Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 25.10.2001, Seite 10

Unbeirrbare Freihändler

Die WTO nach dem 11.September

Obwohl immer mehr Zweifel aufkommen, ob die für den 9. bis 13.November geplante Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in dem Ölscheichtum Qatar überhaupt stattfinden wird, laufen die offiziellen Vorbereitungen unbeirrt weiter. Erschien der entlegene Tagungsort am Persischen Golf zunächst noch ideal, um lästige Massendemonstrationen, wie sie die letzte Ministerkonferenz in Seattle geprägt hatten, abzuschütteln, so verwandelt er sich nach den Terroranschlägen von New York und Washington und dem erwarteten US-Angriff auf Afghanistan als erhebliches Sicherheitsrisiko.
Dennoch beteuerten der US-Handelsbeauftragte Zoellick, EU-Handelskommissar Lamy und WTO-Chef Moore, dass das Treffen stattfinden und eine neue Liberalisierungsrunde eingeläutet werden solle. Alle drei unterstreichen überdies die große Bedeutung, die der WTO angesichts der nun drohenden weltweiten Rezession zukomme, denn nur ein offenes Welthandelssystem, das protektionistischen Tendenzen entgegenarbeite, könne einem Kollaps der Weltwirtschaft entgegenwirken.
Der US-Handelsbeauftragte bezeichnete eine aggressive Freihandelspolitik gar als wichtigen Teil der "Gegenoffensive" zur Bekämpfung des Terrorismus. Er nutzte überdies die Gunst der Stunde und drängte den US-amerikanischen Kongress, dem Präsidenten die lange verweigerte "Fast-track"-Verhandlungsvollmacht zu erteilen, die dem Kongress die Möglichkeit nehmen würde, die Änderung einmal ausgehandelter Handelsabkommen einzufordern.
Durch die Gewährung von "fast track" könnte das Parlament Handelsverträgen nur noch zustimmen oder sie komplett ablehnen. Dies würde die Verhandlungsposition des US-Handelsbeauftragten erheblich stärken. Auch EU-Handelskommissar Pascal Lamy behauptet, dass eine neue Welthandelsrunde helfen würde, die weltweite Armut und den Terrorismus zu bekämpfen.
Gegenüber denjenigen Entwicklungsländern, die noch immer Vorbehalte äußern, lässt Lamy die Muskeln spielen. Bei seinem kürzlichen Besuch in Kenya machte er deutlich, dass Entwicklungländer nur bei Zustimmung zur neuen Runde "ihre Handelsinteressen durchsetzen und größeren Zugang zu den Absatzmärkten der Industrieländer für ihre Agrarexporte sichern können".
Lamy ging aber noch weiter: Nur in einer neuen Runde würden die Hürden des geistigen Eigentumsschutzes ausgeräumt, welche die Bekämpfung der AIDS-Epidemie behindern. Damit verweist er auf die bisher unerfüllte Forderung der Entwicklungsländer, das WTO- Abkommen zum geistigen Eigentum (TRIPS) zu modifizieren, um den günstigen Zugang zu patentgeschützten lebensnotwendigen Medikamenten zur Behandlung von AIDS, Malaria, Tuberkulose und anderen Krankheiten zu erleichtern. Für die arme Bevölkerungsmehrheit in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sind die patentierten Medikamente der Pharmamultis häufig unerschwinglich.
Auch die Industrie versucht, das geplante WTO-Spektakel zu retten. Die Internationale Handelskammer (ICC) ließ verlauten, dass der Verzicht auf die Konferenz, den Terroristen in die Hände spielen würden, die die Weltwirtschaft destabilisieren und in die Rezession stürzen wollten. Ihnen diesen Gefallen nicht zu tun, sei "das Mindeste was die weltweite Unternehmerschaft für deren Opfer tun kann". Einflussreiche Presseorgane wie die Financial Times sekundieren. Deren Kolumnist Martin Wolf schrieb:
"Es gibt einen ebenso wichtigen Weg, das Vertrauen in die Zukunft einer offenen Wirtschaft und Gesellschaft zu stärken: sich zu einigen auf eine neue multilaterale Handelsrunde im November auf dem Ministerratstreffen in Doha. Die Erfolgschancen müssen sich durch die Tragödie verbessert haben. Kann der Kongress sich weigern, dem Präsidenten Handelsvollmacht zu geben, wenn diese ein Weg ist, die globale Kooperation und offene internationale Wirtschaft zu stärken, die das World Trade Center so machtvoll repräsentiert hat? Kann sich jetzt noch ein Land weigern, einer Runde beizutreten, die international engagierte Vereinigte Staaten angeschoben haben? Kann irgend jemand die Symbolik einer neuen Handelsrunde, die in einem muslimischen Land gestartet wird, übergehen?
Die Anti-Globalisierer werden zetern. Lasst sie. Die Zeit, ihren Mätzchen mehr als flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken, ist vorbei. Natürlich müssen sich jene Anti-Globalisierer, die ernst genommen werden wollen, öffentlich und vollständig von den gewalttätigen Anarchisten lossagen, Die Protestierer lagen immer falsch in ihrer Gegnerschaft zur Handelsliberalisierung. Jetzt ist es an der Zeit, dass Politiker in aller Welt diesen gefährlichen Obskurantismus zurückweisen.
Vor uns liegt ein langer Kampf. Wir werden nie wissen, ob wir gewonnen haben. Sicher ist aber, wenn dies ein Krieg ist, wird die Heimatfront tief darin involviert sein. Die Terroristen wollen offene Gesellschaften zerstören. Wir müssen sicherstellen, dass sie scheitern. Wir müssen das Bedürfnis nach Sicherheit abwägen gegen die Forderung nach Freiheit. Wir müssen Vertrauen schaffen und unser unerschütterliches Vertrauen in eine international integrierte Wirtschaft und Gesellschaft zeigen. Die Herausforderung ist groß. Wir müssen gewinnen."
Während so und ähnlich den Globalisierungskritikern der Wind wieder stärker entgegenbläst, laufen wichtige Prozesse in der WTO unverändert weiter. Dabei kann die Organisation mit den am 17.September abgeschlossenen 15-jährigen Verhandlungen zum Beitritt Chinas ihren bisher größten Erfolg verbuchen. Der 900-seitige Beitrittstext muss nur noch formal durch die WTO-Mitglieder abgesegnet werden und 90 Tage nach der chinesischen Ratifizierung wird der Beitritt vollzogen.
Bezeichnend für die Interessenpolitik bei den Verhandlungen ist eine der letzten Hürden für den Abschluss der Gespräche. Der US-Versicherungsgigant American International Group (AIG) forderte, dass die von seinen chinesischen Niederlassungen geplanten Zweigstellen im 100%igen Besitz des Konzerns verbleiben sollten. Die US-Regierung nahm sich dieser Forderung an, die postwendend durch die EU blockiert wurde. Solange dieses Zugeständnis nicht auch auf europäische Lebensversicherer, namentlich die deutsche Allianz und das französische Unternehmen Axa ausgeweitet würde, könnte die EU nicht zustimmen.
Die salomonische Lösung im revidierten Vertrag lautet, dass alle Zugeständnisse für Zweigstellen automatisch auf sämtliche Mitglieder ausgedehnt werden. Folge dieses Debakels ist, dass die schon auf dem chinesischen Markt vertretenen Konzerne Handelsvorteile gegenüber allen neuen Anbietern erwarten.
Beobachter erwarten, dass sich die Machtbalance innerhalb der WTO durch den chinesischen Beitritt zugunsten der Entwicklungsländer verschieben dürfte. China repräsentiert die fünfgrößte Handelsnation nach den USA, der EU, Japan und Kanada. Andererseits befürchten viele Entwicklungsländer aber auch Exporteinbußen, da sich die Nachfrage der Industrieländer nach arbeitsintensiven Gütern auf die billigeren chinesischen Anbieter verlagern könnte. Auch treibt sie die Sorge um, dass die begehrten ausländischen Direktinvestitionen in noch stärkerem Maße an anderen Ländern vorbei nach China fließen werden.
Die einschneidendsten Veränderungen werden jedoch im Lande selbst erwartet. Der Abbau der Handelsbarrieren wird nicht nur einen verstärkten Zustrom an Industriegütern und Dienstleistungen nach sich ziehen, sondern auch an billigeren, mitunter subventionierten Agrarprodukten. Die schon jetzt dramatische Arbeitslosigkeit unter der verarmten Landbevölkerung Chinas, die viele Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwang, wird durch die ausländische Konkurrenz noch zunehmen.
Der chinesische Verhandlungsführer Long Yongtu räumte ein, dass der verschärfte Wettbewerb das Einkommensgefälle zwischen den wohlhabenden Küstenregionen und dem Binnenland noch verstärken werde. Yongu stimmte seine Landsleute daher vorsorglich auf "viele schmerzhafte Umstrukturierungen" ein.

Thomas Fritz

Der Autor ist Mitglied der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung (BLUE 21).



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