Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 22.11.2001, Seite 7

Kalkuliertes Risiko

25 Jahre nach Seveso und 15 Jahre nach Sandozbâle hat es in Toulouse geknallt

Am 21.September explodieren in einer Fabrik des Konzernes TotalFinaElf 300 Tonnen Kunstdünger. 22 Arbeiter und 7 Anwohner starben und 2500 Menschen wurden durch die Explosion verletzt. Und wie schon bei den früheren Industriekatastrophen waren die Risiken im voraus bekannt und als sog. "Restrisiko" einkalkuliert.
Die Stadt holt wieder Atem und die Versicherungen schätzen den Schaden auf 6—8 Milliarden französische Francs. Die Azote de France (AZF) produzierte Ammoniumnitrat, einer der meist verwendeten mineralischen Grundstoffe in Frankreich. Aber nicht nur: "seine Explosionskraft macht es zu einem gebräuchlichen Sprengmittel" (Le Monde, 23./24.9.01). Die Herstellung dieses Stoffs machte am Schluss 10% der Produktion aus. Dieser Sprengstoff wurde auch beim Attentat in Oklahoma City verwendet, das am 19.April 1995 168 Todesopfer forderte.
Die neue Industriekatastrophe in Toulouse, die nach dem Schrecken von Seveso, Bhopal und Basel niemand mehr zu beunruhigen scheint, wirft drei Grundsatzfragen auf: Warum wurden die Erfahrungen aus den vergangenen Katastrophen ignoriert? Gibt es im kapitalistischen System überhaupt die Möglichkeiten, solchen Katastrophen vorzubeugen? Sind diese Fabriken überhaupt nötig?

Ein Unfall?



Laut Wörterbuch sind "zufällige und unvorhersehbare Ereignisse" wie die Explosion bei AZF keine Unfälle. Diese wurde durch ein bekanntes Risiko verursacht, und die Konsequenzen waren von der Besitzerin TotalFinaElf einberechnet. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so wären aus den vergangenen, identischen Unfällen in Frankreich die Lehren gezogen worden. Dies ist jedoch nicht geschehen. Erinnern wir uns der Unfälle und Katastrophen mit künstlich erzeugtem Dünger:
• April 1947: Ein französisches Frachtschiff mit Kunstdünger explodiert im Hafen von Texas City. Die Katastrophe fordert mehr als 1000 Todesopfer und 35.000 Verletzte. Durch die Explosion entstand eine salpetersäurehaltige Wolke, die die Explosion von zwei weiteren Schiffen und einer Transportleitung mit Benzin verursachte, die das Hafenquartier beschädigten.
• 28.Juli 1947: Im gleichen Jahr explodierten im Hafen von Brest 3000 Tonnen Ammoniumnitrat, die für die Herstellung von Kunstdünger bestimmt waren. Die Explosion forderte 25 Tote, die Druckwelle verwüstete die Stadt und beschädigte ein Benzin- und Öllager. Le Monde kommentierte damals die Explosion: "Man staunt, dass das Wissen um die Gefahr [drei Monate nach der Katastrophe in Texas City] nicht zu einer Information der Bevölkerung und der Hafenarbeiter geführt hat." Mehr als ein halbes Jahrhundert später wird das Erstaunen zu einer Anklage.
• 29.Oktober 1987 entzünden sich 750 Tonnen Künstdünger im Hafen von Nantes. 30 Meter neben dem Brand befinden sich 3000 Tonnen Ammoniak, 10 Meter daneben ein Transformator mit Phosgen: Freisetzung einer toxischen Wolke, Freisetzung von Dioxin durch die Erhitzung des Transformators wie in Seveso und die Explosion des Ammoniaks, wie Experten befürchteten. Konfusion, Ignoranz, Panik der Experten und unbeschreibliche Verwirrung.
Mit dem Blick auf diese Katastrophen, die alle vergleichbar mit Toulouse sind, kann man da, ohne zu lügen, die Explosion in der AZF als Unfall bezeichnen? Guy Debuisson, Anwalt der Opfer, täuscht sich nicht: "Man kann nicht von einem Unfall sprechen, wenn es wahrscheintlich ist, dass er sich ereignet und die Angestellten der Fabrik schon lange wussten, dass eine Tages alles in die Luft fliegt." Das bedeutet, die Bevölkerung weiß es, aber kann nichts unternehmen, und die Unternehmer wissen es, aber handeln nicht — warum?
Kann das Kapital Katastrophen verhindern? 15 Tage nach dem Chaos in Toulouse blieben die genauen Ursachen widersprüchlich mit Ausnahme einer ersten Expertise nach der "die Zersetzung von Ammoniak zu einer hochexplosiven Substanz führen kann" (Le Monde, 6.10.). Unterdessen berichten konservative Zeitungen: "Der CIA hatte gewarnt: Toulouse ist eine Zielscheibe" (Le Matin in der Schweiz vom 22.9.). Der Figaro und Le Parisien verdächtigen islamische Fundamentalisten und zitieren Experten, die behaupten, Ammoniak kann nicht ohne Zusatzenergie explodieren. Der Canard einchaîné (3.10.) meinte dazu: "Ammoniak ist so stabil wie Dynamit bis es knallt."
Zusätzliche Informationen zeigen, was unternommen wurde, um die Bevölkerung zu schützen:
• Die AZF schüttete jeden Tag 8 Tonnen Salmiak und 1,5 Tonnen Stickstoff in die Garonne, die am Fabrikgelände vorbeifließt (Le Monde, 3.10.).
• Tausende von Tonnen Ammoniak entwichen im März 1999 (Le Monde, 28.9.).
• Eine wissenschaftliche Risikoanalyse lag auf dem Tisch der TotalFinaElf.
• Die Fabrik arbeitete mit ständiger Unterbesetzung und seit 1999 wurde ein Drittel der Stellen abgebaut.
• In der betroffenen Anlage befanden sich neun radioaktive Quellen, die durch Zufall nicht betroffen wurden.
• Die Explosion bedrohte eine Produktionstätte von Schießpulver und Sprengstoff der Société Nationale, die nur 1000 Meter von der AZF entfernt liegt.
Kurzum: in dieser Fabrik wurden wenig Anstrengungen unternommen, um die Umweltverschmutzung zu verringern, den größten Risiken zu begegnen und die Bevölkerung über die Gefahren aufzuklären. Neben diesen Maßnahmen hätte als erstes die Pulverfabrik aus dem Herzen der Stadt verlegt werden müssen. Denn es ist bekannt, dass das städtische Gebiet ein spezielles Gebiet für Katastrophen ist. Einwohnerzahl und Dichte erhöhen die Gefahr einer Katastrophe und ihrer Auswirkungen. Aber die Verlegung aller Fabriken mit der Klassifizierung "Seveso" aufs Land in Frankreich oder ärmere Länder, könnten die Unternehmer als Vorwand nehmen, um die Kosten für die Sicherheit zu senken. Vor einer Verlegung von Fabriken muss die Frage aufgeworfen werden, ob die Produktion nötig und sinnvoll ist.

Nützliche Produktion?



Der Verbrauch von Kunstdünger hat sich zwischen 1965 und 1990 verdreifacht. "Der Missbrauch der Fruchtbarkeit in der Landwirtschaft hat in zahlreichen Ländern zur Verschmutzung des Oberflächenwassers und der Grundwasserschichten und zu einer markanten Erhöhung der Nitratkonzentration im Trinkwasser geführt. In Frankreich betrifft dies rund 10% der Trinkwasserbrunnen in Zonen mit intensiver Landwirtschaft. Trotz anfänglich positiver Wirkung hat die Revolution durch Kunstdünger heute schädliche Folgen, die sich verallgemeinern. Ein Verständnis für das natürliche Umweltsystem führt zu einer extensiven Landwirtschaft und einer Reduktion von Düngemitteln."
Hören wir auf diese Wissenschaftler, dann muss dringend die Produktion von Kunstdünger und die Zahl der Produktionsstätten reduziert werden, um die Gesundheit der Menschen und die Umwelt zu schützen.
Der Entscheid über chemische Produkte, die Produktionsweise, die Menge, der Standort der Fabriken, die Risikoanalysen und die Sicherheitskontrollen dürfen nicht den Unternehmern überlassen werden. Ihr Interesse sind die Erhöhung der Gewinne und nicht die Verbesserung unserer Sicherheit. Dieser Entscheid muss kollektiv von den Bauern, die die Produkte einsetzen, von den Verbrauchern, die die Produkte konsumieren, den Wissenschaftlern, die die Gefahren kennen, den Arbeitenden, die die Produkte herstellen, und allen, die von den Gefahren der Nahrung, der Umwelt und der Industrie betroffen sind, gefällt werden.
Die Summe der tragischen Tatsachen zeigt, dass es nicht genügt, die Nachlässigkeit der Behörden und den Zynismus der privaten Eigentümer aufzudecken und zu verurteilen. Die Sicherheit muss von den Bürgerinnen und Bürgern selbst in die Hand genommen werden. Damit dies möglich wird, müssen kurzfristige, individuelle Ängste vor Betriebsschließungen, Entlassungen und Lohnreduktion überwunden werden, um uns grundlegenden und dringenden Sorgen der gesamten Menschheit zuzuwenden — der Verschmutzung der Luft, des Wassers, der Böden, der Atmosphäre, die Verschlechterung der Nahrung und den erhöhten Gefahren von Klima- und Industriekatastrophen. Damit eine andere Welt noch möglich ist, müssen wir die Frage schnell in unsere eigenen Hände nehmen. Das Komitee "Nie mehr dies — hier und anderswo", das nach der Katastrophe in Toulouse entstanden ist, gibt einen sehr guten Anstoß zu diesem Projekt.

François Iselin

Aus: SolidariteS (Genf), Nr.135.

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