Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 13.09.2001, Seite 13

Anklage in Genua

Gemeinschaftlicher Mord

Vor der parlamentarischen Untersuchungskommission, die gegen erheblichen Widerstand der italienischen Regierung durchgesetzt werden musste, spielen die für den Einsatz der Ordnungskräfte in Genua Verantwortlichen Katz und Maus.
• Der Polizeipräsident in Rom, De Gennaro, wurde von dem Überfall auf die Schule Diaz erst im Nachhinein informiert — aber er empfahl an dem fraglichen Abend dem Polizeivize von Genua, Colucci, wie auch dem Chef der Antiterroreinheiten, La Barbera, dabei "höchste Vorsicht walten zu lassen".
• La Barbera wiederum will dem Befehlshaber der berüchtigten Polizeieinheit "Celere", Canterini, vor Ort vom Sturm auf die Schule abgeraten haben. Davon weiß dieser nichts: "Es gab vor Ort keine Korrekturen an dem, was in der operativen Sitzung besprochen worden war."
• Der Polizeivize von Genua hat diese Sitzung vorzeitig verlassen, aber er besteht darauf, dass es "eine Kommandolinie und eine Einsatzleitung" gegeben habe. Auch davon weiß Canterini nichts, der später zur Sitzung dazugestoßen ist und länger blieb als Colucci. "Jede Einheit hatte ihren eigenen Chef."
• Das sagt auch der Befehlshaber der Einheit zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Gratteri. Aber Gratteri sagt auch, in welcher Reihenfolge die Einheiten die Schule betreten haben: "Erst die Celere, dann die Kripo für die Durchsuchung; die Antimafia-Einheiten und die Carabinieri sollten draußen bleiben." Canterini widerspricht schon wider: "Es war nicht festgelegt, wann die Celere reingehen sollte."
Wenn die Celere als Einheit der Polizei aber keinen Durchsuchungsauftrag hatte, welchen hatte sie dann? Die Parlamentarier haben nicht danach gefragt. Für Canterini ist es sehr wichtig, dass seine Truppen die Schule nicht gestürmt haben und das Blutbad von anderen angerichtet wurde. Die Polizei behauptet, beim Überfall seien 17 Männer verletzt worden; davon gehörten 15 der Celere an. Sie behauptet auch, aus der Schule heraus habe es Angriffe auf die Polizisten gegeben. Angenommen, das stimmt: Wie konnte die Celere soviele Verletzte zählen, wenn sie nicht gestürmt hat?
Zwischen und innerhalb der Ordnungskräfte findet zweifellos ein Machtkampf statt, teils um die eigene Haut zu retten, teils aber auch als Versuch der neuen Regierung, die verantwortlichen Positionen zu säubern und mit Linientreuen zu besetzen. Man wird aber auch den Eindruck nicht los, hier wird bewusst ein Verwirrspiel getrieben, um Spuren zu verwischen. Zum Beispiel diese: ein Polizeioffizier hat ausgesagt, Art und Zeit des Überfalls auf die Schule seien letztlich von einem Informanten bestimmt worden. Ein weiterer hat dies in einem schriftlichen Bericht bestätigt und will gesehen haben, dass kurz vor dem Sturm sich ein seitlicher Hinterausgang der Schule geöffnet habe und Männer in Schwarz heraustraten. Vor der Untersuchungskommission konnte sich der erste Offizier an "diese Geschichte" nicht mehr erinnern. Canterini wiederum hat mehrfach erklärt, als seine Männer die Schule betraten, hätten Polizisten in Zivil bereits ganze Arbeit geleistet.
Das Verwirrspiel kann Gefahr laufen zu degenerieren, wenn das GSF nicht eigenes Bildmaterial vorlegen kann. Glücklicherweise scheint es damit gut bestückt zu sein, jedenfalls hat sein Sprecher, Vittorio Agnoletto, die Parlamentarier bei seiner Befragung arg in die Enge getrieben: das von ihm vorgetragene Beweismaterial konnte niemand entkräften.
Um so massiver sind jetzt die Bestrebungen der Justiz, Anklagepunkte gegen die Demonstrierenden zu konstruieren und die Polizei damit zu entlasten, wenn nicht gar in das Licht zu rücken, es habe vielleicht Exzesse und Fehler gegeben, aber im Wesentlichen habe die Polizei auf die Aggression der Demonstrierenden reagiert.
Die auf dem bekannten Foto neben Carlo Giuliani abgelichteten Männer haben sich mittlerweile fast alle gestellt. Aus ihren Erzählungen geht hervor, dass die Polizei einen erlaubten Demonstrationszug "mit ungeahnter Brutalität" angegriffen hat, nachdem drei schwarz Vermummte von einer Brücke aus Steine auf die Polizei geworfen hatten. 30.000 Menschen wurden in eine Sackgasse getrieben, aus der es keine Fluchtmöglichkeiten gab; von Hubschraubern aus wurden sie mit Tränengas angegriffen, von vorn und von den Seiten hagelte es Gas und Knüppel. "Viele riskierten, einfach überfahren zu werden, weil Polizeipanzer mit 100 km/h in die Menge rasten. Auch das von uns angegriffene Auto der Carabinieri fuhr in uns hinein."
Von all dem will die Polizei nichts wissen; sie konstruiert aus dem Balken, den zwei Männer durch ein Seitenfenster stoßen, einen "gemeinschaftlichen Mordversuch". Der Carabiniere, der geschossen hat, hat wohl eine Weile gezielt, bis er sein Opfer gefunden hat; aber die Polizei bleibt bei Notwehr in höchster Gefahr. Und er war nicht der einzige, der die Pistole gezogen hat; viele andere wurden so gesehen.
In der Regierung hat man es auf den sog. radikalen Flügel des GSF abgesehen: die Tute bianche, aber auch die linke Gewerkschafterstruktur Cobas. Gegen Luca Casarini hat die Staatsanwaltschaft Genua jetzt Anklage wegen "Anstiftung zum Verbrechen" erhoben — weil er vor Genua dazu aufgerufen hatte, die Rote Zone zu durchbrechen. Aber es gab ein Abkommen zwischen den Tute bianche und dem Polizeivize von Genua, dass sie die Rote Zone an einer bestimmten Stelle symbolisch einreißen könnten — das hat Colucci selbst gesagt. Nur hat die Polizei sich nicht daran gehalten, sondern noch vor Erreichen der Absperrung den erlaubten Demonstrationszug angegriffen. Darauf waren die Tute bianche nicht vorbereitet.

Angela Klein

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