Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 11.10.2001, Seite 16

Goethe und der Islam

Mit der freundlichen Genehmigung des Autors veröffentlichen wir einen Auszug aus dem Nachwort, das Peter von Arnim für Katharina Mommsens Buch "Goethe und der Islam" (Insel-Taschenbuch, 2001) verfasst hat.

Goethes eingehende Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt des Islam führt uns in zwei Problembereiche hinein, die heute von größerer Aktualität sind denn je. Der eine betrifft das Verhältnis der Deutschen zu jenen über drei Millionen von Mitbürgern, welche sie, aufgrund ihrer von deutschen Traditionen abweichenden Religion, als "Ausländer" oder "Fremde" wahrnehmen und behandeln, und, in hintergründiger Weise, ihr Verhältnis zu Goethe selbst. Der zweite betrifft das Verhältnis der Muslime in aller Welt zu ihrer eigenen Religion und zu den Herrschern und geistlichen Würdenträgern, die im Namen des Islam politische Macht ausüben oder eine solche für sich beanspruchen.
Wer sich vor Augen hält, dass Goethe während der Arbeit an einem seiner bedeutendsten Werke, dem West- östlichen Divan, sich eingehend mit dem Islam befasst, ja sich rundheraus zu ihm bekannt hat, wer sich dann vielleicht noch an den Hymnus aus des Dichters Jugendzeit mit dem Titel "Mahomets Gesang" erinnert, ein Preislied auf jenen Propheten, als dessen Verdienst Goethe erkannte, Millionen von Menschen zum Glauben an den einen Gott bekehrt zu haben, der wird sicher gern Näheres erfahren wollen über die Gründe für Goethes bemerkenswertes Interesse an dieser uns angeblich so fremden Religion. Wer dann aber auf den Einfall käme, in der einschlägigen Goethe-Literatur nach dem Stichwort Islam zu suchen oder gar nach dem Stichwort Koran, dem erginge es wie einem, der ausgezogen ist, im Trockenen zu fischen. In den meisten Goethe-Biografien werden die beiden Begriffen Islam und Koran so sorgfältig umgangen, als handle es sich um die Erwähnung des Gottseibeiuns. […]
Als markantestes Beispiel für diese Schieflage sei die Goethe-Biografie mit der zurzeit vermutlich weitesten Verbreitung, die Rowohlt-Monografie von Peter Boerner, angeführt. Zum West-östlichen Divan wird dort schamhaft erklärt, eines der darin behandelten Themen sei "westliche und östliche Religion". Als ob es eine Schande wäre, vom Islam zu sprechen! Nun gut, "östliche" Religion. Aber was soll man daneben unter der "westlichen" Religion verstehen?
Weder von der germanischen Götterwelt der Walhalla, von der Goethe sowieso nicht viel hielt, noch von der griechischen des Olymp ist im Divan auch nur andeutungsweise die Rede. Sollte mit "westlicher Religion" jedoch das Christentum gemeint sein, so möge man sich daran erinnern, dass Christus ein Jude war, der aus dem östlichen Lande Palästina stammte. Goethe selbst hat jedenfalls diese Tatsache nie aus den Augen verloren und hat in seinem Divan und den zugehörigen "Noten und Abhandlungen" klar zum Ausdruck gebracht, dass er die beiden in der Bibel offenbarten Religionen Judentum und Christentum, in gleicher Weise wie den im Koran offenbarten Islam selbstverständlich der Welt des Orients zurechnete; die Rede vom "christlichen Abendland" lag ihm noch fern.
Nein, die Vorstellung einer "westlichen Religion", die im Divan einer "östlichen" Religion entspräche, ist abwegig, auch wenn Goethe seine Gedichtsammlung West-östlicher Divan genannt hat. Die genaue Bedeutung dieses Titels geht aus dessen arabischer Version hervor, die der Dichter seinem Werk hat beifügen lassen: "ad-Diwân asch-scharqî lil Mu‘allif al-gharbî" bedeutet wörtlich: "Der östliche Divan des westlichen Verfassers".
Jener östliche Verfasser eines Divan, durch welchen Goethe sich dazu herausgefordert fühlte, ihm in einer eigenen Sammlung von Gedichten zu antworten, nämlich Hafis, wird jedoch von Boerner nur in einem Nebensatz erwähnt. Dagegen führt er in aller Länge und Breite einen unverbürgten Kommentar Goethes zu einem Altarbild Rogier van der Weydens an, mit dem der Eindruck erweckt werden soll, Goethe hätte damals "eine neue, ewige Jugend" aus der seinerzeit gerade bei den Romantikern hoch im Kurs stehenden altdeutschen Malerei, und nicht etwas aus "Chisers Quell" geschöpft, obwohl doch das Eröffnungsgedicht des Divan mit dem Titel "Hegire" das Gegenteil bekundet.
Nun bräuchte man dieser merkwürdigen Tabuisierung des Islam-Themas in der deutschsprachigen Literatur zu Goethe nicht so viel Aufmerksamkeit zu schenken und könnte es den Goethe-Kennern und -Liebhabern überlassen, sich damit auseinanderzusetzen, würde sich dahinter nicht ein Problem weit größerer Tragweite verbergen: das oben schon angedeutete Problem der ängstlichen Distanz, welche die Durchschnittsdeutschen zu denjenigen ihrer Mitbürger wahren, die einer ihnen unbekannten Religion zugehören. Und zwar nicht etwa deswegen, weil sie selbst so überzeugte Christen wären.
Offenbar aber hat die Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten im Zuge der Reformation und haben die darauf folgenden Religionskriege bei den Deutschen ein solch tiefes Traum hinterlassen, dass sie den Angehörigen von ihnen fremd erscheinenden Religionen mit stärkstem Misstrauen begegnen. Zur Zeit der Romantik, und das war die Zeit des sich herausbildenden deutschen Nationalbewusstseins, begann man, Deutschtum und Christentum zu identifizieren, ja manche Romantiker sehnten sich nach einem Mittelalter zurück, wo noch die katholische Kirche das Volk in einem alleinseligmachenden Glauben einte. Dies war eine Tendenz, welche Goethe aus tiefer Seele verhasst war.
Viele deutsche Juden wie etwa Rahel Varnhagen oder Michael Bernays, um nur zwei von ihnen zu nennen, sahen deshalb in Goethe, trotz seiner gelegentlich harschen und zugegebenermaßen etwas bornierten Kritik an den jüdischen Emanzipationsbestrebungen seiner Zeit, einen Befreier. Denn mit seinen Schriften, gerade auch dem Divan, ist er gegen den Monopolanspruch der christlichen Kirchen auf Erlösung vom Übel der Welt mit Entschiedenheit entgegengetreten und hat von seinen Landsleuten eine Offenheit des Denkens eingefordert, welche, wäre man ihm gefolgt, der freien Entfaltung bzw. Selbstbehauptung anderer Religionen auf deutschem Boden neben dem Christentum erst den nötigen Freiraum geschaffen hätte.
Gershom Scholem hat in einem Vortrag mit dem Titel "Juden und Deutsche" von 1966 über die Situation der Juden in Deutschland im 19.Jahrhundert gesagt: "Nur sehr wenige Deutsche … haben die Unbefangenheit wirklicher Humanität gehabt … [und] am Juden das gesehen, was er zu geben, und nicht, was er aufzugeben hatte." Heute, im 21.Jahrhundert, leben in Deutschland mehr als drei Millionen Muslime, in der Mehrzahl Türken. Wie viele unter den heutigen Deutschen sind bereit, an ihren türkischen Nachbarn das zu sehen, was sie zu geben, nicht das, was sie aufzugeben haben?
Als gängigste Losung hört man allenthalben: "Die sollen sich doch anpassen!" Denn wie gesagt, es herrscht eine unterschwellige Angst in diesem Land vor allem, was mit Islam zu tun hat. Dazu trägt natürlich das weltweite von den Medien geschürte "Feindbild Islam" bei, ist aber gewiss nicht die ausschließlich Ursache. […]
Es gibt auch einen Chauvinismus der Aufgeklärtheit. Er lässt sich am Besten illustrieren am Unterschied zwischen Voltaire und Diderot. Voltaire war sich der Überlegenheit seiner Positionen als aufgeklärter Franzose so sicher, dass er diese als Maßstab nahm für die Beurteilung der Menschheit im Ganzen. So scheute er sich nicht, in seinem Mahomet-Drama die religiösen Gefühle von Millionen Muslimen in aller Welt zu verletzen, als es ihm darum ging, den Fanatismus der katholischen Kirche anzugreifen, indem er glaubte, diesen Angriff unbekümmert ins Gewand des Islam kleiden zu dürfen.
Diderot hingegen führte seinen Angriff gegen die Missstände und herrschenden Vorurteile in der französischen Gesellschaft seiner Zeit auf dialektische Weise. In seinem Nachtrag zu Bougainvilles Reise erteilte er den Tahitianern das Wort, um über die bigotten Moralvorschriften der Kirche ihr Urteil zu fällen, d.h., den Bewohnern jener Insel, auf die der Forschungsreisende Bougainville im Auftrag des Königs von Frankreich bereits einen kolonialistischen Blick geworfen hatte. Diderot wählte also den Standpunkt eines fremden Volkes, um mit seiner Kritik nicht nur einzelne Vorurteile der Europäer, sondern zugleich den Eurozentrismus als solchen zu treffen, und nicht etwa, weil er dem Klischee vom "edlen Wilden" Vorschub leisten wollte, wie ihm oft unterstellt wird.
Diese Sichtweise ermöglichte ihm vielmehr, in fast hellseherischer Weise vor den Gefahren der zerstörerischen Gewalt des Kolonialismus zu warnen, mit der die Europäer kurz darauf diese Weltgegend heimsuchen sollten. Allerdings hatte er noch keine detaillierte Kenntnis von der Kultur der Südseeinseln, und so blieb seine Darstellung der Tahitianer selbst mehr oder weniger fiktional. Die Überlegenheit seiner Vorgehensweise über diejenige Voltaires bestand jedoch darin, dass er auf das Verhältnis zwischen den Völkern eine Maxime anwendete, die Goethe später, in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen, so formuliert hat: "Am allerfördersamsten [für die Selbsterkenntnis] aber sind unsere Nebenmenschen, welche den Vorteil haben, uns mit der Welt aus ihrem Standpunkt zu vergleichen und daher nähere Kenntnis von uns zu erlangen, als wir selbst gewinnen mögen."
Das setzt Respekt vor dem Nebenmenschen und seiner möglicherweise andersgearteten Kultur voraus. Goethe konnte sich bereits die Forschungsergebnisse der in seiner Zeit aufblühenden Orientalistik zunutze machen, als er darum bemüht war, sich die Weltsicht des Orients anzueignen, um mit einem "morgenländischen Auge" ohne Zorn den Blick zurück auf die leidigen Zustände in Deutschland richten und durch die so gewonnene Distanz sich aus einem Zustand der Verzweiflung befreien zu können. Sein Blick auf den Orient aber, und das ist das Entscheidende, war frei von kolonialistischer Begehrlichkeit.
Nur deshalb konnte zu Anfang des 20.Jahrhunderts ein Muslim aus dem indischen Subkontinent, der unter der kolonialistischen Unterdrückung seiner Heimat durch die Europäer litt, der Dichter-Philosoph Muhammad Iqbal, mit dem Dichter des West-östlichen Divan in seiner Botschaft des Ostens den eindringlichsten und fruchtbarsten Dialog führen, den man sich unter Vertretern zweier unterschiedlicher Kulturen vorstellen kann, ungeachtet der Tatsache, dass Goethe ein Europäer war!

Peter von Arnim

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