Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 22.11.2001, Seite 9

Einerseits — andererseits

Erklärung der Opposition in der PDS

Am 4.November trafen sich in Berlin die Koordinationsgruppe des PDS-Programmentwurfs 2.2. (D.Menzner, E.Lieberam, W.Wolf) und etwa 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum vierten "Mittelgroßen Ratschlag". Die SoZ dokumentiert, leicht gekürzt, die auf dem Treffen verabschiedete Erklärung "Wie weiter mit der, wie weiter in der PDS?"

Die Ergebnisse des Dresdener PDS-Parteitag vom 6./7.Oktober 2001 und der Entwicklung der PDS seit diesem Einschnitt — die Berlin-Wahl eingeschlossen — sind widersprüchlich.
Auf der einen Seite präsentierte sich die PDS in Dresden und bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus erfolgreich als Friedens- und Antikriegspartei. Das ist zweifellos eine positive Botschaft. Auf der anderen Seite dürfte sich der PDS-Parteitag in Dresden als ein wichtiger Wendepunkt erweisen: Dort wurden die Münsteraner antimilitaristischen Beschlüsse aufgeweicht. Vor allem wurden dort in der Programmdebatte weitreichende Beschlüsse gefasst, die die von der Parteiführung und den "Vordenkern" geforderte Richtungsentscheidung — weg von den sozialistischen Grundsätzen des 1993er Programms und hin zu einem reformerischen Programm ohne wirkliche sozialistische Zielsetzung — zu einem großen Teil realisieren.

Krieg, Frieden und die PDS

Prägend für den Dresdener Parteitag war das Thema Terror, Krieg und Frieden. Das Parteitagsmotto "Frieden & Gerechtigkeit weltweit" und der dort verabschiedete "Friedensappell" charakterisieren die PDS als Friedenspartei. Daran kann angeknüpft werden, um entschieden gegen die Kriegspolitik der USA und deren Unterstützung durch die Bundesregierung zu kämpfen. Viele, die sich in den letzten Tagen vor der Berlin-Wahl entschieden, PDS zu wählen, verstanden dies als Stimmen gegen den Krieg. Das gilt insbesondere für die relative Mehrheit der Erstwähler, die für die PDS stimmten.
Bereits wenige Stunden nach Ende des Parteitags, als die US-Regierung mit dem Bombardement auf Afghanistan begann, erwiesen sich die im "Friedensappell" formulierten Einschätzungen als überholt. So wenn es in dem "Appell" heißt: "Noch kann der drohende Krieg das letzte Aufbäumen eines Jahrtausends der Gewalt und Gegengewalt sein. Noch kann die Gegenwart stärker sein als die Mächte der Vergangenheit." Tatsächlich sind es die Mächte der Gegenwart, die Krieg als Mittel der Politik deutlicher denn je betreiben und den konkreten neuen Krieg unübersehbar vorbereiteten. US- Präsident Bush hatte 14 Tage vor dem Dresdener PDS-Parteitag verkündet: "Die Bürger Amerikas müssen sich auf einen langen militärischen Feldzug gefasst machen, wie wir ihn noch niemals erlebten." Diese klaren Worte wollte die PDS-Führung noch Stunden vor Kriegsbeginn nicht wahrhaben. Liest man heute den "Friedensappell", dann wird sein in die Irre führender Charakter deutlich:
• Der Appell stellt nicht den neuen drohenden Krieg in den Mittelpunkt. Seine Forderungen nach "Frieden" und "Besonnenheit" sind unspezifisch in einer Situation, in der Ross und Reiter genannt werden mussten.
• Er benennt nicht die US-Regierung und die Nato als diejenigen, die den Terror zum Vorwand für eine umfassende Kriegstreiberei nahmen.
• Der Appell kritisiert nicht die Bundesregierung und die Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP wegen ihrer Unterstützung für die US-Regierung und für die Inkraftsetzung von Artikel 5 der Nato- Charta, das heißt für die konkrete Kriegsvorbereitung.
• Der Appell erwähnt nicht einmal die Militarisierungspolitik auf dem Balkan, wo die Bundeswehr kurz vor Kriegsbeginn in Afghanistan zur führenden Militärmacht in Mazedonien bestimmt wurde.
• Der "Appell" enthält keine Aktionsperspektive und keinen Aufruf zu den Antikriegsdemonstrationen, zu denen die Friedensbewegung für das dem Parteitag folgende Wochenende aufrief.
Vertreter des Marxistischen Forums und Unterstützerinnen und Unterstützer des Programmentwurfs 2 hatten fristgerecht zwei Ergänzungsanträge zum "Friedensappell" eingebracht. Mit diesen sollte dieser Text um die oben genannten Themen erweitert werden. Das Präsidium lehnte es jedoch ab, diese Änderungsanträge überhaupt als Teil des "Appell" zur Abstimmung zu bringen. Zwar wurde tags darauf einer dieser Anträge im Rahmen der Befassung mit "übrigen Parteitagsanträgen" angenommen. Auch wenn es sinnvoll ist, sich darauf positiv zu beziehen, so muss doch realistisch erkannt werden: Dies hatte so gut wie keine Bedeutung für die Außenwirkung.
Weit wichtiger zur Bewertung der PDS-Position beim Thema Krieg und Frieden ist, dass von prominenter Stelle auch auf diesem Parteitag immer wieder versucht wurde, die Antikriegsposition der PDS in Frage zu stellen. So forderte Gregor Gysi in seiner Rede auf dem Parteitag erneut, dass die Terroristen mit "einer polizeilichen Aktion", "durchgeführt von Militärs", zu ergreifen seien. Der als "Arbeitsgrundlage" akzeptierte "Programmentwurf 1" widerspricht ausdrücklich der in Münster bestätigten Position, wonach die PDS auch Kriege, die vom UN-Sicherheitsrat nach Kapitel VII UN-Charta "mandatiert" wurden, ablehnt. In dem Entwurf heißt es: "Wir lehnen die von den USA und ihren Verbündeten praktizierte Missachtung des internationalen Gewaltmonopols des Sicherheitsrats der UNO strikt ab." Im Klartext: Wir akzeptieren dieses Gewaltmonopol der wenigen Atommächte, die den Sicherheitsrat bestimmen. In Münster wurde beschlossen, dass wir dieses Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrats nicht akzeptieren, weil wir wissen, dass Kriege, die mit dem Segen des UN-Sicherheitsrat stattfinden, nicht weniger verwerflich sind als solche ohne ein solches Mandat. Nicht nur der Golfkrieg 1990/91 fand im Auftrag des UN-Sicherheitsrats statt, auch der gegenwärtige Krieg gegen Afghanistan hat erneut ein solches Mandat — und ist und bleibt doch abzulehnen und zu bekämpfen.
Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch äusserte am 27.Oktober im Berliner "Tagesspiegel": "Unsere Aussen- und Sicherheitspolitik muss noch realitätstauglicher werden. Es hat da Riesenschritte gegeben, gerade auf unserem Parteitag in Dresden. Die zuvor bei uns heiß diskutierte Haltung zu einzelnen Kapiteln der UNO-Charta ist keine Streitfrage mehr."
Damit bestätigt sich eine Erfahrung, die wir seit vielen Jahren in der PDS erleben: Je mehr die PDS danach strebt, Koalitions- und Regierungsfähigkeit auf Bundesebene oder in der Hauptstadt Berlin zu erlangen, desto offener wird ihr — wie Jahre zuvor den Grünen — die Gretchenfrage zu Krieg und Frieden gestellt: Nur wer Ja zu imperialistischen Kriegen sagt, darf auf den Regierungsbänken einer Bundesregierung oder in der Hauptstadt Berlin Platz nehmen. Das allein erklärt letzten Endes, dass es in Berlin trotz des großen Wahlerfolgs der PDS zum Ausschluss der PDS aus der Regierungsverantwortung kommt.
Damit wiederholt sich im Grunde ein Vorgang, den wir bereits 1998/99 erlebten: Nach der Bundestagswahl 1998 verkündete die PDS-Führung in Partei und Fraktion unmissverständlich, das maßgebliche Ziel sei die Koalitionsfähigkeit auf Bundesebene. Vorbedingungen wurden dabei nicht gestellt. Doch dann kam der Nato-Krieg gegen Jugoslawien. Als die PDS "Nein" zu diesem Krieg sagte, wurde sie demonstrativ abgestraft. Der Münsteraner Parteitag der PDS, der dieses prinzipielle Nein verstärkte, wurde damit beantwortet, dass die bürgerliche Öffentlichkeit die PDS wie Aussatz behandelte.
Nach den Terroranschlägen vom 11.September 2001 waren maßgebliche Teile der PDS-Führung bereit, "militärische Aktionen" zu bejahen. Darauf stieg die Zustimmung der Medien zur PDS als potenzieller Regierungspartei, während gleichzeitig die PDS in der Wählergunst sank. Erneut machte die Realität einen Strich durch die Rechnung: Der reale Krieg begann, die PDS sagte Nein. In Reaktion darauf schloss Schröder die PDS aus den "vertraulichen Kanzler-Gesprächen" aus und setzte in Berlin die Ampelkoalition durch.

Programmdebatte

In Dresden gab es eine deutliche Entscheidung in der Programmdebatte — zugunsten eines Programmentwurfs, der die Positionen des "Reformer"-Flügels wiedergibt und die sozialistischen Grundpositionen des geltenden 1993er Programms in Frage stellt.
Dort wurde beschlossen, dass ein "neuer Programmentwurf" unmittelbar nach der Bundestagswahl 2002 vorzulegen ist. Für diesen soll jedoch "Entwurf 1" die "Arbeitsgrundlage" sein. Die Existenz anderer Programmentwürfe wird im angenommenen Leitantrag nicht einmal mehr erwähnt. […]
Im Ergebnis des Dresdener Parteitags wurde die Programmdebatte faktisch auf den Entwurf eines Flügels eingegrenzt. Gleichzeitig wurde die Programmdebatte, die kaum begonnen hatte, faktisch für den großen Teil der Mitglieder abgebrochen. […]
Selbstverständlich werden wir uns in die Programmdebatte weiter einbringen. Wir werden vorschlagen, den Kreis der Gruppe, die am Programm konkret arbeitet, auch um Vertreter unserer Position zu erweitern. Doch wir müssen realistischerweise davon ausgehen, dass sich in der PDS in den letzten zwei Jahren weitreichende Veränderungen vollzogen haben. […]
Der Dresdener Parteitag muss jedoch bei einer Gesamtbetrachtung als Richtungsentscheidung zugunsten des Reformflügels gewertet werden: Es gelang nicht deutlich zu machen, dass eine relevante Strömung an sozialistischen, antikapitalistischen und strikt antimilitaristischen Positionen festhält. Die undemokratische Parteitagsregie war das eine. Die Akzeptanz einer solchen durch eine deutliche Mehrheit der Delegierten ist das andere.

Gründe für die Richtungsentscheidung

Zweifellos gibt es unterschiedliche Ursachen für diese Richtungsentscheidung und den Durchmarsch des Reformerflügels.
Ein wesentlicher Grund ist darin zu sehen, dass die bestehenden linken Strömungen und Gruppen in der PDS ihre Kräfte nicht bündelten. Es kam nicht zu einem Programmentwurf, der von den offiziellen Strukturen und von den führenden Vertretern und Vertreterinnen des Marxistischen Forums und der Kommunistischen Plattform mit getragen wurde. Wir möchten an dieser Stelle keine rückwärts gewandten Debatten führen. Die entscheidende Frage nach dem Dresdener Parteitag ist jedoch, ob aus diesem strategischen Fehler Lehren gezogen werden. Gerade nach dem Dresdener Parteitag bedarf es einer neuen Debatte über die Notwendigkeit einer engen Koordination derjenigen Kräfte, die in der PDS die sozialistischen Positionen, wie sie im noch geltenden Programm von 1993 festgehalten sind, weiter verteidigen wollen.
Die mangelnde Einheit der Linken in der PDS erklärt jedoch nur zu einem Teil den Durchmarsch der Reformer. Wir können unsere Augen nicht vor weitreichenden Veränderungen in der PDS verschließen:
• Seit Mai 2001 sind rund 1000 PDS-Mitglieder […] ausgetreten. Generell verliert die PDS Jahr um Jahr mehrere tausend Mitglieder. Das Durchschnittsalter unserer Genossinnen und Genossen in den neuen Ländern hat ein Niveau erreicht, bei der eine politische Aktivierung, wie sie eine Debatte um alternative Programme und ein Einbringen in gesellschaftliche Bewegungen erfordern würde, für einen großen Teil kaum mehr realisierbar ist.
• In den westlichen Bundesländern hat sich das Wachstum der Mitgliederzahl seit dem Münsteraner Parteitag deutlich verlangsamt; in einzelnen Landesverbänden kam es zum Erliegen. Erstmals seit Jahren herrscht zumindest in Teilen eine Stagnation vor.
• Die politische und berufliche Herkunft vieler heute maßgeblicher PDS-Mitglieder begünstigt die Herausbildung und Festigung einer "staatstragenden" Haltung.
• Viele neue Mitglieder — in Ost und West — stoßen als politisch Unerfahrene zur PDS. Ihre erste Motivation ist oft eine allgemeine Zustimmung zu "sozial und solidarisch" und zur Antikriegs-Position. Doch in der PDS gibt es kaum Möglichkeiten, dass sich diese neuen Mitglieder zu selbstbewussten und kenntnisreichen Sozialistinnen und Sozialisten entwickeln.
• Die PDS erhält viele Millionen Mark jährlich vom Staat als Mittel für Wahlkampfkostenerstattung, für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und für steuerliche Zuwendungen auf Spenden. Die Wahlerfolge der PDS bescherten unserer Partei Tausende parlamentarische Mandate und Mitarbeiterstellen: im Bundestag, in den Landtagen, in den Kreisen und Städten, in und über die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zu verhindern, dass dies in eine politische Einbindung mündet, würde einen hohen Grad an sozialistischem Bewusstsein und an einer Integration in konkrete gesellschaftliche Bewegungen erfordern. Doch genau hier liegen entscheidende Schwachstellen unserer Partei.
Die Geschichte aller linken und fortschrittlichen Parteien — zuletzt diejenige der Grünen — lehrt uns: Die Integration dieser Parteien in die bürgerliche Gesellschaft erwies sich immer in erheblichem Maß als Resultat solcher politischer und soziologischer Veränderungen. Der Druck von aussen, der gerade in Zeiten eines neuen Kriegs in die PDS hineinwirkt, muss vor dem Hintergrund der Mitgliederentwicklung, der beschriebenen Zusammensetzung und der politischen Bildung gesehen werden. Die allgemeinen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und die aktuellen politischen Entwicklungen — Neoliberalismus, Militarisierung der Politik, neuer Nationalismus und EU-Zentrismus — wirken in Richtung einer Anpassung unserer Partei an die kapitalistische Gesellschaft. Die PDS selbst verfügt über keine klare Analyse der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, womit sie ihre Mitglieder meist schutzlos diesem Druck und der neoliberalen Ideologie aussetzt.
All dies begünstigt einen Prozess der Anpassung, der Integration und des Verlustes der Bereitschaft zu Widerstand.

Wie weiter?

Angesichts dieser Situation gibt es bei aktiven, linken PDS-Mitgliedern nach dem Dresdener Parteitag einzelne Austritte. Bei vielen gibt es aber auch eine verstärkte Debatte über die Perspektive der PDS.
Wir befürworten ein breites Bündnis bzw. eine Koordinierung aller linken Kräfte in und bei der PDS. Wir bieten diese Zusammenarbeit ein weiteres Mal offen und offensiv an. Dies ist nicht abstrakt und allgemein gemeint. Dies könnte in konkrete Projekte — z.B. in einen gemeinsamen Kongress im Vorfeld der Bundestagswahl — münden. Darüber hinaus muss darüber diskutiert werden, wie die Grundsätze und Ziele des geltenden Programms verteidigt werden können und wie die programmatische Debatte inhaltlich weitergeführt werden kann. Schließlich sollte überlegt werden, wie wir uns gemeinsam in konkrete Bewegungen — gegen den Krieg, gegen die neoliberale Globalisierung, gegen den Abbau demokratischer Rechte, gegen Angriffe auf die Gewerkschaften — einbringen.
Alle diese Fragen sollten in einer Atmosphäre der gegenseitigen Achtung diskutiert werden.

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