Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 13.09.2001, Seite 16

Revolutionäre Studenten

Zur Geschichte des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS)

84 Delegierte und Interessierte aus 20 Hochschulorten waren nach Hamburg gekommen, als sich der SDS am 2.September 1946, vor 55 Jahren, gründete. "Als Sozialisten erstreben wir eine Gesellschaftsordnung, in der die Freiheit von Not und Zwang allen Menschen eine harmonische Entwicklung ihrer Persönlichkeit ermöglicht", schrieben sie unter dem vorherrschenden Eindruck von Krieg, Gräuel und Nachkriegsnot in ihren Hamburger Richtlinien.
Doch der Sozialismus, zu dem sich der SDS damals bekannte, war weniger ein theoretisch ausgewiesener und sich aus den vorfaschistischen Traditionen der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung speisender, als vielmehr ein allgemein humanistisch-antikapitalistischer, vor allem moralischer Impuls, wie er für die ersten Nachkriegsjahre noch so typisch gewesen ist. Bürgerliche Schichten griffen nach der Hitler‘schen Barbarei auf einen vagen ethischen Humanismus zurück, der auch auf der Linken auf fruchtbaren Boden fiel.
Die sozialistische Arbeiterbewegung war zerschlagen, ihre marxistischen Kader zumeist getötet, originär marxistisches Bewusstsein weitgehend aufgelöst. Die Kommunisten ordneten sich bereitwillig der Moskauer Außenpolitik unter und propagierten den antifaschistisch- humanistischen Kampf um eine bürgerliche Demokratie. Die Sozialdemokratie verstand sich als nationaler Ordnungsfaktor ersten Ranges und baute Verwaltung und Verfassungswesen aktiv mit auf, was große Teile der Mitgliedschaft in eine praktische Integration in die bürgerliche Gesellschaft führte.
Sozialismus war also, trotz vieler Lippenbekenntnisse, nicht gerade aktuell. Auch den Klassenkämpfen jener Zeit fehlte es zwar nicht an Willen und Kampfbereitschaft. Die objektiven Verhältnisse jedoch, die Verhältnisse einer ökonomisch zerrütteten, psychisch demoralisierten, organisatorisch zersplitterten, politisch orientierungslosen, national gespaltenen und von den alliierten Besatzungsmächten gedeckelten Gesellschaft, setzten diesen Klassenkämpfen enge Grenzen.
Der noch stark in den alten studentischen Traditionen jugendbewegter Männerbünde verwurzelte SDS entwickelte vor diesem Hintergrund keine eigene politische Strategie, sondern verstand sich als loyale Nachwuchsschmiede des SPD-Parteiapparats. Und in der Tat, die meisten dieser frühen SDS- Führungsfiguren sollten später Karriere als SPD-Bundestagsabgeordnete, Bundes- und Landesminister, als Staatssekretäre, Bürgermeister oder Chefredakteure machen. Trotzdem zeichnete sich der SDS in den frühen 50ern dadurch aus, dass er gerade in seiner Schulungs- und Seminararbeit einigen Raum auch linken Nonkonformisten wie Leo Kofler, Willy Huhn, Fritz Lamm oder Wolfgang Abendroth gewährte. Mit Ausnahme lediglich der Kommunisten, die fast von Beginn an ausgegrenzt wurden: "Zwischen dem freiheitlichen Sozialismus und dem Leninismus-Stalinismus gibt es keine politische Gemeinsamkeit", hieß es in einer Grundsatzerklärung.

Godesberg und die Folgen

Mitte der 50er Jahre waren die Klassenkämpfe der Rekonstruktionszeit geschlagen. Die kapitalistische Ökonomie und ihre bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse waren erfolgreich erneuert und stabilisiert worden, die Sozialdemokratie trotz Oppositionsstatus gesellschaftlich und politisch integriert, die KPD marginalisiert und kriminalisiert. Das für den Nachkriegskapitalismus so zentrale fordistische Akkumulationsmodell fand in den erneuerten Produktionsgrundlagen der nachfaschistischen BRD, seiner ökonomischen und politischen Stabilität, seinem hohen Qualifikationsniveau, seiner Arbeitsdisziplin und seinem kooperativen Politiktypus günstige Voraussetzungen und wurde durch Exportorientierung und die damit verbundene Integration in die boomende Weltwirtschaft erfolgreich abgestützt. Seit Mitte der 50er war die strukturelle Arbeitslosigkeit beseitigt und die Ökonomie brummte. Das "Goldene Zeitalter" (Hobsbawm) begann auch in Westdeutschland, die Mehrheit der Bevölkerung genoss die neue Zeit des Konsums und arrangierte sich mit dem Adenauerregime. Die SPD passte sich diesem Prozess zunehmend an, und mit ihr auch der SDS — so schien es zunächst.
Nachdem sie auch bei den Bundestagswahlen 1957 nicht mehrheitsfähig geworden war, drängte die SPD endgültig auf das Abschneiden alter ideologischer Zöpfe. Auf ihrem Bad Godesberger Parteitag von 1959 reformierte sie ihre Parteistrukturen und beschloss ein neues Grundsatzprogramm, das von Planwirtschaft und sozialistischer Zielsetzung nichts mehr wissen wollte und statt dessen das Privateigentum an Produktionsmitteln, die "freie Unternehmer- Initiative", den "freien Wettbewerb", die Kommandogewalt des Arbeit"gebers" über den Arbeit"nehmer" sowie das Profitmotiv legitimierte.
Die unabhängige westdeutsche Linke, die sich in den 50er Jahren wesentlich in und um die SPD gruppiert hatte, war mit Godesberg weitgehend gescheitert. Die KPD war verboten, der linke Gewerkschaftsflügel nach dem Hochverratsprozess gegen Victor Agartz und die dadurch ausgelöste Krise der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Wiso stark demoralisiert. Generell ging ein großer Teil der unabhängig linken Publizistik Ende der 50er entweder ein oder veränderte nachhaltig ihr Gesicht.
Das sozialistische Denken war, wie Wolfgang Abendroth in einer damaligen "Bilanz der sozialistischen Idee in der Bundesrepublik Deutschland" schrieb, "abermals in kleine Zirkel zurückgeworfen, die keinerlei größere gesellschaftliche Einflussmöglichkeiten besitzen und aus der Diskussion der offiziösen Presse und aus den öffentlichen Auseinandersetzungen der Machträger in der Gesellschaft ausgeschlossen sind".
Parallel zum Niedergang der sozialistischen Gruppen entstanden jedoch — beflügelt durch die Massenkämpfe für Abrüstung und eine "Neue Linke" im England und Frankreich der zweiten Jahrzehnthälfte — neuartige linke Bewegungen auch in Westdeutschland, die v.a. den antimilitaristischen Kampf wieder aufnahmen. Der dadurch bedingte neue Wind wehte vor allem in den regional sehr unterschiedlichen verfassten SDS. Hier waren noch Nischen des alten Nonkonformismus, Reste einer heimatlosen Linken geblieben, die sich nun mit einer neuen Generation junger Intellektueller vermischten. Studentische Gruppen organisierten v.a. 1958/59 Kongresse gegen Atomrüstung, Militarismus und Restauration. Und es entwickelte sich ab 1960 die Ostermarschbewegung, die überwiegend von nichtstudentischen Gruppen getragen wurde — von Jungsozialisten, Naturfreunden und Gewerkschaftern.

Neue Linke

Zunehmend verliefen die Trennlinien nicht mehr entlang dem Widerspruch zwischen Sozialismus und Nichtsozialismus. Es bildete sich vielmehr eine zwischen allen Stühlen sitzende "progressive Elite" (Leo Kofler), tendenziell quer zu traditionellen, sozialen und weltanschaulichen Fronten. Ein nicht unwesentlicher Teil dieses Milieus einer nonkonformistischen, gleichermaßen radikaldemokratischen wie sozialistischen Intelligenz fand nun im SDS ein organisatorisches Sammelbecken und begann, sich zunehmend gegen die Mutterpartei SPD zu verselbständigen. Eine Entwicklung, die der SPD auf ihrem Weg nach Godesberg und darüber hinaus gar nicht gefallen konnte. Sie erhöhte den administrativen Druck und setzte, als auch der Einfluss der illegalen KPD auf die SDS-Gruppen wuchs, auf Spaltung.
Zuerst entzog sie dem SDS systematisch die Finanzmittel und begann die Konkurrenzorganisation des Sozialdemokratischen Hochschulbunds (SHB) zu unterstützen. Daraufhin solidarisierten sich namhafte deutsche Intellektuelle (Lamm, Abendroth, Heydorn, Flechtheim, Brakemeier u.a.) mit dem rebellierenden SDS und gründeten die "Sozialistische Fördergesellschaft der Freunde, Förderer und ehemaligen Mitglieder des SDS" (SFG). Das war zuviel: Einen Monat später, Anfang November 1961 erklärte der SPD-Parteivorstand die Mitgliedschaft in der SFG und im SDS für unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD.
Es begann jene nachhaltige Transformation des SDS vom mehr oder weniger braven politisch-sozialen Aufsteigerverein zur rebellischen linksintellektuellen Kaderschmiede, die Zeit des sogenannten "Seminarmarxismus", in der die SDSler in Seminaren, Diskussionszirkeln und ihrem neuen Publikationsorgan neue kritik ihr Selbstverständnis als moderne, junge sozialistische Intelligenz formulierten.
Man stellte sich nun explizit in den Kontext der internationalen "Neuen Linken". Die Kritik der integrierten SPD kombinierte sich mit der Kritik an Bürokratisierung, Entpolitisierung und autoritärer Verknöcherung der herrschenden Gesellschaftspolitik und setzte auf linke Dissidenz. Opposition und Politisierung waren nun nicht mehr von Seiten der SPD zu erwarten, und immer heftiger wurde die im SDS geäußerte Kritik an den Traditionen der "Alten Linken". Die Arbeiterklasse als solche sei zwar in vielem integriert und antikommunistisch verblendet, trotzdem könnten die der bürgerlichen Gesellschaft immanenten Klassenwidersprüche nicht vollends still gestellt oder aufgehoben werden. Man müsse auch weiterhin an ihrer Politisierung arbeiten.
Damit war zwar ein politisch-theoretischer Grund gelegt, mehr aber auch nicht. Und bald schon erklangen neue, radikalere Töne. Ab 1963 grenzten sich einige SDSler zunehmend auch gegen jene erste Generation neuer Linker ab, die in Wolfgang Abendroth ihren hervorragenden Repräsentanten hatte. Auch wenn es nicht zum endgültigen Bruch kam, so war damit doch eine neue Trennlinie innerhalb der Neuen Linken gesetzt, und zwar die zwischen alt und jung.
Ein Vergleich mit der Neuen Linken anderer Länder zeigt, dass es dabei weniger um eine persönliche Fehde oder nationale Besonderheit ging, als um einen internationalen politischen Strömungsstreit, um einen politischen Generationenbruch, der sich in Westdeutschland zuerst im Streit zwischen SDS und "Sozialistischem Bund" (Abendroth, Brakemeier) 1962/63 niederschlug und hier verbunden war mit der sukzessiven Durchsetzung der Frankfurter Kritischen Theorie als einer hegemonialen Theorie auf der Linken.
Die Abkehr von den eigenen Traditionen öffnete jedoch den Blick auf jene internationale Neue Linke, die v.a. in Großbritannien und den USA ihren intellektuellen und politischen Siegeszug angetreten hatte. So brachte der Blick über den deutschen Tellerrand nicht nur die Theorien der britischen Sozialisten und die Erfahrungen aus den dortigen Abrüstungskämpfen in die BRD-Diskussion, sondern auch die neuen radikaldemokratischen Protestformen der US- amerikanischen Bürger- und Studentenbewegung, die mit direkten Aktionen ("sit-ins" u.a.) öffentlich wahrnehmbar wurden. Demokratie wurde hierbei weniger als liberal-bürgerliche Herrschaftsform verstanden, vielmehr als partizipatives, Protest, zivilen Ungehorsam, Teilhabe und Selbsttätigkeit geradezu herausforderndes Prinzip. Das gab den jungen Sozialisten die Möglichkeit, die Bande zwischen Demokratie und Sozialismus auf erneuerte Art und Weise zu knüpfen und sich gegen die bürokratisierte Arbeiterbewegung abzugrenzen. Gegeninstitutionell, gegenkulturell, antiimperialistisch und global wurden das neue Selbstverständnis und die neuen Aktionsformen zunehmend auch im deutschen SDS.

1968 und das Ende

Auch und vor allem die bundesdeutsche Gesellschaft zu Beginn der 60er schien stabil und versteinert. Doch unter der Oberfläche veränderten sich auch hier die gesellschaftlichen Bedürfnisse. Der wirtschaftliche Nachkriegsboom trieb seinem Ende zu und die obrigkeitsstaatliche Adenauer-Gesellschaft reagierte mit einer Mischung aus Beharrungsvermögen und Reformwillen.
Mit Notstandsgesetzen, einem staatsinterventionistischen Wirtschaftsprogramm und der Einführung eines Mehrheitswahlrechts wollten sich die Herrschenden auf alle Eventualitäten vorbereiten. Das rief jedoch das liberale Bürgertum auf den Plan ebenso wie die Gewerkschaften.
Während sich linke Professoren und bürgerliche Intellektuelle mit einzelnen Gewerkschaften in den Kampf gegen die Nostandsgesetze stürzten, zog auch die unabhängige Ostermarschbewegung immer weitere Kreise. Die um den SDS sich gruppierenden Studierenden radikalisierten sich parallel im Kampfe gegen die unter Reformdruck stehende zutiefst autoritär strukturierte Ordinarienuniversität und waren auch die ersten, die die neokoloniale und imperialistische Ausbeutung der Dritten Welt thematisierten und anprangerten.
Ab Mitte der 60er Jahre bekamen die verschiedenen Bewegungsstränge mit der Eskalation des Vietnamkriegs eine globale politische Klammer. Der SDS veranstaltete Aufklärungssemester, Veranstaltungen und Demonstrationen gegen den schmutzigen Krieg des "freien Westens", die Zehntausende erreichten. Und er eroberte mit seinen Thesen zur Hochschule in der Demokratie Stück für Stück die Universitäten. Man sah sich im Kampf gegen RCDS, Burschenschaften und die durch Ordinarienuniversität und geplante Notstandsgesetze versinnbildlichte "formierte Gesellschaft". Da die versteinerten Verhältnisse in der Frontstadt Berlin nicht nur eine besonders reaktionäre Schärfe annahmen, sondern gleichzeitig auch Schonräume für Nonkonformisten aller Art boten, nahm "1968" hier seinen politischen Ausgang.
Eine neue politische Generation strömte nun auch in den SDS und ließ die Diskussionen der ersten Hälfte der 60er hinter sich. Rudi Dutschke und andere radikalisierten, angespornt durch weltrevolutionäre Hoffnungen, Theorie und Praxis des SDS. Waren es auf Kuba nicht auch Studenten, die einen sozialrevolutionären Prozess in Gang gesetzt und geführt haben? Verwies das nicht auf die neue Avantgardefunktion der Intelligenz? "Die Pflicht des Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen", so das Motto des großen, von Dutschke und anderen organisierten Vietnamkongresses Anfang 1968, zu dem 5000 v.a. junge Menschen kamen. Marginalisierte gesellschaftliche Minderheiten sollten, so die antiautoritäre Strategie, in einem Prozess von Aufklärung, Provokation und Aktion die Passivität der Massen durchbrechen und eine Kulturrevolution in Gang setzen, die wiederum die Grundlage einer klassisch sozialistischen Revolution schaffen würde.
Und es schien sich zu bestätigen. Die Revolte verbreitete sich nicht nur national, sondern auch international: Berkeley, Paris, London, Mexiko-Stadt, Tokio usw. — sogar auf die Staaten des realsozialistischen Ostblocks griff die Revolte mit dem Prager Frühling über. Der Rest ist Mythos.
Doch der SDS hat seinen Höhenflug nicht lange überlebt. Seine veralteten, männerbündischen Strukturen wurden unter dem Ansturm massenhafter Eintritte zunehmend paralysiert und — v.a. von Frauen — in Frage gestellt. Außerdem lieferten sich Antiautoritäre und Partisanen der Kritischen Theorie Fraktionskämpfe mit kommunistisch beeinflussten Linkssozialisten. Solange sich die Revolte politisch verbreiterte, ging das alles noch halbwegs gut. Doch nach den unmittelbaren Niederlagen der Revolte änderte sich die Situation.
In Paris scheiterte der Generalstreik im Mai. Ebenfalls im Mai wurden im westdeutschen Parlament die Notstandsgesetze verabschiedet, woraufhin sich die Gewerkschaften politisch zurückzogen und die soziale Bewegung der letzten beiden Jahre zerbrach. Und im August beendete der sowjetische Einmarsch den Prager Frühling. War der SDS Kern einer umfassenderen sozialen Bewegung der Jahre 1966—68, so wurde er nun fast auf sich selbst zurückgeworfen.
Unter dem kombinierten Ansturm von Repression und partieller Reformen (v.a. seit der sozial-liberalen Koalition 1969) zerbrach die Revolte 1968/69 in ihre heterogenen Einzelteile. Sie konnte zwar als Kulturrevolution noch eine Jahrzehnte währende Dynamik erlangen, aber keine politisch durchsetzungsfähige sozialrevolutionäre Qualität jenseits von Reformismus und Stalinismus mehr begründen.
Das bedeutete das Aus auch für den SDS. Dessen regionale und fraktionelle Strukturen verselbständigten sich 1969 zunehmend und drifteten auseinander. Nach dem tödlichen Verkehrsunfall des letzten kreativen SDSlers Hans-Jürgen Krahl beschlossen Freunde und Genossen am 21.März 1970 die Selbstauflösung des SDS. Eine neue Epoche auch auf der Linken hatte begonnen.

Christoph Jünke

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