Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 08.11.2001, Seite 8

25 Jahre Anti-AKW-Bewegung

Neue politische Landkarte

Die nächsten Wochen und Monate werden einer ganzen Generation von UmweltschützerInnen, von Linken, Grünen und SozialdemokratInnen, von Vätern und Müttern, gescheiterten Umwelt- und Ministerpräsidenten, von Wissenschaftlern und Kirchenmännern, von Industriebossen und Gewerkschaftsführern viele Anlässe geben, sich an eine fulminante Periode in ihrem Leben zu erinnern. Vor 25 Jahren wurde die Bundesrepublik von einer politischen Massenbewegung erschüttert, die auf die Gesamtheit der Gesellschaft mehr als alle anderen politischen Bewegungen und bis heute nachhaltig Einfluss gehabt hat. Wenn heute der zweitpotenteste imperialistische Staat der Welt von einer Regierung geleitet wird, die sich selbst als "rot-grün" bezeichnet und weder das übrige imperialistische Lager gegen diese Merkwürdigkeit zu Felde zieht, noch die von ihr regierte Gesellschaft in laute Wut und Gelächter ausbricht, weil die Damen und Herren im Berliner Reichstag in Wirklichkeit weder "rot" noch "grün" sind — dann muss auf allen Ebenen der Gesellschaft das politische Bewusstsein geschüttelt und nicht nur gerührt worden sein. Riskieren wir eine Bilanz…
Am 26.Oktober 1976 beginnen um 1 Uhr nachts Bautrupps auf einem Stückchen Grasland in der Wilster Elbmarsch bei der Ortschaft Brokdorf eine Festungsanlage mit hohen Zäunen, Wassergraben und Hubschrauber-Landeplatz auszubauen. Sie werden, wie es in den Radionachrichten heißen wird, von "starken Polizeikräften geschützt". Ziel der sonderbaren Nachtschicht ist es, den "sofortigen Vollzug der ersten Teilgenehmigung zum Bau des Kernkraftwerkes Brokdorf sicher zu stellen". Die schleswig-holsteinische Landesregierung unter Ministerpräsident Stoltenberg hat sich für diese kostspielige Konspirativität aus gutem Grund entschieden.
Bereits seit Anfang der 70er Jahre entwickelte sich an mehreren Orten, an denen Atomanlagen gebaut oder geplant wurden, heftiger Widerstand der dort ansässigen Bewohner, die sowohl eine unübersehbare Gefährdung ihrer Gesundheit als auch eine umfassend spürbare Minderung der Lebensqualität ihrer Region und der Verwertbarkeit der dort laufenden landwirtschaftlichen Produktion befürchteten.
Sie nutzten sämtliche Möglichkeiten aus, den normalen Gang der Bauvorhaben mittels Einsprüchen, Verwaltungsgerichtsklagen und politischer Stimmungsmache in den Regionen zu behindern. Da Genehmigungsverfahren nicht auf eine massenhafte Ausübung des demokratischen Einspruchsrechts ausgelegt waren, wurden Baubehörden, Lokalpolitiker und Energieunternehmen zunehmend nervös.
Niemals vorher gehörte Ortsnamen erhielten dadurch eine gewisse Publizität: Grafenrheinfeld, zum Beispiel, was sich sicherlich auch viel schöner anhört als die nächstliegende Stadt Schweinfurt. Dort sammelte die "Bürgeraktion Umwelt- und Lebensschutz" schon 1972 36.000 Unterschriften gegen das Atomkraftwerk. Oder Esenshamm, an der Unterweser, wo der "Arbeitskreis gegen radioaktive Verseuchung" bereits ein Jahr zuvor 40.000 Protesterklärungen einreichte.
Am bekanntesten wurde allerdings ein Ort am Oberrhein, der sonst nur versierten Weinkennern als Geheimtipp galt: Wyhl. Dort kam es 1975 zu einem kleinen Bürgerkrieg. Die Gegner des geplanten Atomkraftwerks begnügten sich nicht mit Einsprüchen. Sie zeigten dem Landwirtschaftsminister Eberle, dass eine Gülle-Hochdruckspritze auch gut zum Politikerverjagen geeignet ist.
Sie übernahmen wenig später ein Beispiel, das ihnen die französische Bevölkerung in den benachbarten Orten Fessenheim und Marckolsheim, auf der anderen Rheinseite, lieferte, die dort die Bauplätze vom geplanten Atomkraftwerk beziehungsweise einer Bleifabrik belagerten und besetzten. 30.000 Menschen demonstrieren im Februar 1975 am Bauplatz in Wyhl, viele von ihnen bleiben auf dem Platz und bauen ihre eigene kleine Besetzerwelt mit der "Volkshochschule Wyhler Wald" und dem hölzernen "Freundschaftshaus" im Mittelpunkt immer weiter aus.
Hatten die ersten Proteste gegen Atomanlagen nur in unbedeutenden und politisch obskuren Vereinigungen, wie dem "Weltbund zum Schutz des Lebens", der "Aktionsgemeinschaft unabhängiger Deutscher" oder dem "Deutschen Bund für Lebensschutz" sowie bei einzelnen Wissenschaftler und Politikern der großen Parteien, wie den Bundestagsabgeordneten Gruhl (CDU) und Bechert (SPD), Unterstützung gefunden, so kamen nach Wyhl auch schon viele Unterstützer aus dem nahen Freiburg und Anhänger der Gruppen oder Positionen der neuen Nach-68er-Linken.
Aber mehr als regionale Ausstrahlung hatten die Vorkommnisse im oberrheinischen Dreiländereck noch nicht. Auch wenn der unübersehbar vom maoistischen Impetus geprägte Film von Nina Gladitz über die Besetzung in Wyhl zum Renner in den Programmkinos anderer Großstädte wurde.

Geburt einer Massenbewegung

Vier Tage später ziehen 8000 Atomkraftgegner, viele davon aus Hamburg, zum Bauplatz nach Brokdorf. Sie haben offen eine Platzbesetzung angekündigt und kampieren auf der einen Platzhälfte. In der Nacht kommt es zu einem Polizeiüberfall mit, wie es am folgenden Abend in den NDR-Nachrichten heißt, "unfassbarer Brutalität". Mit Knüpppeln, Tränengas und Hunden werden die Besetzer vertrieben.
Die Regierung hat überzogen, die Massenmedien widmen sich plötzlich den AtomkraftgegnerInnen und popularisieren deren Anliegen. In nur zwei Wochen überzieht eine Anti-AKW-Bewegung die gesamte Bundesrepublik. Dort, wo es kleine Zirkel von Atomkraftkritiker gab, erhalten sie gewaltigen Zulauf, anderswo werden Gruppen neu gegründet und allseits werden Crash-Kurse in Atomphysik verabreicht.
Am 13.November 1976 kommt es zur legendären "Brokdorf-II"-Demonstration. Bundesweit zusammengekommene AKW-Gegner aus allen Bevölkerungsschichten laufen zum Bauplatz, wo eine stundenlange Schlacht mit der Polizei stattfindet. Der Bauplatz glich einer Festung: metertiefer und -breiter Wassergraben, NATO-Drahtrollen, Gitterzaun und eine Armee von Polizei und Werkschutz mit Wasserwerfern, Pferden, Hunden, Hubschraubern. Aus der Luft werden wahllos Tränengasgranaten in die Menge geworfen und auf dem Heimweg von der Kundgebung werden willkürlich ausgewählte Personen verprügelt, festgenommen oder sonst wie schikaniert.
In den folgenden Wochen verändert sich die Republik. Buchstäblich überall, in den Städten wie in kleinsten Orten, an Schulen und Universitäten, in Kirchengemeinden und noblen Wissenschaftlerkreisen, bei Juristen, Theologen und Agrarwissenschaftlern, selbst bei Polizei und Feuerwehr, in allen politischen Parteien und Gruppierungen, in der Landjugend wie bei den Pfadfindern entstehen "Arbeitskreise gegen die Atomkraft" oder "Bürgerinitiativen". In Hamburg wächst die betuliche "Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe", die seit mehreren Jahren gegen das AKW Brokdorf protestierte, schlagartig auf weit über tausend Mitstreiter in mehr als 20 Unter- und Stadtteilgruppen an.
Im Laufe des folgenden Jahres wächst diese Bewegung ununterbrochen an. Der Bundesberband Bürgerinitiativen Umwelschutz vermeldet Ende 1977 knapp 1000 Mitgliedsinitiativen und mehr als 300.000 aktive Mitglieder. Ein Adressbuch der Anti-AKW-Bewegung registriert 1977 mehr als 1500 Bürgerinitiativadressen. Der Kampf gegen die Atomanlagen wird zu einer bundesweiten, sehr bald auch internationalen Angelegenheit.
Zu den Demonstrationen an den jeweiligen Orten werden Zehntausende von Teilnehmern mobilisiert, obwohl die Orte fast immer am Arsch der Welt lagen. Am 19.Februar 1977 protestieren 70.000 in zwei Demonstrationen gegen das AKW in Brokdorf; einen Monat später, am 19.März rennen 20.000 in einer weiteren legendären Bauzaunschlacht gegen die Reaktorbaustelle in Grohnde/Niedersachsen an.
Am 14.Juli kommt es zur internationalen Großdemonstration gegen ein AKW-Vorhaben bei Bilbao im Baskenland, an der mehr als 200.000 Menschen teilnehmen. Am 30./31. Juli demonstrieren 40.000 aus diversen Ländern vor dem geplanten Schnellen Brüter im französischen Malville. In einer unbeschreiblichen Schlacht auf verschlammten Feldern im Dauerregen und Tränengaswolken zeigt die Sonderpolizei CRS ihre Skrupellosigkeit. Durch Granaten werden mehreren Menschen Hände oder Füße abgetrennt, der Lehrer Vital Michalon stirbt durch eine neben ihm explodierte Granate.
Am 24.September versuchen über 100.000 Menschen, zu einer Demonstration am Gelände des deutschen Schnellen Brüters in Kalkar am Niederrhein zu gelangen. In einem nie da gewesenen Bürgerkriegsmanöver überzieht die Polizei die gesamte Bundesrepublik mit Kontrollen und Überfällen. Mit Hubschraubern werden Eisenbahnzüge angehalten, Buskonvois dürfen ihre Städte nicht verlassen. 70.000 erreichen schließlich in den späten Nachmittagsstunden den Demonstrationsort.
Noch bis 1981 entwickelt sich die Anti-AKW-Bewegung zu einer Massenbewegung weiter. 1979 demonstrieren 100.000 in Hannover gegen die Atomanlagen in Gorleben und überall. Am 14.Oktober 1979 kommen 150000 nach Bonn und protestieren gegen die atomaren Pläne der Bundesregierung. Am Karnevalssamstag, 28.Februar 1981, ist wiederum Brokdorf für 100.000 Menschen das Ziel, trotz klirrender Kälte und bestehendem Demonstrationsverbot.
Erst danach scheint der Höhepunkt der Bewegung überschritten zu sein. Es kommt aber immer wieder zu sehr großen Mobilisierungen gegen Atomanlagen. Vor allem in Gorleben gegen die Atomlager, 1982—1989 gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und bis heute gegen die Atomtransporte im Castor-Behälter.
Hunderttausende protestieren auch gegen den Bau der Flughafenstartbahn in Frankfurt. Nach dem schweren Reaktorunfall von Tschernobyl Ende April 1986 kommt es zu einem erneuten Aufschwung der Bewegung. Am 7.Juni demonstrieren wieder 100.000 in Brokdorf, jetzt allerdings gegen die Inbetriebnahme des fertigen Reaktors.

Die Bewegung lebt

Wie sehr der Begriff "Massenbewegung" angemessen ist zeigt sich am Innenleben der Bewegung. Keine politische Kampagne oder Bewegung hat in Deutschland so eine intensive eigene Bewegungskultur hervorgebracht. Neben der unübersehbaren Vielfalt in Form und Ausprägung der verschiedenen Initiativen, gab es bald regionale Zentralisierungen und in der Regel zwei Mal jährlich einberufenen Bundeskonferenzen. An ihnen nahmen 1977 bis zu tausend, 1980 sogar bis zu 1500 Delegierte aus an die 300 Initiativen teil.
Hunderte von fantasievollen Aktionen, die bis heute zahlreich bei anderen Anlässen kopiert werden, verdanken ihren Ursprung der Anti-AKW-Bewegung. Vor allem im Zusammenhang mit den Besetzungsaktionen von Wyhl bis Gorleben blühte zwischen Hüttendörfern und Freundschaftshäusern die Kreativität. Die aktive Blockade und Besetzung als Aktionsform wurde populär gemacht. Selbst die biedere DGB-Gewerkschaftsbewegung griff in den Folgejahren im Kampf gegen Betriebsstilllegungen oder 1984/85 im Streik für die 35-Stunden-Woche solche Aktionsformen auf.
Nur in der Anti-AKW-Bewegung ist in Nachkriegsdeutschland bisher auch die "Direkte Aktion" erfolgreich durchgeführt worden: Behinderung von Eisenbahnzügen und LKWs, Sabotageaktionen, Absägen von Strommasten und ähnliches haben die Bewegung stets begleitet, oft unter ihrem Beifall und vorwärts treibend, zuweilen aber auch deplatziert und der Bewegung nicht mehr vermittelbar.
Mehr als zwei Dutzend Zeitschriften aus der und für die Bewegung wurden in den Jahren 1976—1979 geschaffen. Im Archiv des Autors schlummern allein knapp 30 verschiedene Titel. Die älteste überregionale Zeitschrift Atom stellte erst 1994 ihr Erscheinen ein. Broschüren, Bücher, Flugblätter mit Hunderttausenden Exemplaren wurden geschrieben und publiziert. Allein die Broschüre Es geht auch anders wurde mit einer Anfangsauflage von 500.000 hergestellt.
Spätestens 1977 hatten alle großen Buchverlage ihre eigenen Umweltschutz-, Ökologie- oder Anti-AKW- Titel oder gar -Reihen. Das Bremer Liederbuch der Bewegung geriet mit mehreren Auflagen zu einem Bestseller. Gleichzeitig verdanken zahlreiche Kleinkünstler und Künstlergruppen ihren Karrierebeginn der Anti-AKW-Bewegung.
Im Süden Deutschlands und im Wendland etablieren sich eigene Radiosender der Anti-AKW-Bewegung. 1979 wird maßgeblich auf der Basis der Erfahrungen der Anti-AKW-Bewegung die erste autonom-linke Tageszeitung, die bis heute existierende Taz, gegründet — wer sie heute liest, mag an diesem Ursprung vielleicht zweifeln, es ist aber wahr.
In kürzester Zeit schuf sich die Anti-AKW-Bewegung auch ein wissenschaftliches Fundament. Hunderte von Biologen, Physikern, Agrarwissenschaftlern, Ingenieuren, Juristen und andere Spezialisten stellten sich der Bewegung zur Verfügung, um fundiert der Gegenpropaganda der Regierung und den Anwälten und Richtern bei Prozessen Paroli bieten zu können. Mehrere, teilweise heute als etablierte Institute bestehende Einrichtungen wurden 1977—1979 im Rahmen der Anti-AKW-Bewegung gegründet. Selbst die Ökobank hat die ideellen Wurzeln ihrer Gründung im Widerstand gegen die Atomanlagen.

Die Linke marschiert

Die Anti-AKW-Bewegung hätte ihre rasante Ausdehnung von einer lokalen Protestinitiative zu einer gesamtgesellschaftlichen Massenbewegung nicht erreichen können ohne die Mitarbeit der linken Organisationen. Sowohl die locker organisierte Linke, die sich selber gern mit dem Namen "Autonome" schmückt, als auch die maoistischen Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), KPD/Marxisten-Leninisten (KPD/ML), Kommunistischer Bund Westdeutschland; der etwas flexiblere Kommunistische Bund, die trotzkistischen Organisationen Gruppe Internationale Marxisten und Spartacusbund, als auch die moskautreue Deutsche Kommunistische Partei sowie zahlreiche kleinere Grüppchen warfen ab Ende 1976 und 1977 fast ihre gesamten Kräfte auf die Anti-AKW-Bewegung. Das waren sicher zwanzigtausend erfahrene und einsatzbereite Kräfte.
Insbesondere die KPD und der KBW, lokal unterschiedlich auch die DKP, brachten mit ihren Parteiapparaten auch ein erhebliches Potenzial mit. Die Linke witterte eine große Chance, ihre bis dahin völlige gesellschaftliche Isolierung zu überwinden. Aus dieser Perspektive war die Anti-AKW- Bewegung der Versuch der Nach-68er-Linken, zum ersten Mal wirkliche Massenpolitik zu betreiben.
Nun gibt es sicherlich unzählige Beispiele, wo die realitätsuntüchtigen Ideologien der Focus-Theoretiker und Sozialrevolutionäre bei den "Autonomen" wie auch der Maostalinisten aus den K-Gruppen, das Leben und die Arbeit der Anti-AKW-Initiativen negativ durch Machtpolitik, verblendete Manöver, Gruppen-Konkurrenzen oder schlicht haarsträubende Vorschläge beeinträchtigt haben. Aber das wird heute alles vergessen sein.
Die wirklich existenzielle "Beeinträchtigung" geschah nämlich anders herum: die Anti-AKW- Bewegung veränderte diese linken Organisationen nachhaltig. So sehr, dass die meisten von ihnen später hilflos ihrem eigenen Untergang zusahen. Ein Teil der K-Gruppen und die DKP gerieten schon von Beginn an ins Rutschen. Ihre Verteidigung von russischen, ostdeutschen oder chinesischen Atomanlagen als gut und sicher, während sie gegen die westdeutschen vehement zu kämpfen vorgaben, musste die ideologische Verunsicherung eimerweise ins eigene Hauptquartier schütten.
Mit der neuen Bewegungsstruktur, den "Bürgerinitiativen", die in der marxistischen Terminologie im Grunde nichts anderes als Aktionseinheiten sind, konnten die bürokratisch, und eher religiös als marxistisch organisierten KPD und KBW, aber auch der nicht minder bürokratisch verfasste, wenn auch ideologisch flexiblere KB nichts anfangen. Es wurde darin im großen Stil mit Leuten zusammengetroffen, mit Sozialdemokraten, Liberalen, Kirchgängern, ja Konservativen, die nichts von der Linken wussten, folglich wenig von ihr hielten und trotzdem "irgendwie fortschrittlich" waren.
Während KPD und KBW sehr bald ihre Leute in den Initiativen treiben ließen und damit immer mehr ihre organisatorische Basis selbst aufrieben, versuchte sich der vor allem in Norddeutschland einflussreiche KB mittels formaler Machtpolitik durchzusetzen. Er füllte die Initiativen auf und sparte nicht mit den für Aktionseinheiten fast immer tödlichen "Kampfabstimmungen".
Nicht selten schuf er sogar eigene parteiliche "Bürgerinitiativen". Die schönste Blüte ist dabei immer noch die — Originaltitel — "Bürgerinitiative — Chemiearbeiter gegen Atomanlagen" aus Hamburg, der damals die heute noch bekannten Größen Rainer Trampert und Thomas Ebermann vorstanden.
Wenn die "proletarische Theorie" aber so unverblümt in "bürgerliche" Identitäten schlüpft, so entstehen sehr schnell doppelte Loyalitäten. Spätestens als mit der Anti-AKW-Bewegung Wahlpolitik betrieben werden sollte, standen dann plötzlich KB- Schöpfungen gegen ihre eigenen Meister auf, oder allzu eifrige "Initiativenkämpfer" ließen ihre KB-Zugehörigkeit hinter sich fallen.
Es gab auch einige Linke, z.B. aus dem Umfeld des Sozialistischen Büros, später auch bei den ausgetretenen K- Grupplern, die sahen die Bürgerinitiativen als neues revolutionäres Subjekt, als Vorwegnahme von zukünftigen Räten. Sie erklärten die Umwelt zerstörende Seite des Kapitalismus für den in Zukunft entscheidenderen Widerspruch, an den sich die Menschen mehr radikalisieren würden als am Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Aus heutiger Sicht lässt sich nur sagen: welch ein Irrtum.
Auch die bescheidene Linke in der SPD widmete sich mit Lust und Leidenschaft der Anti-AKW-Bewegung. Es dauerte ein wenig länger, aber schließlich beschließt die SPD 1986 auf ihrem Nürnberger Parteitag den Ausstieg aus der Atomenergie in zehn Jahren. 15 Jahre später, in diesem Frühjahr wurde die Frist noch einmal auf über 30 Jahre verlängert. So ist sie halt, die Mutter aller Abwiegelei: 45 Jahre hinter dem Mond. Zuvor tobten aber heftige Kämpfe in allen SPD-Landesverbänden. Nicht wenige Sozialdemokraten verließen die Partei und beteiligten sich am Parteiprojekt "Die Grünen" oder den Demokratischen Sozialisten.
In den Gewerkschaften versammelte sich zunächst die Rechte, die völlig abgedrehten Betriebsratsfürsten aus der Kraftwerks- und Elektrizitätsindustrie. Sie pöbelten in Anzeigen und sonstigen Auftritten gegen die Atomkraftgegner. Ihren Klüngel nannten sie "Aktionskreis Energie". Dem zu kontern, gründete die Gewerkschaftslinke 1977 den "Aktionskreis Leben", der viel Aufsehen und Anhang in der gewerkschaftlichen Diskussion erreichen konnte.

Heimholung ins Reich der Demokraten

Die Anti-AKW-Bewegung hat in dem Jahrzehnt 1976—1986 die bundesrepublikanische Gesellschaft erschüttert. Die Haltung der Mehrheit der Menschen und so gut wie aller politischen Institutionen wurde radikal verändert: von einer eher euphorischen Haltung für die Atomenergie zu einer tiefen Skepsis dieser "Übergangstechnologie" gegenüber. Zeitweilig war eine Mehrheit der Bevölkerung für bedingungsloses Abschalten der Atomkraftwerke.
Praktisch wurden wichtige Vorhaben aus der Atomtechnologie verhindert: vor allem alle Bestandteile der Atomtechnologie der nächsten Generation wie dem Schnellen Brüter in Kalkar, der Hochtemperaturreaktor in Hamm und der Wiederaufbereitung in Gorleben und Wackersdorf oder die Verlängerung der Plutoniumfabriken in Hanau. Sie alle wurden, wie es der niedersächsische Ministerpräsident so treffend formulierte, "politisch nicht durchsetzbar". Von den heiß umkämpften AKW-Vorhaben wurde lediglich das Wyhl-Projekt eingestampft.
Nimmt man aber die ernst gemeinten Studien der Atomindustrie aus Anfang der 70er Jahre, dann wären bis in die 80er Jahre fast fünfhundert neue Atomanlagen verwirklicht worden. In diesem Sinne wurde also eine tatsächliche Besinnung erreicht. Zugleich hat die Anti-AKW-Bewegung generell das "Jahrhundert-Thema" Umweltzerstörung eröffnet, dass insgesamt den positiven Bezug auf die "Allmacht" der kapitalistischen Technologie und Produktion erschüttert hat.
Dass die Bewegung nicht noch erfolgreicher war, dass vor allem keine politische Radikalisierung auch für andere gesellschaftliche Themen und Bereiche möglich gemacht wurde, liegt vor allem an der fatalen Entscheidung eines Teils der Bewegung, sich als Bewegungsinitiative an Wahlen zu beteiligen. Diese Idee kam 1978 ausgehend von Kandidaturen französischer Atomkraftgegner und von einigen rechten Kräften, denen die kämpferische Anti-AKW-Bewegung zu radikal, zu "schmutzig" war.
Bis 1980 wurden dann verschiedene grüne oder bunte Wahlinitiativen gebildet, die einen großen Aufschwung erhielten, als sich wesentliche Teile der Linken entschieden, daran mitzumachen, allen voran der KB. Das Ergebnis ist heute in aller Pracht zu betrachten: die Anti-AKW-Bewegung wurde enthauptet. Die Partei der Grünen hat die alte Stellvertreterpolitik verfolgt und einen Verrat nach dem anderen begangen. Die linken Organisationen KPD, KPD/ML, KBW, KB, SB, GIM und viele andere sind aufgelöst und weitgehend verschwunden. Die Sozialdemokratie streicht sich zufrieden das Bäuchlein: mal wieder eine rebellische Bewegung erfolgreich für den Kapitalismus domestiziert.
Was heute bleibt ist eine reduzierte Anti-Atom-Bewegung. Sie kämpft verbittert gegen die Castor-Transporte und andere letzte Schlüsselprojekte zur Aufrechthaltung der Atomkraftwerke. Gerade dieser Tage sind neue Aktionen gegen Transporte ins Wendland geplant. Sie verdienen breiteste Unterstützung. Die Orientierung auf die Grünen ist Desillusionierung gewichen, aber wer weiß, ob nicht eine neue kämpferische Generation heute fast zehn Jahre nach Beginn der Domestizierung der Anti-AKW-Bewegung schon auf neue radikale Aktionen wartet.

Thies Gleiss

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