Sozialistische Zeitung |
Mit einer scherzhaften Anspielung eröffnete Bernd Riexinger, Bezirksgeschäftsführer der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Baden-
Württemberg, seinen Beitrag zur Tarifpolitik auf dem 4.Bundeskongress der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken am 12. und 13.Oktober in Stuttgart. "Wir
dürfen gespannt sein, welche Tarifforderungen für die Mitglieder aufgestellt werden", sagte er mit Blick auf die Gehaltserhöhung der ver.di-Spitzenfunktionäre,
die sich künftig von ihrer Gewerkschaft eine 30- bis 90%ige Lohnerhöhung auszahlen lassen werden.
Weil eine derart hohe Lohnforderung kaum durchsetzbar wäre, orientierte Riexinger dann doch auf den Abschluss der
Pilotenvereinigung Cockpit mit der Lufthansa. Im Juni erstritten die Piloten nach mehreren Warnstreiks 12% Lohnerhöhung. Damals warfen DGB-Gewerkschaften den Piloten vor, ohne
Verantwortung zu handeln und ihre Stärke auf Kosten anderer Beschäftigter auszunutzen. "Diese Argumentation stellt die Wirklichkeit auf den Kopf", heißt es in
einem Papier der Arbeitsgruppe Tarifpolitik der Gewerkschaftslinken.
Die Tarifpolitik in den letzten Jahren habe darauf verzichtet, die eigenen Kräfte effektiv einzusetzen und akzeptable
Lohnerhöhungen durchzusetzen. Den Tiefpunkt hatten die Gewerkschaften in diesem Jahr erreicht und die Tariferhöhungen fielen hinter die Inflationsrate zurück.
Doch nach dem 11.September habe sich die Perspektive verschlechtert, so Riexinger, "Forderungen nach
Lohnzurückhaltung werden nun lauter". Opfer des Krieges seien auch immer die "Interessen der Lohnabhängigen". Deswegen müsste bei hohen
Lohnforderungen auch die Möglichkeit von Streiks einbezogen werden, fordert der Bezirksgeschäftsführer.
Als Voraussetzung für eine solche Kampfperspektive sieht er die Einbeziehung der Gewerkschaftsmitglieder an, die nicht
nur als "Objekte behandelt werden dürfen". Als Hindernis betrachtet Riexinger hingegen das "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit",
in dem Unternehmer, Regierung und Gewerkschaftsvertreter oftmals ohne Einverständnis der Gewerkschaftsmitglieder Entscheidungen treffen. Deshalb müsse die Forderung nach
einem Ausstieg aus dem Bündnis in die Verhandlungen über die Tarifvereinbarungen 2002 mit eingebracht werden, schlussfolgert Riexinger.
Auch die sozialpolitischen Zielsetzungen der Gewerkschaftslinken gehen weiter als die der Spitzenfunktionäre. Rainer
Roth, Sozialwissenschaftler aus Frankfurt, kritisierte die offiziellen Programme der Bundesregierung zur Bekämpfung der Erwerbslosigkeit. "Die Ärzte am Krankenbett wollen
die Symptome bekämpfen, nicht aber den Virus, der die Arbeitslosigkeit auslöst", so Roth. "Schuld sind immer die Arbeitslosen selbst", sagte er mit Blick auf die
Faulenzerkampagne des Bundeskanzlers.
Um die stetigen Einschnitte in die Erwerbslosenunterstützung aufzuhalten, sieht der Sozialwissenschaftler
"Mindestlöhne als existenzielle Notwendigkeit" an, kombiniert mit der Forderung nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung. Scharfe Kritik übte er an einigen
Gewerkschaften, die "Tariflöhne gegen Mindestlöhne ausspielen". Auch die geplante Privatisierung der Krankenversicherungen soll künftig, wie schon zuvor die
Aktivitäten gegen die sog. "Rentenreform", im Mittelpunkt stehen.
Erst am zweiten Kongresstag widmeten sich die mehr als 200 Teilnehmer im Stuttgarter Gewerkschaftshaus der
angekündigten "Zukunfts- und Programmdebatte". Der Marburger Politikwissenschaftler Frank Deppe wies darauf hin, dass in Kriegszeiten "soziale Fragen fast
automatisch an Bedeutung verlieren gegenüber der inneren und äußeren Sicherheit". Einen Gegenpol sieht er in der "neuen Bewegung von Seattle bis Genua, die
gemeinsam mit der Friedensbewegung ein Alternativprogramm zur bestehenden Weltordnung entwickeln" könnte.
Dass für eine Zusammenarbeit zwischen der Gewerkschaftslinken und neuer Bewegung zunächst ein Dialog
notwendig sei, unterstrich Jochen Gester vom Berliner Arbeitskreis Internationalismus. Die Gewerkschaften sollten sich wieder mehr auf ihre Ursprünge besinnen und sich selbst als
"soziale Bewegung" verstehen. Nur dann sei es möglich, eine "soziale Gegenmacht zu entwickeln, die nicht nur Kämpfe um Besitzstandswahrung
führt". Werner Rätz, Mitglied der Bundeskoordination des internationalen Netzwerks Attac, griff diesen Vorschlag auf. "Kapitalismuskritik ist bei Attac noch schwach
entwickelt, deshalb brauchen wir die Gewerkschaftslinke."
Gerhard Klas
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