Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 27.09.2001, Seite 11

Ein fürchterlicher Kreislauf der Gewalt

Interview mit Noam Chomsky

Das folgende Interview führte Radio B92 aus Belgrad mit dem bekannten US-amerikanischen Linguisten und Kritiker der US-Politik.


• Warum sind diese Anschläge geschehen?

Noam Chomsky: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst die Ausführenden der Verbrechen identifizieren. Es wird, plausiblerweise, allgemein angenommen, dass ihr Ursprung im Nahen Osten liegt und dass die Anschläge wahrscheinlich auf das Netzwerk Osama Bin Ladens zurückgehen, eine weit verbreitete und komplexe Organisation, die zweifellos von Bin Laden inspiriert ist, aber nicht notwendigerweise unter seiner Kontrolle agiert. Nehmen wir an, dass dies wahr ist.
Dann würde eine verständige Person zur Beantwortung Ihrer Frage versuchen, die Auffassungen von Bin Laden sowie die Gefühle der großen Schar von Anhängern zu ergründen, die er in der Region hat. Darüber besitzen wir eine Menge Informationen. Bin Laden ist in den letzten Jahren von verlässlichen Nahostspezialisten ausführlich interviewt worden.
Bin Laden, ein saudi-arabischer Millionär, wurde zu einem militanten islamischer Führer im Krieg gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans. Er war einer der zahlreichen religiös-fundamentalistischen Extremisten, die vom CIA und dem damit verbündeten pakistanischen Geheimdienst rekrutiert, bewaffnet und finanziert wurden, um den sowjetischen Besatzern maximalen Schaden zuzufügen — wobei sie deren Rückzug damit möglicherweise verzögert haben, wie viele Beobachter vermuten. Ob Bin Laden persönlich direkten Kontakt mit dem CIA hatte, ist unklar und auch nicht besonders wichtig.
Es überrascht nicht, dass der CIA die fanatischsten und grausamsten Kämpfer bevorzugte. Das Endresultat war "die Zerstörung eines moderaten und die Schaffung eines fanatischen Regimes von Gruppen, die leichtsinnig von den Amerikanern finanziert wurden" (Simon Jenkins, Korrespondent der London Times). Diese "Afghanen", wie sie genannt wurden (viele, wie Bin Laden, waren nicht aus Afghanistan), führten terroristische Aktionen über die Grenze zur Sowjetunion hinaus durch, aber sie hörten damit auf, als die sowjetischen Truppen abzogen.
Die "Afghanen" beendeten jedoch nicht ihre Aktivitäten. Sie schlossen sich bosnischen Muslimen während der Balkankriege an; die USA hatten keine Einwände, so wie sie auch die iranische Unterstützung für die bosnischen Muslime tolerierten. Die "Afghanen" kämpfen auch gegen die Russen in Tschetschenien. Bin Laden und seine "Afghanen" wandten sich gegen die USA erst, als diese dauerhafte Stützpunkte in Saudi-Arabien etablierten. Aus Bin Ladens Sicht war das eine Parallele zur sowjetischen Besetzung Afghanistans, aber weit bedeutender, denn Saudi-Arabien besitzt einen besonderen Status als Bewahrer der heiligsten Schreine.
Bin Laden ist auch ein entschiedener Gegner der korrupten und repressiven Regime der Region, die er als "unislamisch" betrachtet, darunter das saudi-arabische Regime, das abgesehen von den Taliban das extremste islamisch-fundamentalistische Regime in der Welt und von Anfang an ein enger Verbündeter der USA gewesen ist.
Bin Laden verachtet die USA für ihre Unterstützung dieser Regime. Wie andere in der Region ist er auch über die anhaltende US-Unterstützung für Israels brutale militärische Besetzung Palästinas empört. Und wie andere kontrastiert Bin Laden Washingtons entschiedene Unterstützung dieses Verbrechens mit der nunmehr zehnjährigen amerikanisch-britischen Aggression gegen die Zivilbevölkerung des Irak, die die Gesellschaft verwüstet und Hunderttausenden den Tod gebracht hat, während Saddam Hussein dadurch gestärkt wurde.
Das Wall Street Journal veröffentlichte am 14.9. eine Untersuchung über die Meinung reicher, privilegierter Muslime in der Golfregion — Bankiers und Geschäftsleute mit engen Verbindungen zu den USA. Sie drückten dieselben Auffassungen aus: Groll über die US- Unterstützung für israelische Verbrechen und die jahrelange Blockade eines internationalen Konsenses über eine diplomatische Lösung, während die USA zugleich die Gesellschaft des Irak zerstören und repressive antidemokratische Regime in der Region unterstützen. Bei der großen Mehrheit der Menschen, die unter Armut und Unterdrückung leiden, sind diese Gefühle noch stärker, sie sind Quelle von Wut und Verzweiflung und haben zu Selbstmordattentaten geführt — das wissen alle, die an den Fakten interessiert sind.
Die USA und viele im Westen ziehen eine tröstlichere Sichtweise vor. Laut New York Times vom 16.9. waren die Attentäter vom "Haß gegen die westlichen Werte wie Freiheit, Toleranz, Wohlstand, religiöser Pluralismus und allgemeines Wahlrecht" getrieben. Die Handlungsweise der USA ist irrelevant und bedarf nicht einmal einer Erwähnung (Serge Schmemann). Das ist eine bequeme Vorstellung, und diese Haltung ist in der Geschichte nicht ungewöhnlich; sie kommt der Norm sogar ziemlich nahe. Sie steht vollständig im Widerspruch zu allem, was wir wissen, aber sie hat den Vorzugs, daß sie sich selber schmeichelt und den Mächtigen kritiklos huldigt.
Es ist auch weitgehend bekannt, dass Bin Laden und seinesgleichen nichts lieber sehen als einen großen Angriff gegen muslimische Staaten sie erhoffen sich davon Zulauf von weiteren Fanatikern. Der eskalierende Kreislauf der Gewalt wird typischerweise von den brutalsten Elementen auf beiden Seiten begrüßt, eine Tatsache, die gerade am Beispiel der jüngsten Geschichte des Balkans wieder beobachtet werden konnte.

• Erwarten Sie, dass die USA ihre Politik gegenüber dem Rest der Welt grundlegend ändern?

Noam Chomsky: Ihre anfängliche Antwort war ein Aufruf zur Verschärfung just der Politik, die zur Wut und zu dem Groll geführt haben, die den Terroranschlag schließlich motivierten. Die Regierung folgte verstärkt den Vorschlägen der "Falken" in der Führung: zunehmende Militarisierung, repressive Kontrolle im Innern, Angriffe auf Sozialprogramme. Das alles war zu erwarten. Terroranschläge und der eskalierende Kreislauf der Gewalt, den sie oft hervorbringen, neigen dazu, die Autorität und das Prestige der repressivsten Elemente einer Gesellschaft zu stärken. Aber eine Unterwerfung unter diesen Kurs ist nicht unvermeidlich.

• Nach dem ersten Schock kam die Furcht, wie die Antwort der USA aussehen würde. Haben Sie auch Angst?

Noam Chomsky: Jeder müsste Angst vor der wahrscheinlichen Reaktion haben — sie wurde bereits angekündigt und sie wird wahrscheinlich die Gebete Bin Ladens erhören. Die Spirale der Gewalt wird dadurch angezogen werden, doch diesmal in einem weit größeren Ausmaß.
Die USA haben gefordert, dass Pakistan die Lieferung von Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen einstellen soll, die wenigstens einige der hungernden und leidenden Menschen Afghanistans am Leben erhält. Wenn diese Forderung durchgesetzt wird, wird eine unbekannte Anzahl von Menschen, die nicht die entfernteste Verbindung zum Terrorismus haben, sterben, vielleicht Millionen. Dies hat nicht einmal etwas mit Rache zu tun. Das ist eine noch weit niedrigere moralische Ebene. Die Sache wird dadurch noch krasser, dass diese Forderung im Vorübergehen geäußert wurde, ohne Kommentar, wahrscheinlich nahm kaum jemand Notiz davon. Wir können über die Betrachtung der Reaktionen auf die Forderung eine Menge über den Grad an Moral in der herrschenden intellektuellen Kultur des Westens lernen. Ich denke, wir haben Gründe anzunehmen, dass das amerikanische Volk vollständig abgestoßen wäre, wenn es nur die geringste Vorstellung davon hätte, was in seinem Namen geschieht.
Wenn Pakistan dieser oder anderen Forderungen der USA nicht nachkommt, könnte es ebenfalls direkt angegriffen werden — mit unbekannten Folgen. Wenn Pakistan sich den US-Forderungen unterwirft, ist es nicht unmöglich, dass seine Regierung von Taliban-ähnlichen Kräften gestürzt wird — die in einem solchen Fall über Nuklearwaffen verfügen würden. Dies könnte Auswirkungen auf die ganze Region, einschließlich der Ölförderstaaten, haben. Damit stehen wir vor der Möglichkeit eines Krieges, der einen großen Teil der menschlichen Gesellschaft zerstören kann.
Auch ohne dem ist es wahrscheinlich, dass ein Angriff auf Afghanistan die Auswirkungen haben wird, die die meisten Experten erwarten: er wird Bin Laden eine große Zahl weiterer Anhänger zuführen, wie dieser hofft. Selbst wenn er getötet wird, macht das kaum einen Unterschied. Seine Stimme wird auf Kassetten zu hören sein, die in der ganzen islamischen Welt verbreitet werden, und er wird wahrscheinlich als Märtyrer verehrt werden und dabei andere inspirieren. Man sollte sich daran erinnern, dass ein Bombenanschlag — ein Lkw wurde in eine US-Militärbasis gefahren — vor 20 Jahren die größte Militärmacht der Welt veranlasst hat, sich aus dem Libanon zurückzuziehen. Die Gelegenheiten für solche Angriffe sind zahllos, und Selbstmordanschläge sind kaum zu verhindern.

• Es heißt, "die Welt wird nie wieder dieselbe sein nach dem 11.9.2001". Sehen Sie das auch so?

Noam Chomsky: Diese schrecklichen Anschläge sind etwas ganz Neues in der Weltpolitik — nicht ihrem Ausmaß und ihrem Charakter, aber ihrer Zielsetzung nach. Für die USA ist es das erste Mal seit dem Krieg von 1812 [gegen Großbritannien], dass ihr nationales Territorium angegriffen wurde. Seither wurden ihre Kolonien angegriffen, doch nicht das nationale Territorium. In diesen Jahren haben die USA faktisch die indigene Bevölkerung ausgerottet, halb Mexiko erobert, gewaltsam in die umgebenden Region eingegriffen, Hawaii und die Philippinen erobert (dabei Hunderttausende Filipinos getötet) und vor allem im letzten halben Jahrhundert ihre Gewaltanwendung auf große Teile der Welt ausgedehnt. Die Zahl der Opfer ist kolossal. Nun haben sich zum ersten Mal die Waffen in die andere Richtung gedreht.
Dasselbe gilt, wenn auch weniger dramatisch für Europa. Europa hat mörderische Zerstörungen erlitten, aber durch innere Kriege, während es mit erheblicher Brutalität einen großen Teil der Welt erobert hat. Von seinen Opfern außerhalb ist es bis auf wenige Ausnahmen (die IRA in England bspw.) nicht angegriffen worden. Es ist daher verständlich, dass die Nato den USA Hilfe leisten soll: Jahrhunderte imperialer Gewalt haben einen gewaltigen Einfluss auf die intellektuelle und moralische Kultur.
Wie der Westen reagieren wird, ist von größter Bedeutung. Wenn die Reichen und Mächtigen an ihren jahrhundertealten Traditionen festhalten und Zuflucht zur Gewalt nehmen, werden sie die Eskalation der Gewalt betreiben, mit langfristigen Folgen, die fürchterlich sein können. Selbstverständlich ist das keinesfalls unvermeidlich. Eine aufgeweckte Öffentlichkeit in den freieren und demokratischeren Gesellschaften kann die Politik auf einen humaneren und ehrenvolleren Kurs bringen.

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