Sozialistische Zeitung |
Erst die spektakulären Attacken, jetzt der schleichende Bioterrorismus und dann? Der Terror nutzt die Schwachstellen der neuen Weltordnung.
Die meisten der 170 Briefe mit weissem Pulver und Todesdrohung, die letzte Woche an Abtreibungskliniken in 16 US-amerikanischen Bundesstaaten versandt worden waren, haben
Arzthelferinnen mit Gummihandschuhen unverzüglich und ohne viel Aufheben zu machen ungeöffnet in Plastiksäcke gesteckt. Denn Bioterrorismus haben die
Beschäftigten solcher Einrichtungen bereits erlebt, als noch niemand von Osama Bin Laden sprach.
Besonders vermeintliche Anthrax-Sendungen gehören seit Jahren zum risikoreichen Alltag des medizinischen Personals,
das in der fundamentalistischen US-Gesellschaft legale Schwangerschaftsabbrüche vornimmt und nie kam es deswegen zu einer Verhaftung. Sieben Menschen sind in den letzten
Jahren ermordet worden, doch der Oberste Staatsanwalt und überzeugte Gegner jedes Schwangerschaftsabbruchs John Ashcroft hat noch keine Zeit für ein Treffen
zum Thema Gewalt gegen Abtreibungskliniken gefunden. An diesem Wochenende verwarnte Ashcroft die "grotesken Einzeltäter", die aus Jux Waschpulver, Babypuder und
Mehl in der Weltgeschichte herumschicken; den wohl organisierten Anthrax-Drohbriefversand des heimischen terroristischen Netzwerkes der extremistischen Abtreibungsgegner erwähnte
er mit keinem Wort.
Wenn die Anthrax-Gefahr hingegen die große Männerwelt von Medien und Politik trifft, wird einem jede
Nasensekretprobe einzeln präsentiert. Jede noch so wilde Vermutung verkaufen die TV-Anstalten als Gewissheit wenigstens bis zum nächsten Werbefenster. Jedes
Horrorszenario wird bis ins letzte sensationelle Detail ausgemalt, jede Angst aufgenommen und vervielfacht; öffentliche Identifikationsfiguren ergattern Gasmasken und Cipro für
ihre Lieben. "Die Bioterroristen geben uns nur, was die Medien uns längst zugedacht haben", sagt ein kritischer Kollege über die emotionalen Wechselbäder der
letzten Wochen, "mittels Einschaltquoten wählen wir die Waffen zu unserer Zerstörung laufend selbst."
Die bioterroristisch bedrohten US-Politiker, die im Gegensatz zu den ebenfalls bedrohten Familienplanungsfrauen und den am
meisten gefährdeten Postangestellten ihre Arbeitsplätze letzte Woche kurzerhand verliessen, bauen die Anthrax-Gefahr als Heimatfront in ihre Propaganda ein und konstruieren
täglich neue, sich widersprechende Feindbilder. Einmal sind die Milzbrandsporen "nicht waffenfähig", relativ ungefährlich und ähneln denen in US-
amerikanischen Labors; ein andermal wie jetzt deutet ihre Machart auf "staatlich geförderten Terrorismus" hin, etwa aus Russland oder, für die
Kriegsherren noch zweckdienlicher, direkt aus Saddam Husseins Irak. Und während der Milzbrand schwelt, beruhigt uns die Regierung mit verwackelten grünlichen Videobildern
von irgendeiner erfolgreichen US-Militäraktion auf irgendeiner Flugpiste, vermutlich in Afghanistan.
Niemand sagt laut und deutlich, dass jeder kleinen entschlossenen Gruppe heute mannigfache technisch einfache
Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um in den USA oder irgendwo sonst in der entwickelten Welt Massenmord zu begehen. Dass wir unglaublich verwundbar sind. Und dass
Bomben auf mutmaßliche "Terroristenfreunde" nicht das Geringste daran ändern. Wie schon die Suizidbomber vom 11.September haben die Anthrax-Attentäter
der letzten Wochen Methode und Ziel so gewählt, dass sie mit möglichst kleinem Einsatz grösstmöglichen Schaden anrichten können.
Die besonders ausgeprägte Verletzlichkeit der USA für Bioterrorismus hat verschiedene hausgemachte
Gründe, allen voran ein marodes Gesundheitssystem. Seit zwanzig Jahren werden in kleinen und großen Städten öffentliche Spitäler und Gesundheitszentren
geschlossen, privatisiert oder unzureichend finanziert. Nach dem Diktat der Marktwirtschaft hat sich die medizinische Versorgung in den USA Richtung "just in time" entwickelt: In
vielen Spitälern arbeitet nur gerade so viel Personal, wie es der Tagesbestand an PatientInnen erfordert, keine Arbeitskraft zu viel. Auch die Apparate und Medikamente werden
gemäss Operationsplan rationiert. Da bleibt wenig Raum für Unvorhergesehenes. Die verängstigten New Yorker, die gegenwärtig unter Umgehung ihrer
Privatärzte die Notfallaufnahmen der städtischen Kliniken stürmen und Milzbrandtests sowie eine Cipro-Behandlung verlangen, können das bestätigen.
Natürlich erschweren Hysterie und Panikkäufe das Funktionieren des Gesundheitssystems; andererseits tragen die allen US-Bürgern vertrauten Probleme zur allgemeinen
Unsicherheit bei wie die sprichwörtliche Unzuverlässigkeit der HMOs, die seit Jahren überlangen Wartezeiten im Notfall, die immer größer werdenden
Distanzen zum nächsten Gesundheitszentrum und die ausgeprägte Klassenmedizin.
Kanada hat immerhin versucht, die Verfügbarkeit des wichtigen Anthrax-Medikaments Cipro durch die Produktion eines weitaus billigeren Generikums zu sichern. Bush hingegen weigert
sich, das erst 2003 auslaufende Cipro-Patent des Pharmariesen Bayer zu umgehen obwohl ein in der Vergangenheit verschiedentlich angewandtes Bundesgesetz der US-Regierung
erlaubt, in Notsituationen genau dies zu tun. Die 100.000-Dollar-Wahlkampfspende der deutschen Firma an die Republikaner die Demokraten erhielten bloß 500 Dollar
hat dabei Bushs Loyalität gegenüber Bayer nur unwesentlich verstärkt.
Entscheidender ist, dass die USA mit dem Kauf von Cipro-Generika Tür und Tor öffnen würden für
vergleichbare Begehren vorab des AIDS-geplagten Südafrika, das dringend möglichst kostengünstige Arzneimittel braucht. Und dieses "falsche Signal"
würde ausgerechnet wenige Wochen vor der WTO-Konferenz in Doha (Qatar) gesetzt, obwohl doch die US-Regierung gerade durchsetzen will, dass die noch bestehenden
Möglichkeiten der Zwangslizenzierungen von Medikamenten in künftigen Handelsabkommen eingeschränkt werden.
Die Pharmaindustrie lässt sich den Patentschutz der neoliberalen Supermacht gerne gefallen, eine offizielle
Zusammenarbeit jedoch etwa in einem militärisch-pharmazeutischen Komplex ist nicht unbedingt erwünscht. Zu einer Zeit, da öffentliche Kontroversen
über Genfood, Klonen und Stammzellentherapie das Geschäft ohnehin erschweren, will sich die Biotechnologie nicht auch noch mit dem angstbesetzten Bereich der biologischen
Kriegsführung in Verbindung bringen lassen. Symptomatisch, dass der einzige Impfstoff gegen Anthrax im Auftrag des Pentagon von einem kleinen Labor (BioPort in Michigan) produziert
wird. Doch das hat seit der Geschäftsübernahme 1997 keine einzige neue Ampulle ausliefern können, weil die Produktionsstätte wiederholt den Kontrollen der
Gesundheitsbehörde FDA nicht standhielt.
Bin Laden hat Anthrax nicht erfunden. Der biologische Wirkstoff, der natürlich in der Landwirtschaft vorkommt, ist in den
Labors jener Länder verfeinert und verschärft worden, die heute am stärksten bedroht sind. Die USA allein besassen 1969 genug Anthrax, um die ganze Menschheit
auszurotten, und das gleich zweimal. Und vor ein paar Tagen, während gerade die ersten Postarbeiter an Lungenmilzbrand starben, gab das Pentagon zum ersten Mal seit dem
Biowaffenabkommen von 1972 grünes Licht für die armeeeigene Herstellung von potenteren Anthrax-Sporen zu "Versuchszwecken".
Welche neue Risiken und neue Formen des Bioterrorismus die genetische Manipulation von biologischen Organismen mit sich
bringt, mag man sich da gar nicht ausdenken. Und: die schnelle Kur, den garantierten wirksamen Fix für unsere Ängste gibt es nicht. Wenn wir nicht wissenschaftlich, wirtschaftlich
und politisch auf globale biologische Sicherheit hinarbeiten, sagt die indische Wissenschaftskritikerin Vandana Shiva, dann sind unsere Gesellschaften verletzlich wie nie zuvor.
Lotta Suter (Boston)
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