Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 27.09.2001, Seite 2

11.September 2001

Der doppelte Schock

Ein US-amerikanischer Kommentator fasste die Reaktionen auf den so barbarischen wie reaktionären terroristischen Akt des 11.September 2001 in den Begriff einer "stampede". Entnommen dem kollektiven Gedächtnis an die Zeit des US-amerikanischen "Wilden Westens" bezeichnet "stampede" das durch ein kollektives Schockerlebnis ausgelöste panikartige Durchgehen von ganzen Pferde- und Rinderherden, die blindlings alles überrennen, was ihnen in den Weg gerät.
Und in der Tat, wie bei einer "stampede" wurde uns keine Zeit zum schockierten Innehalten, zur mentalen Verarbeitung und zur persönlichen Trauer gelassen. Im selben ersten Atemzug, mit dem sie ihre Betroffenheit artikulierten, nahmen die Regierenden der Welt die Herausforderung an und erklärten — als ob sich dies von selbst verstehen würde — ihrerseits den Krieg, den Krieg "gegen Unbekannt". Wie bei einer "stampede" gab es kein Fragen und Zögern mehr — es galt zu reagieren, schnell und entschlossen, geschlossen und mit militärischer Gewalt. Wer zögerte und fragte, war nicht nur verdächtig, er blieb zurück, war nicht mehr Teil der Herde, die erbittert los rannte, ohne zu wissen wohin. "Wer, um Gottes Willen, ist so kaltblütig und so fanatisch?" war nunmehr die einzig erlaubte Frage, wo man doch früher zuerst verzweifelnd — und Besinnung einfordernd — ausgerufen hätte: "Was, um Gottes Willen, ist das für eine Welt, in der so etwas möglich ist?"
Das ist der doppelte Schock des 11.September 2001: der Schock über ein Attentat, das seinesgleichen sucht und der Schock über eine politische Gleichschaltung und geistige Mobilmachung, die fahrlässig weiteren Mord und Terror heraufbeschwört. Man spricht von "Ermächtigung", von "Ertüchtigung" und von "bedingungsloser Solidarität" — und man spricht nur davon. Man spricht von der "Apokalypse", von "Armageddon", dem Endkampf zwischen Gut und Böse vor dem Tage des jüngsten Gerichts. Und man spricht offen und schamlos von "Rache und Vergeltung" in einem "lang andauernden Feldzug". Ein zutiefst individuelles und rechtsstaatlich zurecht geächtetes Gefühl wird damit kollektiviert und auf politische Verhältnisse übertragen.
Gibt es einen ideologischen Kern der nun ausgerufenen "Gemeinsamkeit aller Demokraten", der "bedingungslosen Solidarität", der weltweiten politischen Gleichschaltung, dann liegt er hier verborgen und treibt sein finsteres Spiel: Politischen Kollektiven ("Amerika", "der Westen", "die zivilisierte Welt") wird unhinterfragt zugebilligt, wie Individuen zu reagieren. Doch hat man diesen Bruch mit Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit einmal anerkannt, dann ist nicht nur die Grenze zwischen individueller Trauer und politischer Vernunft verwischt. Man hat sich auch der Möglichkeit entledigt, glaubwürdig Nein zu sagen zu den militärischen Methoden, mit denen die Hegemonialmacht USA nun zurückschlagen wird. Das bezeichnet jene Falle, in der — um in Deutschland zu bleiben — SPD-Linke, Bündnisgrüne und Teile der PDS nun zappeln.

Gnade Gottes



Gott sei Euch gnädig, wir sind es nicht", so ein republikanischer Senator, der sich wie selbstverständlich auf eine westliche Zivilisation beruft, die doch wesentlich christlich ist. Was das hieße, verdeutlichten dagegen die US-amerikanischen Bischöfe, als sie erklärten, auch für diejenigen zu beten, "deren Hass so groß ist, dass sie sich im Verbrechen gegen unsere gemeinsame Menschlichkeit verstricken. Mögen sie sich endlich darüber klar werden, dass solche Gewalttaten keine Gerechtigkeit, sondern nur noch größere Ungerechtigkeit schaffen." Statt jedoch — immanent gedacht — mit christlicher Nächstenliebe zu antworten, faselt man vom "absoluten Bösen" und reagiert ganz genau so wie jener mehrfach im Fernsehen gezeigte islamistische Terrorist, der verkündet, er halte nicht auch noch die linke Wange hin, wenn er auf die rechte geschlagen werde, sondern schlage mitten ins Gesicht zurück.
Mit Christentum und Islam hat das alles also nicht viel zu tun. Und wenn es auch richtig ist, dass wir zur Zeit Zeugen eines Kampfes zwischen Zivilisation und Barbarei sind, und dass der Anschlag auf New York und Washington ein Akt der Barbarei war, so ist noch nicht ausgemacht, ob die Reaktion "des Westens" oder "der Welt" eine weniger barbarische ist. Zivilisation bezeichnete einmal die Erhebung des Menschen aus einem ungeformten, gleichsam tierischen Naturzustand, die aufgeklärt zivile Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen mittels Aufklärung und rechtsstaatlicher Verhandlungsnormen. Von solcher Zivilisiertheit ist jedenfalls nicht viel zu spüren, wenn die Anerkennung eines vermeintlichen Rechtes auf Rache und Vergeltung verlangt wird, wenn von der afghanischen Regierung die Auslieferung bin Ladens ultimativ gefordert wird, ohne das dazu notwendige Beweismaterial offen zu legen und mit der gleichzeitigen Erklärung, selbst wenn die Taliban ihn auslieferten, werde man das Land "bestrafen". Wenn dann ausgerechnet Bushs große Kriegsrede vom 21.September von bürgerlichen Journalisten gefeiert wird ("Es könnte sein", so der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, "dass diese Rede so etwas wie das Gründungsdokument dieser erneuerten Kultur werden könnte"), dann haben wir es hier mit einem klaren Fall zumindest geistiger Barbarei zu tun. Sollten den Worten entsprechende Taten folgen, hat "der Westen" jedes Recht verwirkt, von Zivilisation zu sprechen.
Alles Reden und Vorbereiten deutet jedenfalls darauf hin, dass wir mit einem entsprechend kriegerischen, lang andauernden "Feldzug" konfrontiert werden, der nicht nur nichts lösen, sondern alles verschlimmern wird.
Jener neuartige internationale Terrorismus, jenes international operierende Netzwerk um Osama bin Laden herum, auf das alles hindeutet, ist mit der nun praktizierten Politik kollektiver Selbstgleichschaltung und weltweiter militärischer Aggression schon allein deshalb nicht zu bekämpfen, weil sich jener Terrorismus aus eben diesen Quellen speist. Die Geschichte Osama bin Ladens und seines internationalen Netzwerkes ist die Geschichte der gewaltsamen Herausbildung der US-amerikanischen One World aus den Trümmern des Kalten Krieges, die klassische Geschichte des sich selbständig machenden Zauberlehrlings. Schon die bisherige Reaktion auf den Anschlag wird die vermeintlichen Gotteskrieger weltweit beflügeln. Wird das nun aufgebotene Militär auch noch eingesetzt, gilt das erst recht — egal ob bin Laden bei den Angriffen sterben oder überleben wird.
Terrorismus, gerade auch international organisierter, ist militärisch nicht zu besiegen. Wenn es denn wirklich noch eines Beweises bedarf, so spricht gerade der 11.September eine deutliche Sprache. Jährlich 30 Milliarden hat jener US-Sicherheitsapparat gekostet, der in den letzten Jahren schwerpunktmäßig ausgerechnet jenen Bin Laden und seine Gruppen verfolgte, die verdächtig werden, hinter dem Anschlag zu stehen. Seit 1995 wurden die Ausgaben im US-Haushalt für Terrorismusbekämpfung auf 12 Milliarden verdoppelt. Bereits 1998 wurden auf Afghanistan und den Sudan 80 Marschflugkörper verschossen, um Bin Laden zu töten oder seine Organisation zu erschlagen — ohne Erfolg.
Gegen Terrorismus, zumal wenn er so wahnsinnig daher kommt wie am 11.September, gibt es keine Sicherheit. Es gibt bei solchen Attentätern, auch darauf haben uns Experten hingewiesen, kein spezifisches Täterprofil, mit dessen Hilfe man solche Menschen aus der Masse heraus filtern kann. Der ehemalige Chef des israelischen Geheimdienstes betonte im Angesicht des Attentates von New York und Washington, "dass man das auch mit wenigen Menschen erledigen kann". Es bedarf — und alles Gerede vom hochgerüsteten, mächtigen Feind ist dagegen bloße Legitimationsideologie — lediglich einiger Messer und einer Minimalkenntnis von Flugsystemen, die man sich nach Angaben des Sprechers der Pilotenvereinigung Cockpit sogar mittels modernster Computerspiele aneignen kann, um solche Katastrophen auszulösen. Sicherheit hat eben mehr mit Konsens als mit Gewalt zu tun und muss auch "vor allem sozial, kulturell, ökonomisch und politisch begriffen werden", so der Bundesausschuss Friedensratschlag Kassel.

Krieg ist Frieden



Alle Aufrüstung wird nichts nutzen. Wozu also das deutsche Gerede, den USA militärischen Beistand zu leisten? Bush und co. jedenfalls haben umgehend erklärt, dass Deutschland dazu nicht notwendig ist. Wozu also sonst? Zur inneren Aufrüstung, zur materiellen und ideellen Wehrertüchtigung und zur Durchsetzung reaktionärer gesellschaftspolitischer Interessen. Neue Sicherheitsgesetze und Rahmenabkommen werden ebenso angekündigt wie weitgehende Umstrukturierungen der Haushalte — dreimal dürfen wir raten, zu wessen Gunsten. Steuererhöhungen — bisher das gesellschaftspolitische Tabu des herrschenden Neoliberalismus — sind bereits beschlossen. Von weiteren Lockerungen des Datenschutzes ist die Rede und von Verschärfungen bei der Asylpolitik.
Alles läuft darauf hinaus, wie Otto Schily und George W.Bush freimütig zugeben, die Grenzen von Polizei und Militär zu verwischen — schon immer ein vorrangiges Klassenziel der Herrschenden allüberall. Und alles läuft darauf hinaus, ein entsprechendes gesellschaftspolitisches Klima zu schüren. NRW-Ministerpräsident Clement (SPD), um nur ein besonders widerwärtiges Brandstifter-Beispiel zu geben, appellierte an türkische Eltern, ihre Töchter ohne Kopftuch in die Schule zu schicken, denn sie "sollten abwägen, ob es im Interesse des Kindes ist, ein Kopftuch zu tragen".
Die "Zivilisation" offenbart ihre dünne Haut, die bürgerliche Demokratie ihre strukturelle Labilität und die bürgerliche Klasse ihre antidemokratischen Neigungen. Die Grenze zwischen Krieg und Frieden ist verwischt, es herrscht der permanente Ausnahmezustand. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, sagt Bush, und aktualisiert damit das ur-reaktionäre Politikverständnis der Unterscheidung von Freund und Feind als Grundlage des Politischen. Wer so redet, ist nicht mit dem Endkampf zwischen Gut und Böse konfrontiert. Wer so redet, will ihn führen.
Für die Erhaltung des Friedens auf die Straße zu gehen, hieße deswegen, gegen Militarisierung und Gewalt, gegen Neorassismus und Entdemokratisierung einzutreten. Einmal mehr gilt es, demokratische Grundwerte gegen die "Gemeinsamkeit der Demokraten" zu verteidigen.
Es ist Zeit für Alternativen. Es ist Zeit, soziale, politische und ökonomische Alternativen grundsätzlicher, d.h. gesellschaftsverändernder Art zu entwickeln und politisch eingreifend zu propagieren. Den Opfern von New York und Washington kann das zwar nicht mehr helfen. Auch den bereits abzusehenden nächsten Opfern nicht. Aber vielleicht den übernächsten.

Christoph Jünke

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