Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 25.10.2001, Seite 12

Weißrussland

Postsowjetischer ‘Jurapark‘?

Die terroristischen Anschläge vom 11.September haben alle übrigen Nachrichten in den Hintergrund gedrängt. Dazu gilt auch für die Resultate der Präsidentschaftswahlen in Weißrussland am 9.September. Doch für die Linke ist das Geschehen in der früheren Sowjetrepublik von großer Bedeutung.
Vor sieben Jahren kam Alexander Lukaschenko in Weißrussland an die Macht. Sein Sieg geschah auf der Welle der Enttäuschung über die liberalen Reformen vor dem Hintergrund der allgemeinen Enttäuschung über die Unabhängigkeit. Die Mehrheit der weißrussischen Bevölkerung spricht Russisch und verbindet ihre Geschichte und Kultur gewöhnlich mit derjenigen Russlands.
Mit seinem Machtantritt stoppte Lukaschenko die Privatisierung, er versprach die Bewahrung des aus der sowjetischen Ära übernommenen sozialen Sicherungssystems, proklamierte das Ziel der Wiedererrichtung der Union mit Russland in neuer Form und kritisierte scharf den Westen und den Internationalen Währungsfonds. Ärztliche Vorsorgung und Arzneimittel blieben kostenlos. All dies brachte ihm zwangsläufig die Sympathien der Linken.
Doch von Anfang an stützte Lukaschenko seine Herrschaft nicht auf die Massenbewegung oder auf Arbeiterorganisationen, sondern auf einen Machtapparat, der ihm persönlich treu ergeben war. Sein politisches Regime wurde zunehmend rau. Das Parlament wurde aufgelöst und die oppositionelle Presse nach und nach verfolgt.
Später erweiterte Lukaschenko seine Vollmachten durch ein Referendum, dessen Ergebnisse wahrscheinlich zurechtgebogen wurden. Eine Anzahl politischer Gegner des Präsidenten verschwand spurlos. Der Westen seinerseits gab Millionen von Dollar für die Finanzierung der Opposition aus.
Während Lukaschenko seine Macht vorwiegend auf die ländliche Bevölkerung stützte, versuchte er die Konkurrenzfähigkeit der Industrie durch Drückung der Löhne zu stärken. Entsprechend beträgt der durchschnittliche Monatslohn in Weißrussland im Jahr 2001 gerade mal 65 US-Dollar. Zieht man die sozialen Programme, die Mietbeihilfen u.a. in Betracht, ist der Lebensstandard natürlich wesentlich höher, doch hat die städtische Bevölkerung faktisch keine gesparten Rücklagen.
Dies führte zu einem zunehmenden Konflikt mit den Gewerkschaften. Streiks wurden mit eiserner Faust unterdrückt; Streikbruch, Aussperrungen und die Verhaftung von Gewerkschaftsaktivisten sind an der Tagesordnung. Mittlerweile orientierte sich die weißrussische Wirtschaft weitgehend auf den Export und war zunehmend im Weltmarkt integriert. Ihre Partner waren Russland, die Ukraine und die Länder der Dritten Welt, die früher mit der UdSSR Handel getrieben hatten.
Auf den ersten Blick schien es, dass Weißrussland die alten Verbindungen wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu bewahren und zu entwickeln suchte, die im Sowjetblock existiert hatten. Aber tatsächlich waren alle Länder, an die Weißrussland seine Produkte verkaufte, bereits im neoliberalen Marktmodell integriert.
In Wirklichkeit stellte das Lukaschenko-Regime die alte Zusammenarbeit nicht wieder her, sondern benutzte die alten wirtschaftlichen und technologischen Bindungen, um seine Märkte zu erweitern.
Zur Sowjetzeit hatte Weißrussland seine Produkte im ganzen Sowjetblock exportiert. Zu der Zeit war das Ergebnis ein steigender Lebensstandard. Doch die auf den Export um jeden Preis orientierte Politik Lukaschenkos beruhte auf Lohnbeschränkung, auf der Unterdrückung der Arbeiterbewegung und letztlich auf der Unterdrückung linker politischer Organisationen. Es ist nicht überraschend, dass die Gewerkschaften nach der Zerschlagung eines Streiks der Minsker Metro- Beschäftigten durch das Regime die aggressivsten Gegner Lukaschenkos wurden.

"Wirtschaftswunder"

Die Propaganda des Regimes spricht von einem weißrussischen Wirtschaftswunder. Die Wachstumsraten der industriellen Produktion erreichten tatsächlich 7—8% wie in China. Ein wesentlicher Anteil der Produktion wurde jedoch nicht verkauft, sondern eingetauscht. Mitte der 90er Jahre konnte Weißrussland 90% seines Nahrungsmittelbedarfs decken. Lukaschenkos Gegner sprechen ihrerseits dauernd von der Armut und den mangelnden Rechten der Bevölkerung. Beide haben auf ihre Weise Recht.
Die Wirtschaftswunder, die in statistischen Jahrbüchern zu beobachten sind, basieren in der Regel genau auf der Armut und den fehlenden Rechten. Lukaschenkos Weißrussland versucht eine Art slawisches Thailand oder Malaysia zu werden. Die Folgen entsprechen weitgehend den Erwartungen: Weißrussland ist kein Tiger, bloß eine halbverhungerte Katze.
Die Doppelnatur der weißrussischen Erfahrung widerspiegelt sich in der Spaltung der Kommunistischen Partei in eine Pro-Lukaschenko- und eine Anti-Lukaschenko-Fraktion. Die Opposition gegenüber dem Regime hat ebenfalls einen Doppelcharakter. Auf der einen Seite gibt es rechte Nationalisten (von den Christdemokraten der Weißrussischen Volksfront bis zu den Neofaschisten der Weißrussischen Freiheitspartei) und andererseits linke Sozialdemokraten, die Kommunistische Partei Weißrusslands und die Anarchisten. Die Linke in Russland ist ebenfalls gespalten in Anhänger und Gegner Lukaschenkos.
Das weißrussische Modell hatte seinen ersten Härtetest im Herbst 1998 zu bestehen, als der Zusammenbruch des russischen Rubels die Märkte der früheren Sowjetunion schockte. Die russischen Produkte wurden billiger und die weißrussischen weniger konkurrenzfähig. Die weißrussischen Unternehmen litten daraufhin an einem akuten Mangel an Investitionen.
Die Wahlen 2001 markierten einen Einschnitt. Das Lukaschenko-Regime benötigte eine Legitimation. Gleichzeitig wurden russischen Unternehmen mit dem Herannahen der Wahlen zahlreiche Versprechungen gemacht. Diese Unternehmen hörten ihrerseits nicht nur auf, den "Kommunisten" Lukaschenko zu fürchten, sondern sie investierten sogar beträchtliche Summen in seine Wahlkampagne.
Die Opposition ging mit einem einzigen Kandidaten in die Wahlen, dem Führer der offiziellen Gewerkschaften, Wladimir Gontscharik. Die Nominierung eines einzigen Kandidaten für den ersten Wahlgang war ein seltsamer Schritt, da sich die Hoffnungen aller Lukaschenko-Gegner auf den zweiten Wahlgang konzentrierten.
Tatsächlich war die vereinigte Opposition eine politische Absurdität. Leute mit direkt entgegengesetzten Ansichten waren im selben Lager versammelt — von der Anti-Lukaschenko-Fraktion der KP, den Sozialdemokraten und Anarchisten zur Weißrussischen Volksfront und zur Weißrussischen Freiheitspartei (dem weißrussischen Pendant zu den Parteien von Le Pen und Haider). Der Nationalismus letzterer rief Furcht und Ekel bei Anhängern der Linken hervor.

Politische Absurdität"

Die Rechten fanden ihrerseits wenig Gefallen an der Kandidatur des Gewerkschaftsführers Gontscharik, ganz zu schweigen von der Kommunistischen Partei. Arbeiter riefen in Erinnerung, wie Gontscharik die Streikenden der Minsker Metro 1995 verraten hatte. Viele meinten, dass die Weißrussische Volksfront Gontschariks Wahlkampf sabotierte.
Vereint allein durch den Hass auf Lukaschenko konnte die Koalition kein gemeinsames Programm erarbeiten. Entsprechend bestanden ihre Wahlkampflosungen aus Gemeinplätzen, Banalitäten und sinnloser Rhetorik.
Der dritte Kandidat war Sergej Gaidukewitsch von der Liberal-Demokratischen Partei, der weißrussischen Entsprechung der Partei von Wladimir Shirinowski.
Alltäglich verkündete das offizielle Fernsehen, dass die US-Botschaft hinter der Opposition stünde. Niemand in der Opposition machte ernsthafte Anstalten, dies zu leugnen. Amerikanische und westeuropäische Gelder ermöglichten mehreren oppositionellen Organisationen in Weißrussland ein gutes Leben. Ironischerweise führte dies dazu, dass sie an einem ernsthaften Kampf um die Macht nicht interessiert waren. Es lebte sich gut als Oppositioneller; man brauchte für nichts Rechenschaft ablegen, während man Finanzspritzen erhielt, seine Berichte verfasste und mit dem guten Leben fortfuhr.
Die Wahlergebnisse waren nicht schwer vorauszusehen. Nach den offiziellen Zahlen erhielt Lukaschenko 78% der Stimmen, Gontscharik 12% und Gaidukewitsch 2%. Die Opposition behauptet, dass für Lukaschenko in Wirklichkeit 46% der Stimmen abgeben wurden, für Gontscharik 43% und für Gaidukewitsch 7%.
Unabhängige Experten sind skeptisch gegenüber beiden Angaben. Entsprechend ihrer Einschätzung gewann Lukaschenko, aber mit einem bedeutend kleineren Vorsprung. Wenn diese Einschätzungen richtig sind, hat sich das Lukaschenko-Regime selbst einen ernsten Schlag versetzt. Während Lukaschenko alle Chancen hatte, die Wahl mit ehrlichen Mitteln zu gewinnen, überspannte der Apparat des Präsidenten den Bogen, manipulierte die Wahlen und verlieh so seiner Wahl einen illegitimen Charakter.

Aussicht auf bedeutenden Wandel"

In jedem Fall sind in Weißrussland nach den Wahlen bedeutende Veränderungen zu erwarten. Ausländische Korrespondenten schreiben, dass Weißrussland ein "Jurapark" sei. Das ist falsch. Die Evolution der Kreaturen in diesem Reservat vollzieht sich vor unseren Augen. Änderungen werden kommen, aber nicht als Antwort auf einen Sieg der Opposition. Nicht nur dass Moskau sich klar für den amtierenden Präsidenten entschieden hat, auch die Unterstützung der Opposition durch den Westen lässt nach. Die Führer der von westlichen Geldern subventionierten NGOs beklagen sich, dass die finanziellen Zuwendungen magerer werden.
Was geht vor? Hat sich der Westen davon überzeugt, dass die Opposition ineffizient ist? Vielleicht, aber dies kann nicht die ganze Geschichte sein. In Weißrussland haben weitreichende Privatisierungen begonnen. Man muss hervorheben, dass Lukaschenko für die Entwicklung des weißrussischen Kapitals kaum Spielraum gelassen hat. Aber dies hat die Entwicklung des Kapitalismus in Weißrussland keineswegs verhindert. Während es keine nationale Bourgeoisie gibt, wird ihr Platz von einem Block eingenommen, der aus der hiesigen Bürokratie und transnationalen Unternehmen besteht.
Während der letzten zehn Jahre hat Russland seine eigenen Strukturen des transnationalen Kapitals geschaffen: Gasprom, Lukoil, Sibal usw. Jetzt, wo sich der Rubelkurs stabilisiert hat und der Zufluss von Petrodollars die Position der Oligarchen gestärkt hat, die in der Mangelperiode große Probleme hatten, sind die russischen Unternehmen in Moskau zur Expansion bereit.
Weißrussland, wo Lukaschenko zehn Jahre lang den westlichen Konkurrenten der Oligarchen vorsichtig verweigert hat zu operieren, wird nun eine der Zonen dieser Expansion. Es zeigt sich, dass Weißrussland kein Museum der Sowjetära ist, sondern ein fleißig geschütztes Jagdreservat, zu dem Außenstehenden der Zutritt nicht vor der Zeit erlaubt wurde.
Das russische Kapital strömt aktiv ein und übernimmt die lokale Industrie. Am aktivsten sind jene Oligarchen, die den gegenwärtigen Machthabern im Kreml nahe stehen. Deshalb organisierte Lukoil vor der Wahl ein Festival für Lukaschenko im Zentrum von Minsk. Sibal bereitet den Kauf der Minsker Autofabrik vor.
Das diktatorische System in Weißrussland ist wider Erwarten dabei, sich vom Hauptminuspunkt der Republik zu einem Faktor zu verwandeln, der für Investoren attraktiv ist; es gibt Ordnung und Stabilität und es gibt keine Streiks. Die Niedriglöhne sind eine Verlockung für das Kapital. Die Leute sind diszipliniert, ausgebildet und kosten noch weniger als in Russland.
Die Opposition erklärt den Bürgern, dass, wenn sie an die Macht kommt, der Zufluss westlicher Investitionen ein Wachstum der Löhne zur Folge haben wird. Die Investitionen werden sicher kommen, wenngleich nicht als Antwort auf einen Sieg der Opposition, sondern unter Garantien von Lukaschenko. Die Löhne werden auf dem alten Stand bleiben.
Weißrussland unter Lukaschenko folgt derselben Entwicklung wie andere Nomenklaturaregime. Die Degeneration der herrschenden Nomenklatura ist ein natürlicher Prozess. Die Opposition gegen westliches transnationales Kapital wird, wenn sie nicht von einer proletarischen Massenbewegung und einer linken Ideologie getragen wird, letztendlich zu der einen oder anderen Form des Vergleichs mit dem Kapitalismus führen.
Das weißrussische Regime, das sich zum Verteidiger der "kleinen Leute" erklärt hat, beginnt neoliberale Reformen durchzusetzen, wobei es sich anfänglich hinter der alten sozialen Rhetorik verbirgt.
Das westliche Kapital dringt über Russland nach Weißrussland ein. Die St.Petersburger Firma Baltika bspw. kauft eine Brauerei. Die Nationalisten sind in Panik — die Russen kommen! Als Zeichen des Protests kauften sie mehrere Kisten Baltika-Bier und schütteten es feierlich auf den Boden. Danach schnellte der Verkauf des "feindlichen" Biers natürlich drastisch nach oben.
Tatsächlich wird Baltika von einer schwedischen Gesellschaft kontrolliert. Es ist etwas geschehen, was weder von den russlandfeindlichen Westlern noch von den großrussischen Nationalisten und Sowjetpatrioten erwartet wurde. Je enger die Beziehungen zwischen Russland und Weißrussland, um so bürgerlicher wird die Elite und um so stärker wird die Position westlicher Firmen, die mittels ihrer Moskauer Filialen handeln.
Es versteht sich von selbst, dass das russische und transnationale Kapital, hat es erst einmal auf dem weißrussischen Markt Fuß gefasst, auch seinen eigenen Präsidenten an die Macht bringen wird. Höchstwahrscheinlich wird dies auf sanfte Weise geschehen, ohne Hilfe der Opposition, aber im Moskauer Stil: man wird einen "liberalen" Nachfolger für Lukaschenko wählen, einen "Reformer" aus den Reihen des aktuellen Regimes.
Lukaschenko hat selbstverständlich seine eigenen Pläne für die Zukunft, aber es hängt nicht alles vom Willen eines einzelnen Individuums ab. Momentan ist der Apparat loyal gegenüber "Vater" Lukaschenko und bleibt seine Hauptbasis. Von Zeit zu Zeit mischt "Vater" seine Beamten durch und frühere Günstlinge fallen dabei in Ungnade. Erlangt jemand ein besonderes Gewicht in der Regierung, droht dieser Person bestenfalls die Versetzung in eine ferne Provinz.
Lukaschenko begreift völlig, dass die wirkliche Bedrohung für seine Macht nicht von der Opposition ausgeht, sondern von seiner eigenen Umgebung. Er kann jedoch nicht den ganzen Apparat durchrütteln. Lukoil, Sibal, Ikea und McDonald‘s sind schon hier. Ihr politischer Einfluss wird zunehmen. Und eines Tages wird Lukaschenko merken, dass es keine "ewigen Präsidenten" gibt.

Boris Kagarlitzki

Aus: Green Left Weekly (Sydney), Nr.465, 26.9.2001.

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