Sozialistische Zeitung |
1 Die größte Gefahr geht gegenwärtig von der "Angst vor der Globalisierung" aus. Diese Angst wird gemacht und geschürt,
sie ist das Resultat eines Missbrauchs des Bündels von diskutablen und interpretationsbedürftigen Fakten und Tendenzen, das wir "Globalisierung" nennen. Das
ideologische Zerrbild von der Globalisierung als "Naturgewalt" gilt es ebenso zu kritisieren wie das ihr zugrunde liegende Bild von der sozialen Welt als "Markt", der
von den "Finanzmärkten" bzw. "Finanzströmen" regiert werde.
2Globalisierung ist nichts Neues. Wir befinden uns gegenwärtig in der fünften oder sogar sechsten Phase eines langfristigen
Globalisierungsprozesses, der die Geschichte des modernen Kapitalismus von Anfang an bestimmt. Der historische Vergleich zeigt: Globalisierungen gingen mit heftigen Umbrüchen
einher, waren daher stets umkämpft; der Ausgang dieser Kämpfe war offen: Die Sache konnte auch schief gehen, d.h. in große regionale oder globale Krisen und Kriege
münden.
3Da die heutige Globalisierung die Nationalstaaten angeblich handlungsunfähig macht, sehen heute viele die Demokratie selbst in Gefahr. Den
Mythos vom "ohnmächtigen" Staat muss man richtig stellen. Ohnmächtige Staaten und Regierungen gibt es in einigen Randzonen der Weltwirtschaft, nicht in den
Kernzonen der Triade (Europa, Nordamerika, Südostasien). Allerdings haben gerade dort die traditionellen "Staatsgrenzen" rapide an Bedeutung verloren, woraus folgt, dass
die Staaten anders operieren müssen als früher, nämlich zur Kooperation mit ihren unmittelbaren und mittelbaren Nachbarstaaten gezwungen sind. Diese Umorientierung der
Politik ist in Europa am weitesten fortgeschritten.
4 In den reichen Ländern des "Nordens" ebenso wie in den armen Ländern des "Südens" gibt es
Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer. Chancen und Risiken der Globalisierungsprozesse sind sozial und räumlich/geografisch sehr ungleich verteilt. Bei uns, in EU-
Europa, gehören die starken Exportländer wie die Bundesrepublik Deutschland oder Frankreich überwiegend zu den Globalisierungsgewinnern. Aber bei uns sind keineswegs
alle Unternehmer oder Unternehmen automatisch Globalisierungsgewinner und ebenso wenig sind alle Arbeitnehmer Globalisierungsverlierer. Die besten Chancen zu den
Globalisierungsgewinnern zu gehören hat heute, wer in einem der Kernländer der Triade lebt, jung und gesund ist, gut ausgebildet und hochqualifiziert, und dazu in einer der
Hightech-Zukunftsindustrien (in der Regel eine Kombination von verarbeitendem Gewerbe und hochspezialisierten Dienstleistungen) arbeitet. Das ist eine kleine Minderheit.
Globalisierungsverlierer gibt es dagegen in vielen Formen und Abstufungen. Nicht zu vergessen die große Mehrheit derjenigen, die von der ökonomischen Globalisierung gar nicht
bzw. nur gelegentlich am Rande berührt werden.
5Die gegenwärtige Globalisierung hat die soziale und ökonomische Ungleichheit weltweit erheblich verschärft. Nicht nur zwischen den
Ländern und Großregionen, auch innerhalb der einzelnen Länder und Regionen. Das Wachstum der Armut in vielen Formen, der alten wie der "neuen", ist eins
der wenigen, wirklich globalen Phänomene. In der Regel sind in den noch immer reichen Wohlfahrtsstaaten Europas die Armen im Unterschied zur urbanen "Unterklasse" in
Nordamerika und vielen Ländern der Dritten Welt noch gut sozial integriert. Der Abbau des Wohlfahrtsstaats kann das rasch ändern.
6Die gegenwärtige Globalisierung hat einige traditionelle globale Risiken nicht beseitig bzw. erhöht und uns zusätzlich neue globale
Bedrohungen beschert. Agrarkrise, Ölkrise, Schuldenkrise, Umweltkrise sind keineswegs gebändigt, ihre Reichweite ist heute erheblich größer als Anfang der 80er
Jahre. Im Gegensatz zu allen Prophezeiungen sind Krisen auf den internationalen Finanzmärkten (Lateinamerika- und Asien-Krise sind die jüngsten Beispiele) regional begrenzt
geblieben. Was allerdings in der Tat heute globale Reichweite hat und eine alltägliche Bedrohung in den reichen wie in den armen Ländern darstellt, das sind die schwarzen
Weltmärkte (für Waffen, Drogen, Menschen, Müll, schwarzes Geld), die allesamt von verschiedenen Nationalstaaten im "Norden" wie im
"Süden" in Gang gehalten werden.
7 Die europäische Integration, erheblich beschleunigt durch den Übergang zum Euro in den Jahren 19992002, ist zugleich eine Reaktion
auf den jüngsten Schub der Globalisierung und ihr mit Abstand stärkster Ausdruck. Nirgendwo sonst ist die grenzüberschreitende Integration und die regionale Kooperation
von Nationalstaaten so weit fortgeschritten und so stark institutionalisiert wie in EU-Europa. EU-Europa stellt im Vergleich zur NAFTA- oder ASEAN- oder Mercosur-Zone eine Region dar, die
ökonomisch und sozial, selbst politisch weit homogener ist, in der daher die Chancen der Globalisierung weit gleichmäßiger verteilt sind. Die liegen für die
Europäer selbst in aller erster Linie in der Großregion Europa einschließlich Zentral- und Osteuropa. Europa verfügt auch als einzige Region über
komplexe Institutionen, die mehr oder weniger darauf zugeschnitten sind, mit den unbestreitbaren Risiken der Globalisierung fertig zu werden die europäischen Wohlfahrtsstaaten
nämlich.
8 Wirklich globale ökonomische Akteure gibt es im Moment nur wenige, ebenso wie es nur wenige echte Weltmärkte gibt. Selbst die
internationalen Finanzmärkte sind im Moment noch alles andere als global. Die Globalisierung bleibt gegenwärtig sehr weit hinter ihren technologischen Möglichkeiten
zurück, wofür es gute ökonomische und politische Gründe gibt. Die Daten weisen alle darauf hin, dass die Globalisierungsprozesse (im Blick auf den internationalen
Handel, die internationalen Kapitalbewegungen, die internationalen Finanzströme, die internationale Migration usw.) nicht nur sehr ungleichmäßig verlaufen, sondern zeigen
auch, dass einige dieser Prozesse ihren Höhepunkt schon überschritten haben. Folglich werden wir uns vernünftigerweise auf eine Welt aus drei großen Handels- und
Währungszonen einzurichten haben, die auf absehbare Zeit von keiner kapitalistischen Vor- oder Hegemonialmacht mehr zu dominieren sein wird.
9 Von den Außenseitern wie von den Hauptakteuren der kapitalistischen Weltwirtschaft haben sich bis heute nur diejenigen gut behauptet bzw. von
Globalisierungsprozessen profitieren können, die über einen starken Staat verfügten (wie China, wie Japan, wie Singapur, wie Korea, wie Taiwan etc.). Diese Länder
haben sich in der Regel nicht gescheut, ihren starken Staat auch einzusetzen zur systematischen Förderung ihrer industriellen Entwicklung. Die neuen, potenziell starken und potenziell
globalen Spieler in der Weltökonomie sind alle vom Staat hervorgebracht worden. Wie das übrigens, entgegen den herrschenden Legenden, auch mit dem europäischen
Kapitalismus der Fall war.
Michael R. Krätke
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