mit einer Erwerbslosigkeit, die fast 50% ausmacht, der völligen Unterbindung
der Freizügigkeit in den besetzten Gebieten, die unter der palästinensischer Kontrolle sein müssten, und der unterschiedslosen Bombardierung der Zivilbevölkerung
seit Oktober 2000 war nicht vorhersehbar, dass der palästinensische Widerstand andauern würde. Offensichtlich existiert ein Netz, das es erlaubt, erfolgreich Widerstand zu leisten,
selbst unter schwierigsten Bedingungen.
In diesem Sinne besteht für Israel die "Notwendigkeit" Führer vom Kaliber eines Tabhet Tabet oder
eines Abu Ali Mustafa zu beseitigen. Dieser letzte Mord am hellichten Tag durch einen Raketenangriff auf den Sitz der PFLP (Peoples Front for the Liberation of Palestine) in Ramallah
hat noch eine andere Bedeutung.
Israels Armee ist nicht unantastbar
Der Angriff von zwei Kämpfern der DFLP (Democratic Front for the Liberation of Palestine) am 25.August auf einen israelischen Militärposten, bei dem drei Soldaten
starben und weitere verletzt wurden, ist ein qualitativer Sprung: keine verzweifelte Selbstmordaktion, sondern ein Angriff auf die bestbewaffnete Armee des Nahen Ostens. Gewiss konnte
niemand hoffen, dass die beiden Palästinenser mit dem Leben davonkamen, doch die Botschaft ist klar: der Feind ist nicht unantastbar.
Die Desorientierung in der Armee wird aus den wenig überzeugenden Erklärungen von Armeechef Ben Eliazer
deutlich, der nach der üblichen Litanei ("Sie schießen auf uns, wir werden antworten") eine Untersuchung über den Vorfall einleitete. Von Bedeutung ist, dass
dies die zweite Aktion dieser Art ist, die einen Schlag gegen die israelische Armee durchführte. Ende Juli fuhr ein Mitglied der PFLP in die Nähe des Verteidigungsministeriums in
West-Jerusalem und schoss mit einer Maschinenpistole auf Soldaten, verletzte sieben von ihnen und wurde anschließend getötet.
Die Tragweite dieser Aktionen kann kaum überschätzt werden. Sicher ist, dass Abu Ali Mustafa als Nachfolger von
George Habbash, der sich von der aktiven Politik zurückgezogen hatte, sich gerade um eine Versöhnung mit der Fatah und der DFLP bemühte, was Israel sicher in
Schwierigkeiten bringen würde. Nicht umsonst hat Arafat kurz vor der Ermordung von Abu Ali Mustafa seine Rückkehr nach Damaskus angekündigt. Diese Reise kann die
Einleitung zu einer neuen Einheit unter den Palästinensern sein, die den Widerstand zweifellos nur stärken kann. Wie jede Kolonialmacht hat Israel stets auf die Spaltung unter den
Palästinensern gesetzt.
Man kann nicht voraussehen, welche Folgen der Mord an Abu Ali Mustafa haben wird. Wir können jedoch feststellen,
dass dies der x-te Akt von Staatsterrorismus seitens Israels ist, bei dem keiner der sog. "internationalen Akteure" USA, Europa u.a. dieser Politik der Morde
irgendeine konkrete Aktion entgegensetzt. Gewiss ist der Mord an Abu Ali Mustafa bedeutend, aber man darf auch die Dutzende von Morden nicht vergessen, die auch nicht dadurch zu
rechtfertigen sind, dass ihre Opfer Anhänger von Hamas und Jihad waren.
Cinzia Nachira
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