Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 11.10.2001, Seite 12

Nikaragua vor der Kehrtwende?

Hungersnot im Norden: eine Chance für die Sandinisten

Dass Nikaragua seit der mit der Abwahl der Sandinisten eingeleiteten Wende vor etwas mehr als elf Jahren direkt hinter Haiti zum Armenhaus Lateinamerikas geworden ist, ist inzwischen in interessierten Kreisen hinlänglich bekannt. Den Grund dafür bildet der völlige Zusammenbruch des auf Agroexport beruhenden Wirtschaftsmodells, dem die durch und durch korrupte Regierung Arnoldo Alemáns den Todesstoß gegeben hat. Für die Sandinisten bietet sich nach einem möglichen Wahlerfolg die Chance eine wirtschaftspolitische Wende einzuleiten.
Der durch den Privatisierungsschub der 90er Jahre eingeleitete Bankrott von sechs Privatbanken und zwei Staatsbanken ist dabei ebenso als Symptom zu werten wie die Hungersnot, die sich in den letzten Monaten im Norden des Landes ausgebreitet hat.
Beide Phänomene treffen die von der Liberalen Partei Alemans kontrollierten Viehzüchterregionen Chinandega, Jinotega und Chontales ebenso hart wie die von den Sandinisten angeführten Gemeinden in Matagalpa, Nueva Segovia und Estelí — wenngleich auch aus unterschiedlichen Gründen: Die Hungersnot in den von Aleman kontrollierten Gebieten geht vor allem auf die Trockenheit als Folge des Zusammenbruchs der Ökosysteme und auf den schon seit Jahren bestehenden Verfall der Baumwoll- und Zuckerpreise zurück.
In Matagalpa und Estelí ist dagegen vor allem der kometenhafte Absturz der Kaffeepreise von 160 auf 52 Dollar pro Quintal, der Zehntausende Produzenten und Landarbeiter an den Rand ihrer physischen Existenz geführt hat.
In den weitläufigen Kaffeeregionen Matagalpas ist die Lage besonders dramatisch. Seit Anfang Juli haben Zehntausende Landarbeiter ihre angestammten Kaffeefincas verlassen. Einige von ihnen sind in den Parque de los Monos, einem der zentralen Plätze der Provinzhauptstadt Matagalpa geflohen.
Von dort rücken sie täglich zu den nahegelegenen Müllhalden der Großmärkte aus, um in den Abfällen einige schmutzige Salatblätter oder halbverfaulte Avocados für sich und ihre Familienangehörigen herauszufischen. Nur hier und da kommt ein von privaten Spendern mit Reis und Bohnenpaketen gefüllter Lastwagen vorbei, der wie ein Magnet hunderte gieriger Hände an sich zieht. "Ich habe mindestens fünf Kriege miterlebt und weiß, was es heißt, auf der Flucht zu sein, aber so etwas habe ich noch nie erlebt", sagt ein 106-jähriger Landarbeiter aus Tuma, der bei der Lebensmittelverteilung wieder einmal zu spät kommt.

Massenexodus aus den Kaffeeplantagen

Nachdem jetzt — viel zu spät, aber doch — in den Abendstunden oft tropische Gewitter über die ausgezehrte Menschenmenge hereinbrechen, marschieren die Leute auf den Kalvarienberg, den höchsten Gipfel in der nebelverhangenen Berglandschaft von Matagalpa. Dort finden sie meist unter den Plastikplanen und in den Kartonhütten derer Unterschlupf, die schon vor sechs Monaten hierher gezogen sind, weil auf den Kaffefincas für sie kein Platz mehr war.
Noch schlimmer geht es den Tausenden Menschen, die auf der Landstraße nach La Dalia Straßensperren, sog. Tronques, errichtet haben, an denen sie den spärlichen Reiseverkehr aufhalten, um eine kleine Spende zu erbetteln. Sie haben ihre Haciendas — oft auf Druck der Eigentümer — verlassen müssen, nachdem ihre Vorräte an Mangos und Kochbananen zur Neige gegangen waren. "Gerade gestern sind wieder drei Kinder gestorben", schreit eine Frau, der die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben steht, "ich kann euch zeigen, wo die Alten sind, die zu schwach waren, um mit uns mitzukommen."
Fragen nach der Caritas und dem Roten Kreuz oder gar nach Unterstützung der Regierung werden nur noch mit einem empörten Geschrei beantwortet. Bei der traditionellen Santo-Domingo-Feier im Fernsehen hatte der bereits betrunkene Präsident Alemán bestritten, dass es in Nikaragua eine Hungersnot gäbe.
Als eine Journalistin von der Oppositionszeitung El Nuevo Diario nachhakte und darauf verwies, dass der Chef des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen gerade erklärt hatte, dass allein im Gebiet von Tuma und La Dalia etwa 12.000 Menschen an akutem Hunger leiden, fasste sie der schwergewichtige Präsident am Handgelenk und schrie sie an: "Das sagst du nur, weil du eine gottverdammte Sandinistin bist."
Aber auch die graue Eminenz der nikaraguanischen Politik, der über 70-jährige Kardinal Miguel Obando y Bravo, hatte am Santo-Domingo-Tag erklärt, dass es sich bei den Hungerleidenden um eine "politisch manipulierte Masse" handele.
Aus dem gleichen Grund lehnte es auch der Caritas-Chef von Matagalpa, Reynaldo Hernández, ab, an den Straßensperren Nahrungsmittel zu verteilen. "Die können ja da gar nicht kochen und die Spender haben uns den Auftrag gegeben, die Lebensmittel in den Gemeinden zu verteilen."
Dass viele von ihnen dort stehen, weil sie von den EigentümerInnen der Haciendas herausgeworfen wurden streitet Hernández ab: "Das stimmt nicht, das ist ein Missverständnis."
Während wir in La Dalia auf den jungen sandinistischen Bürgermeister Manuel Zuniga warten, dessen Büro eher einem Kinderspital als einer Amtsstube gleicht, fällt unser Blick auf die riesigen Getreidesilos, die noch aus der Zeit Anastasio Somozas stammen. Auch hier haben in dem stockdunklen Kammern Dutzende Familien Unterschlupf gefunden.

Auslöser der Wirtschaftskrise

Dass die Not erfinderisch macht, entdecken wir auch, als wir den Hintergründen der Hungerkatastrophe nachgehen. So erzählt uns Manuel Zuniga von den aufgeweckten Brüdern Centeno Roque, die in den letzten beiden Jahren anscheinend einen großen Teil des Vermögens der sandinistischen Unternehmer verwaltet und verwertet hatten, indem sie zweistellige Millionen-Dollar-Beträge ausgerechnet in jenen Kaffee investiert hatten, dessen Preise jetzt unterhalb des Kostenniveaus der Produzenten gefallen sind.
Dabei rückversichterten die Centenos das von ihnen geleitete Finanzierungsunternehmen Agrosami bei der Interbank, eines jener Bankunternehmen, die nach der Wende des Jahres 1990 aus dem Boden geschossen sind.
Als die Interbank dann auf das Vermögen der Agrosami zurückgreifen wollte, stellte sich heraus, dass das Brüderpaar zur Sicherstellung ihrer Kredite ganze Lager mit angeblichem Café Oro hinterlegt hatten, der sich bei näherem Hinsehen als reiner Schrott entpuppte.
Während jedoch die Centenos nach dem Bankrott der Interbank nicht weiter behelligt wurden — wohl deshalb, weil sie auch einen Teil der riesigen Privathacienda des Präsidenten Alemán mitfinanziert hatten, landete Francisco Mayorga, der Generaldirektor der Interbank und ehemalige Nationalbankchef der Regierung Violeta Chamorros (1990—1996) hinter Gittern.
In der Folge brach die Spekulationskette Centeno-Agrosami-Interbank, die auch die halbstaatliche Bancafè wesentlich mitfinanziert hatte, derart rasch in sich zusammen, dass die Kaffeproduzenten und deren ausgebeutetes Reserveheer an Landarbeitern auf der Strecke blieben.
Auch die Sandinisten hatten aufgrund ihrer Verwicklung denkbar wenig Interesse daran, die finanzpolitische Katastrophe an die große Glocke zu hängen. Tatsächlich wurde die Situation in Matagalpa erst dann zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung im Präsidentenwahlkampf, als einige Dutzend Familien einer von Quäkern besiedelten Hacienda Anfang Juli beschlossen, in den Parque de los Monos zu ziehen, weil die Lage für sie unerträglich geworden war.
Seither sind die ehemals blühenden Kaffeehaciendas zu Geisterdörfern geworden und hunderte Landarbeiter ziehen über die Landstraßen des Nordens, wo sie immer häufiger Campesinos begegnen, die von anderen Plagen heimgesucht worden sind: aus dem acht Autostunden von Matagalpa entfernten Waslala sollen hunderte Familien vor Ratten geflohen sein, die die Kleinstadt befallen haben. In Teilen der Provinzen Estelí, Nueva Segovia und Chinandega wiederum sind die Bauern aufgrund der lange anhaltenden Dürre und des akuten Wassermangels zur Untätigkeit verurteilt.

Die Not als Chance

In der Hauptstadt Managua hingegen, wo der Wahlkampf für die am 4.November stattfindenden Präsidentschaftswahlen auf vollen Touren läuft, ist die Hungerkatastrophe im Norden zum wichtigsten Thema der politischen Überlegungen geworden.
Die meisten Politökonomen sind sich jetzt darüber einig, dass der historische Fehler aller Regierungen (auch der Sandinisten, die das Land von 1979 bis 1990 regierten) darin bestand, ein auf Agroexport ausgerichtetes Wirtschaftsmodell voranzutreiben. Dieses sicherte den Händlern und Weiterverarbeitenden in den Empfängerländern des Nordens einen bis zu 1000-prozentigen Mehrwert — vor allem beim Kaffee — während die Produzenten in den Ländern des Südens in eine immer größere Abhängigkeit zum größtenteils privatisierten Kreditwesen gerieten.
Die Kaffeekrise in Nikaragua (wie auch im übrigen Mittelamerika, inkl. Mexiko) ist also nicht nur auf einen vorübergehenden Konjunktureinbruch zurückzuführen, den vor allem die Konkurrenz des billigeren Tieflandkaffees aus Brasilien oder Vietnam im Zeichen der Globalisierung verursacht hat.
Sie legt vor allem das Grundübel eines weltmarktorientierten, durch und durch landwirtschaftsfeindlichen Wirtschaftssystems offen, das sich zu 80% an den Profitinteressen des internationalen Finanzsystems orientiert und dabei die Bedürfnisse der Menschen völlig vernachlässigt.
"Der Campesino muss in einem Land wie Nikaragua zum tragenden Subjekt der Geschichte werden", fordert deshalb Orlando Núñez vom sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum CIPRES, dessen grundsätzliche Kritik am ehemaligen Konzept der Sandinisten jetzt auch bei der Führung der sandinistischen Partei FSLN auf offene Ohren gestoßen ist.
"Es geht nicht darum, die kleinen und mittleren Produzenten in das Korsett kollektivistischer Staatsbetriebe zu zwängen und sie zu den Proletariern der Geschichte machen zu wollen. Wir müssen eine Alternative finden, die dem Umstand Rechnung trägt, dass sich 70% des bebaubaren Landes von Nikaragua aufgrund der sandinistischen Agrarreform bereits im Eigentum der Klein- und Mittelbauern befinden. Der Staat hätte nunmehr die Pflicht, die Kleinbauern beim Aufbau von Handels- und Produktionskooperativen zu unterstützen, um eine diversifizierte Landwirtschaft zu ermöglichen, deren Grundlage die Subsistenz ist", sagt Núñez.
Es ist nicht das erstemal, dass in Nikaragua an solchen Alternativen gearbeitet wird: sowohl die staatliche Universität UNAN-Managua als auch die Experten der katholischen Privatuniversität UCA haben in den letzten Jahren an diesen oder ähnlichen Konzepten gearbeitet. Zahlreiche in- und ausländische Nichtregierungsorganisationen, haben in vielen kleinen Pilotprojekten die Realisierbarkeit eines solchen Vorhabens unter Beweis gestellt.
Sie alle sind aber in der Vergangenheit bei den Politikern immer wieder auf taube Ohren gestoßen — insbesondere seit der Wende 1990, ab der es überhaupt keine ernstzunehmende staatliche Landwirtschaftspolitik mehr gegeben hat.
Wie in fast allen Ländern Lateinamerikas ist an ihre Stelle die neoliberale Ideologie der Großgrundbesitzer getreten, die zu Bankiers ihres eigenen Grundbesitzes geworden sind und dadurch die Volkswirtschaft als solche völlig ruiniert haben.
Die gleichzeitige Anhäufung von Krisen (der Agroexportkrise, der Finanz- und Bankenkrise, der Schuldenkrise etc.) hat in Verbindung mit der unbeschreiblichen Korruption der Regierung Aleman Nikaragua in den ökonomischen Abgrund geführt.
Deutlich wie noch nie zeigen sich das Ende einer Ära und die Grenzen jener Wirtschaftspolitik an, die den Mächtigsten und Reichsten dieser Welt zuarbeitet.
Sie zeigt aber auch jenseits der durchaus notwendigen Katastrophenhilfe die Chance, mit der die Sandinisten und ihr Spitzenkandidat Ortega eine radikale (wirtschafts)politische Kehrtwende vollziehen könnten. Bei einem entsprechenden Wahlausgang wäre dieses Land also — zum zweitenmal in einem Vierteljahrhundert — für eine riesige Überraschung gut.

Leo Gabriel

Leo Gabriel ist Mitarbeiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für zeitgenössische Lateinamerikaforschung.



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