Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 08.11.2001, Seite 12

Palästina

Das Dilemma der Intifada

Das Attentat auf Israels Tourismusminister Zeevi, einem verhassten Führer der rassistischen Rechten in Israel, am 17.Oktober traf auf die begeisterte Zustimmung den palästinensischen Massen auf der Straße, doch es lieferte Israel einen Vorwand, seinen Krieg in den besetzten Gebieten zu eskalieren.
Das Attentat auf Zeevi war von den Abu-Ali-Mustafa-Brigaden durchgeführt worden, einer mit der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) verbundenen bewaffneten Gruppe. Am Tag vor dem Attentat war Zeevi aus der Regierung ausgetreten — als Protest gegen die seiner Ansicht nach zu weiche Haltung von Ministerpräsident Sharon gegenüber den Palästinensern.
Zeevi hatte sich einen Namen als Führer der Moledet-Partei gemacht, die den "Transfer", d.h. die Vertreibung, aller Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen befürwortet. Im April kam er in die Schlagzeilen, weil er zur Ermordung von Vertretern der palästinensischen Autonomiebehörde (PA), darunter Yasser Arafat, aufgerufen und die Palästinenser, die in Israel arbeiten, als "Läuse" bezeichnet hatte, die auszurotten seien.
Die PFLP übernahm die Verantwortung für das Attentat, das sie als Antwort auf die Ermordung ihres Generalsekretärs Abu Ali Mustafa am 27.August durchgeführt hatte. Abu Ali war von einer von einem Hubschrauber abgefeuerten Rakete getötet worden, als er in seinem Büro in Ramallah saß. Seine Beerdigung war die größte öffentliche Kundgebung in Ramallah seit Jahrzehnten.

Form der Selbstverteidigung



Die palästinensische Öffentlichkeit betrachtete die Tötung Zeevis nicht nur als Vergeltung für die Ermordung Abu Ali Mustafas, sondern auch für die eskalierende israelische Offensive; viele sahen im Attentat auch eine Form der Selbstverteidigung.
Seit dem Beginn der zweiten Intifada im September 2000 wurden mehr als 700 Palästinenser durch israelische Gewalt getötet und etwa 1% der Gesamtbevölkerung wurde verwundet. Mehr als 3000 Palästinenser sind gegenwärtig politische Gefangene in israelischen Gefängnissen.
Israels unaufhörliche Blockade palästinensischer Städte und Dörfer hat zu einem Sinken des Lebensstandards auf seinen niedrigsten Stand seit Jahrzehnten geführt.
Fast 70 Palästinenser wurden als Teil einer offenen und systematischen Strategie Israels, die auf die Ermordung von Führern und Aktivisten zielt, getötet; zahlreiche Unbeteiligte sind ebenfalls bei diesen Angriffen getötet worden.
Die Militarisierung der Intifada hat in den letzten Wochen zugenommen, insbesondere nach dem ausgedehnten Eindringen israelischer Truppen in die Gebiete der palästinensischen Verwaltung. Das Ausmaß dieser Invasionen ist beispiellos in den acht Jahren seit der Unterzeichnung der Oslo- Abkommen.
Mehr als 60 Palästinenser wurden in der letzten Woche während solcher Angriffe getötet, wobei Panzer alle wichtigen palästinensischen Städte besetzt hatten und der Verkehr zwischen den Städten fast unmöglich wurde. Das schlimmste israelische Massaker der letzten Tage geschah im Dorf Beit Rima am 24.Oktober.
Mehr als tausend Soldaten, 17 Panzer und zahlreiche Hubschrauber kreisten das 800-Einwohner-Dorf 24 Stunden lang ein. Die Presse , medizinische Helfer und sogar das Internationale Rote Kreuz durften das Dorf nicht betreten, und es wurde eine Ausgangssperre verhängt.
In den folgenden 24 Stunden durchkämmten israelische Soldaten die Häuser und verhafteten zehn politisch aktive Dorfbewohner. Mindestens neun Bewohner wurden während des Überfalls getötet und viele verletzt.

Repression der PA

Während die israelische Armee ihre Angriffe auf die Zivilbevölkerung fortsetzt, hat die palästinensische Autonomiebehörde (PA) eine ausgedehnte Verhaftungskampagne gegen Mitglieder der PFLP in der Region Ramallah und um Gaza begonnen.
Genaue Angaben über die Zahl der Inhaftierten sind schwer zu bekommen, aber es sind schätzungsweise über 100 allein im Gebiet um Ramallah. Die Kampagne scheint einer besonderen Strategie zu folgen, indem sie anfänglich auf Basisaktivisten und Sympathisanten der PFLP abzielt, mit dem Ziel, jede Mobilisierung der Bevölkerung gegen die Verhaftungen zu verhindern. Diese Personen werden von den General Intelligence Services festgehalten und im Wesentlichen korrekt behandelt.
Die Preventive Security hält die höherrangigen oder längerfristigen Aktivisten der PFLP fest ud die Haftbedingungen sind weit schlechter. Diese Gefangenen werden von Familienangehörigen und Anwälten abgeschirmt in einem Verhörzentrum festgehalten, das unter Anleitung der CIA gebaut worden war. In fünf unterirdischen Fluren befinden sich kleine Zellen von 4 m2, und man nimmt an das die Inhaftierten auch gefoltert werden.
Die öffentliche Opposition gegen die Verhaftungen wurde zum Verstummen gebracht, z.T. weil es ein totales Verbot der Berichterstattung in den palästinensischen Medien gibt, z.T. aufgrund der Intensität der israelischen Angriffe im Westjordanland und im Gazastreifen.
Am 21.Oktober kam es zumindest in Ramallah zu einer Demonstration gegen die Verhaftungen, an der 300 Personen teilnahmen. Diese Demonstration war vom lokalen Komitee der Intifadaführung organisiert worden und hatte die Unterstützung aller im Komitee vertretenen Fraktionen erhalten. Doch an der Demonstration hatten fast ausschließlich Anhänger der PFLP und von Hamas teilgenommen. Bezeichnend war das Fehlen von Vertretern der herrschenden Partei der PA, der Fatah.
Eine der wichtigen Entwicklungen in der Intifada war das Auftauchen einer Führung auf der Ebene der Straße, die viele Positionen der PA in Frage gestellt hat. Innerhalb der Fatah hat dies dazu geführt, dass die Führer der Fatah auf der Straße die Basis um Forderungen mobilisiert hat, die sich von dem, was die PA vertritt, unterscheiden. Dies zeigte sich deutlich bei den verschiedenen Versuchen Yasser Arafats in den letzten Monaten, einen Waffenstillstand auszuhandeln.
Die Nichtbeteiligung der Fatah-Aktivisten in Ramallah an den Demonstrationen gegen die Verhaftungen ist somit eine ernsthafte Kehrtwendung für die Fatah-Basis. Sie ist vielleicht ein Anzeichen dafür, dass sich das Netzwerk der Patronage innerhalb der Partei — das im Wesentlichen alle Fatah-Führer an eine pyramidenförmige Struktur bindet, die von finanzieller und politischer Unterstützung von Yasser Arafat abhängt — in der Ramallah-Region durchsetzt.
In anderen Gebieten im Westjordanland scheint die PA faktisch zusammenzubrechen. An ihre Stelle ist ein paralleles System der Autorität um politisch-militärische Gruppen aufgetaucht, z.T. auch um große Familien, die den bewaffneten Widerstand gegen die Besetzung geführt haben.
So hat um Bethlehem der Abbayat-Klan die Herrschaft der PA bei vielen Gelegenheiten in Frage gestellt, weshalb Arafat kürzlich den Gouverneur von Bethlehem und Leiter der Sicherheitsorgane ausgetauscht hat, um den Einfluss des Klans zu stoppen.
Ein prominentes Mitglied des Klans, Atef Abbayat, wurde am 18.Oktober von den Israelis ermordet, nachdem die PA nicht in der Lage war, dem Verlangen Israels, ihn zu verhaften, nachzukommen.
Eine ähnliche Situation der parallelen Machtausübung existiert im Norden des Westjordanlands, besonders in Jenin und Nablus.
Nach dem Attentat auf Zeevi erklärte die PA alle bewaffneten Gruppen für illegal und legte alle Entscheidungsfindung in die Hände der PA und der Exekutive der PLO. Diese Entscheidung wird von vielen als ein Versuch gewertet, der Führung der Intifada auf der Straße die Kontrolle über die Intifada zu entziehen. Ob die zahllosen mit der Fatah verbundenen bewaffneten Gruppen dabei wieder unter die Kontrolle Arafats gebracht werden können, ist eine offene Frage.
Kennzeichnend war, dass nach den Verhaftungen in Ramallah als Gegengewicht zur relativen Zustimmung der Fatah in Ramallah eine mit der Fatah verbundene und im Norden des Westjordanlands aktive bewaffnete Gruppe die Verhaftungen verurteilte und den militärischen Flügel der PFLP pries.
Wenngleich sie populär sind, haben doch die Ereignisse nach dem Attentat erneut die Frage nach der Effizienz von Aktionen solcher kleiner, bewaffneter Gruppen gegen Israel aufgeworfen.

Strategisches Dilemma

Das Muster dieser Intifada ergab sich bereits sehr früh: tägliche Massendemonstrationen an den Rändern der palästinensischen Städte gegen das israelische Militär; der Blutzoll stieg, als die israelischen Truppen gegen Demonstranten gezielte Todesschüsse abfeuerten; verschiedene Widerstandsfraktionen begannen bewaffnete Anschläge auf israelische Soldaten und Siedler; Israel ging dazu über mit Hubschraubern und Panzern gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen.
Die militärische Eskalation wirft für die Aktivisten der Intifada ein strategisches Dilemma auf: die Unterstützung für bewaffnete Aktionen war weitverbreitet, verwurzelt in einem tiefen Gefühl der Frustration, dass das Volk nicht mehr untätig sein und auf das nächste Begräbnis warten konnte. Doch das Problem eines solchen Herangehens wurde zu Beginn des Jahres deutlich. Die Beteiligung der Massen an den Straßendemonstrationen ging zurück, außer bei Beisetzungen und den traditionellen Freitagsdemonstrationen.
Die Mehrheit der Palästinenser versuchte die israelischen Beschränkungen der Freizügigkeit so weit wie möglich zu umgehen und in der prekären wirtschaftlichen Situation zu überleben. Die öffentliche Unterstützung für die Fortsetzung der Intifada ist weiterhin hoch, doch diese Intifada wird weitgehend als die Fortsetzung bewaffneter Aktionen verstanden, bei denen die Masse der Bevölkerung nur passiver Zuschauer ist.
Die Verhandlungsstrategie der PA entspricht diesem Dilemma. Die Verhandlungen werden von Individuen hinter verschlossenen Türen durchgeführt. Es gibt keine Versuche, Forderungen zu formulieren und zu diskutieren oder öffentliche Unterstützung zu erbitten und die Massen einzubeziehen.
In diesem Sinne sind die Verhandlungsstrategie und die Strategie des bewaffneten Kampfes Seiten derselben Medaille — beide betrachten die palästinensischen Massen als Zuschauer in einem Prozess außerhalb ihrer Kontrolle. Doch diese Massen als aktiver Bestandteil des Kampfes sind sicher der Schlüssel, um aus der Sackgasse herauszukommen.

Ahmad Nimer (Ramallah)

Aus: Green Left Weekly (Sydney), Nr.469, 31.10.2001.



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