Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 22.11.2001, Seite 5

Neugrüne Normalität

Streitkultur als mediale Inszenierung

Im Gegensatz zu manch medialer Aufgeregtheit der letzten Wochen bot die Performance der Grünen zur deutschen Beteiligung am Krieg "gegen den internationalen Terrorismus" keinerlei Überraschungen. Dies gilt auch für die Vertrauensfrage des Kriegskanzlers. Hinreichende Zustimmung seitens der 47 grünen Abgeordneten war ihr sicher, seit sie im Raume stand. Einzig von der klarsichtigen Annelie Buntenbach ist bislang bekannt, dass ihre politische Einschätzung des "rot-grünen Projekts" es rechtfertigen könnte, der Regierung der Neuen Mitte das Vertrauen zu entziehen.
Der grüne Bundesparteitag wird die planmäßige nachträgliche Billigung der von der Koalition geschaffenen Fakten besorgen. Dass es im Vorfeld der Entscheidung über den deutschen Kriegseintritt überhaupt heftige Auseinandersetzungen bei den Grünen gab, dass sich gar eine Mehrheit der Landesverbände gegen den Kurs ihres Außenministers stellten, solange dies die Koalition nicht ernsthaft zu gefährden schien, ist weniger auf die Prinzipienfestigkeit der Akteure zurückzuführen als auf den Druck der deutschen und europäischen Antikriegsbewegung.
Die politische Klasse der Neuen Grünen kennt keinen höheren Wert mehr als den Verbleib in der Koalition. Teils nimmt sie den Kurs der Regierung auf die Vollendung des neoliberal ausgerichteten Systemwechsels vom Sozialstaat des "rheinischen Kapitalismus" zum "Wettbewerbsstaat", zum "aktivierenden Sozialstaat" und zum "Sicherheitsstaat" mit militärischer Außenpolitik als akzeptablen Preis für "Erfolge" hin. Die bleiben jedoch Etikett: Atom"ausstieg", "Öko"-Steuer.
Andererseits sehen die Neuen Grünen ihre Rolle gerade darin, den neoliberalen Wechsel gegen sozialdemokratische "Traditionalisten" zu forcieren (Steuer-, Renten- oder Arbeitsmarktreform). Mit dem offenen Bekenntnis zu einer führenden Rolle Deutschlands und der EU in der von militärischer und ökonomischer Macht gleichermaßen definierten Neuen Weltordnung tut sie sich — noch — schwerer. Nur eine Minderheit von Fischer-Adepten ist bisher bereit, das "Gewissen" nicht gegen, sondern ausdrücklich für den Krieg zu reklamieren. Hier hat der alte Egon Bahr (SPD) Recht, der am Vorabend der Bundestagsentscheidung auf dem Fernsehkanal Phönix feststellte, die Grünen hätten "einen langen Weg zurückgelegt", aber dieser Krieg sei für sie dennoch "zu früh gekommen". Außen- und militärpolitisch haben die grünen Profis noch etwas vor sich, um auf Fischer-Niveau anzukommen.

Imperialistische Interessenpolitik

Für die Denke der "Fischer-Gang" recht aufschlussreich ist ein FAZ-Artikel des grünen Leiters des Planungsstabs des Auswärtigen Amts und langjährigen Fischer-Vertrauten Achim Schmillen, der bereits lange vor dem 11.September — zeitgleich zu der Zentralasienreise seines Chefs im Mai — erschien. Darin plädiert der Autor für ein Engagement Europas in Zentralasien einschließlich Afghanistan "aus ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen".
Als "klassische Pufferzone" trenne das "ressourcenreiche" Zentralasien Europa (!) vom indischen Subkontinent, von China und Ostasien. "Der EU ist daran gelegen, die Energieimporte durch die Erschließung der Erdöl- und Erdgasreserven in der zentralasiatischen und kaspischen Region zu diversifizieren." Die Erschließung der Öl- und Gasvorkommen für den "europäischen Markt" sei jedoch wegen der destabilisierenden Wirkungen des radikalislamischen Taliban-Regimes auf die umliegenden, ohnehin instabilen Staaten gefährdet, zumal "russische Fachleute" davon ausgingen, "dass sich die Taliban noch im Laufe des Jahres 2001 gegen die Nordallianz durchsetzen".
Sich offen zu einer derart ökonomisch und geostrategisch motivierten Interessenpolitik Deutschlands und der EU in Zentralasien zu bekennen, ist noch nicht Sache der grünen Führung. Selbst die Antikriegserklärung der zunächst acht AbweichlerInnen in der grünen Fraktion erwähnt die wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen des Westens mit keiner Silbe — obwohl manche Analysten des "Kriegs gegen den Terror" längst darauf hingewiesen hatten und obwohl die Erklärung dadurch die Frage offen ließ, warum der Westen seine milliardenteure Kriegsmaschine auf Afghanistan wirft.
Aber der eigenen Regierung und dem eigenen Außenminister solch interessenpolitische Motive zu unterstellen, war dem Konsens unter den Acht wohl nicht zuträglich.

"Politischer Pazifismus"

Um "die Partei mitnehmen" zu können, bedarf es der Inszenierung eines Kampfes um hohe ethische statt schnöde materielle Werte. Dies war schon das Erfolgsrezept der Neuen Grünen im Streit um den Kosovo-Krieg, wo sie wider alle Vernunft einen Grundsatzkonflikt zwischen "Menschenrechten" und "Antifaschismus" gegen den Frieden konstruierten. Auf diese Weise lässt sich den regierungskonformen Mehrheiten das Gefühl vermitteln, trotz alledem "für das Gute" einzustehen.
Dem dient auch die Kreation des "politischen Pazifismus", jener neugrünen Wortschöpfung, die Krieg als Mittel der Politik legitimiert, solange eine "strategische Gesamtkonzeption" die Verfolgung "guter" Ziele suggeriert. Helmut Kohls gegen die Friedensbewegung gerichtetes Motto "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" meinte in etwa das Gleiche. Wenn Reaktorminister Jürgen Trittin Recht behält, wird die Haltung zum Krieg als Hauptfrage des Parteitags verdrängt durch den Aufruf zur "Verteidigung von Rot-Grün" gegen die rechte Opposition im kommenden Wahljahr — so seine Ankündigung bei der Talkshow von "Sabine Christiansen".
Ob auch der Versuch von NRW-Ministerin Bärbel Höhn Furore macht, das Taliban-Regime als "faschistisch" und den Krieg als antifaschistische Befreiungstat zu charakterisieren, sei dahingestellt. Sie hatte sich in der irrigen Annahme, die grünen Gegner des Kosovo- Kriegs würden sich durchsetzen, noch auf dem Bielefelder Kriegsparteitag gegen Parteiführung und Fraktionsmehrheit gestellt. Fischer nahm ihr das sehr übel. Sie hat ihre Lektion gelernt.
Sicher erscheint die Klassifizierung als "faschistisch" nicht, aber neben der "Bekämpfung des internationalen Terrorismus" wird die Befreiung der afghanischen Frauen von ihrer barbarischen Unterdrückung durch die Taliban zur Rechtfertigung des Krieges herangezogen werden.
Hier behält die emeritierte Professorin für Soziologie, Maria Mies, Recht, die in der Rechtfertigung des Kosovo- Kriegs das Muster erkannte, dass in der neuen Weltordnung ausgerechnet Frauen verstärkt zur Legitimation westlicher Kriege missbraucht werden, obwohl gerade sie stets auch deren Opfer sind.
Argumente spielen in der grünen Willensbildung längst keine wesentliche Rolle mehr. Schon vor 1998 ist es üblich geworden, dass Parteitagskontroversen gleichsam als Vertrauensfrage der grünen Führung entschieden wurden. Die Chancen von Parteitagsanträgen richten sich nicht danach, worauf sie inhaltlich zielen; entscheidend ist vielmehr die Frage, welche Personen dadurch "gestärkt" oder "geschwächt" würden. Wann immer die große Mehrheit der grünen politischen Klasse geschlossen für ihren Kurs steht, ist ihr der Erfolg gewiss. Denn ihn abzulehnen, käme einem Misstrauensvotum gegen das eigene Führungspersonal gleich; die Partei wäre gleichsam enthauptet.
Eine alternative Führung blieb stets außer Sicht, da sich die Parteilinke um so stärker "konsensorientiert" zeigte, je unmissverständlicher die Rechte ihnen politisch den Stuhl vor die Tür stellte. Wie hoch die Wogen auf dem Parteitag auch schlagen mögen, es gibt keine Kraft, die als linke Opposition willens und in der Lage wäre, dem neoliberalen und "nordatlantischen" Kurs ihrer Führung umfassende politische und personelle Alternativen entgegen zu setzen.
Die strukturell marginalisierte grüne Restlinke, als deren Galionsfigur Hans-Christian Ströbele gilt, will "loyale Opposition" sein und fügt sich damit in die ihr zugewiesene Rolle einer Leimrute der Neo-FDP im linken Milieu ("Es gibt ja auch noch solche"). Ohne sie wäre es nicht mehr möglich, ab und zu noch den Anschein "grüner Streitkultur" zu erzeugen. Ohne sie wären die Grünen die langweiligste Partei Deutschlands.

Abgesang?

Was bedeutet all das für die weiteren Aussichten des grünen Politikunternehmens? Die Erosion auf der linken Seite von Mitglied- und Wählerschaft wird einen neuen Schub erhalten, die Zahl der Aktiven weiter schrumpfen. Prognosen über das bevorstehende parlamentarische Aus könnten dennoch verfrüht sein. Dem ZDF-Politbarometer zu Folge sprachen sich zwar 58% der Grünen-Anhänger gegen den Krieg aus, doch 92% optierten zugleich für den Verbleib in der Koalition.
Dies deutet darauf hin, dass es den Neuen Grünen durchaus gelingen kann, sich als "ökologisch aufgeklärte" Variante des Neoliberalismus am Parteienmarkt zu behaupten. In Zeiten generell rückläufiger Wahlbeteiligung kann man aus politikunternehmerischer Sicht damit leben, ein Drittel oder auch die Hälfte der früheren Wählerschaft zu verlieren, so lange mindestens 5% der abgegebenen Stimmen erreichbar bleiben. "Totgesagte leben länger" — dies bei der alten wirtschaftsliberalen Kleinpartei bewährte Motto könnte ebenso für ihre neue Konkurrentin gelten. Doch wie dem auch sei — parteiförmige Politik ist ohnehin als Mittel des Eintretens für eine zukunftsfähige Alternative zum gesellschaftlichen Umbaukonzept von Neuer Mitte und Neoliberalismus vorerst unbrauchbar geworden.

Daniel Kreutz

Der Autor war von 1990 bis 2000 Sprecher der grünen Fraktion im NRW-Landtag für Arbeit, Gesundheit und Soziales; seither parteilos.



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