Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 22.11.2001, Seite 10

Die Geopolitik des Krieges

Es gibt viele Betrachtungsweisen des Konflikts zwischen den USA und Osama Bin Ladens Terrornetzwerk: als Kampf zwischen westlichem Liberalismus und östlichem Fanatismus, wie es zahlreiche sog. Experten in den USA nahelegen; als Auseinanderstetzung zwischen den Verteidigern und den Feinden des authentischen Islam, Meinung vieler in der moslemischen Welt; und als vorhersehbare Reaktion auf die US-amerikanischen Schurkereien weltweit, wie Teile der Linken meinen. Doch auch wenn solch kulturelle und politische Analysen bei der Bewertung einiger Dimensionen dieses Konfliktes durchaus nützlich sind, verschleiern sie eine fundamentale Tatsache: dieser Krieg, wie die meisten vorangegangenen, ist tief im geopolitischen Wettbewerb verwurzelt.
Die geopolitischen Dimensionen des Krieges sind etwas schwierig zu erkennen, zum einen da sich der Ausgangspunkt der Kämpfe in Afghanistan befindet, einem Ort an dem die USA nur in geringem Maße spezifisch interessiert sind, zum anderen, weil den Hauptgegner Bin Laden keine sichtbaren materiellen Beweggründe antreiben. Doch der Schein trügt, denn das wahre Zentrum des Konflikts ist Saudi-Arabien, nicht Afghanistan (oder Palästina), und Bin Ladens äußerste Ziele beinhalten das Einsetzen einer neuen Regierung in Saudi-Arabien. Diese wiederum würde den kostbarsten geopolitischen Hauptgewinn auf dem ganzen Erdkreis kontrollieren: die riesigen saudischen Ölvorkommen, die ein Viertel der auf der Welt bekannten Erdölreserven darstellen.
Um die Wurzeln des jetzigen Konflikts im Ganzen einschätzen zu können, ist es notwendig in der Geschichte zurückzureisen, speziell in die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs, in denen die USA damit begannen, ihre Pläne für die Welt, die sie in der Nachkriegsära dominieren würden, auszuformulieren. Als der Krieg seinem Ende zuging beauftragte Präsident Roosevelt das State Department, die politischen Strategien und Institutionen zu entwerfen, die die Sicherheit und Prosperität der USA in der nun folgenden Epoche garantieren sollten. Folge davon war die Planung und Gründung der UNO, die Konstruktion der Weltfinanzinstitutionen von Bretton Woods und die in unserem Kontext signifikante Beschaffung adäquater Erdölreserven.
US-amerikanische Strategen stuften den Zugang zu Öl als besonders wichtig ein, da dieser ein entscheidender Faktor im Sieg der Alliierten über die Achsenmächte war. Auch wenn der Krieg durch die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki beendet wurde, war es doch das Erdöl, das die Armeen speiste, die Deutschland und Japan in die Knie zwangen. Das Öl trieb die große Anzahl von Schiffen, Panzern und Flugzeugen an, die die Alliierten mit einem entscheidenden Vorsprung gegenüber ihren Gegnern, die keinen verlässlichen Zugang zu Erdölressourcen besaßen, versorgte. Aus diesem Grunde wurde weithin angenommen, dass der Zugang zu großen Vorräten an Erdöl der kritische Punkt für den Erfolg der USA in jedwedem zukünftigen Konflikt sein werde.
Woher sollte das Öl kommen? Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs konnten die USA sich und ihre Alliierten ausreichend aus den Erdöllagern im amerikanischen Südwesten sowie Mexiko und Venezuela versorgen. Doch die meisten US-Experten waren der Überzeugung, dass diese Vorräte für die amerikanischen und europäischen Bedürfnisse der Nachkriegszeit nicht ausreichen würden. Ergebnis dieser Analysen war der Beginn intensiver Studien des State Departments, um andere Erdölquellen ausfindig zu machen. Diese vom ökonomischen Ratgeber des State Departments, Herbert Feis, geleiteten Nachforschungen hatten zum Ergebnis, dass nur ein einziger Standort das nötige Erdöl liefern könne. "In allen Einschätzungen der Situation", gab Feis an, "machten die Überlegungen an ein und demselben Punkt und Ort eine ehrfürchtige Pause: dem Mittleren Osten."
Genauer, Feis und seine Mitarbeiter kamen zu der Überzeugung, dass die reichsten Reserven unangezapften Erdöls im Königreich Saudi-Arabien zu finden seien. Doch wie sollte man an dieses Öl rankommen? Anfangs schlug das State Department die Gründung einer staatseigenen Erdölfirma vor, die in Saudi-Arabien Konzessionen erwerben und die Reserven des Königreichs abbauen sollte. Der Plan wurde jedoch als zu schwerfällig eingeschätzt und stattdessen diese Aufgabe an die Arabian American Oil Company (ARAMCO), eine Allianz der größten US-Erdöl-Genossenschaften, übergeben.
Besorgnis erregte jedoch auch die Frage der langfristigen Stabilität des Königreichs, so dass man zu der Einschätzung gelangte, dass die USA die Verantwortung für die Verteidigung Saudi-Arabiens übernehmen müsse. So kam es zu einem der wohl außergewöhnlichsten Ereignisse der modernen US-amerikanischen Geschichte: das Treffen von Präsident Roosevelt und König Abd al-Aziz Ibn Saud, dem Begründer des heutigen saudischen Regimes, auf einem US-Kriegsschiff im Suezkanal, direkt nach der Konferenz von Yalta im Februar 1945. Auch wenn die Details des Treffens niemals in die Öffentlichkeit gelangten, wird weithin angenommen, dass Roosevelt dem König den Schutz der USA im Gegenzug für den privilegierten US-amerikanischen Zugriff auf die saudischen Erdölreserven anbot — dieses Arrangement besteht noch heute und stellt den Kern der Beziehungen zwischen den USA und Saudi-Arabien dar.
Beide Seiten haben aus dieser Zusammenarbeit enorme Vorteile gezogen. Die USA nutzen ihre bevorzugte Position im Zugang auf die saudischen Erölreserven indem sie ein Sechstel ihrer riesigen Ölimporte aus dem Königreich beziehen. Und die saudische Königsfamilie ihrerseits konnte enorme Reichtümer anhäufen und blieb durch den Schutz der US-Regierung sicher vor internen und externen Angriffen.
Doch hat diese außergewöhnliche Partnerschaft auch eine Reihe unbeabsichtigte Konsequenzen. Es sind diese Effekte, die uns hier im Besonderen interessieren. Um das saudische Regime gegen externe Feinde zu schützen, haben die USA ihre militärische Präsenz in der Region stetig vergrößert. Um den Schutz der königlichen Familie gegen interne Gegner abzusichern, kam es gleichermaßen zu einer zunehmenden Verstrickung von US-Personal in den internen Sicherheitsapparat des Regimes. Zur gleichen Zeit hat die enorme und äußerst verdächtige Anhäufung von Reichtum durch die königliche Familie diese dem Großteil der saudischen Bevölkerung entfremdet und zu Vorwürfen systematischer Korruption geführt.
Das Regime reagierte mit dem Verbot aller Formen politischer Debatte im saudischen Königreich (es gibt kein Parlament, keine Redefreiheit, keine politischen Parteien, keine Versammlungsfreiheit) und nutzte seine von den USA trainierten Sicherheitskräfte um offene Äußerungen Andersdenkender zu unterdrücken. All dies hat eine verdeckte Opposition gegen das Regime und gelegentliche Gewaltakte hervorgerufen — und es ist dieses Untergrundmilieu aus dem Osama Bin Laden seine Inspiration und viele seiner Topoffiziere bezog.
Das militärische Engagement der USA im saudischen Königreich erreichte einen neuen Level, als 1979 drei Dinge passierten: die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein, im Iran wurde der Shah gestürzt und militante Islamisten veranstalteten eine kurzlebige Rebellion in Mekka. Als Reaktion gab Präsident Carter eine neue politische Doktrin aus: jeder Schritt einer feindlichen Macht mit dem Ziel die Kontrolle über den Persischen Golf zu erlangen würde "als Angriff auf die vitalen Interessen der USA" betrachtet werden und mit "allen notwendigen Mitteln, inkl. militärischen" beantwortet werden.
Diese Bekanntmachung, heute als "Carter Doktrin" bekannt, hat die US-Politik in der Golfregion seither bestimmt. Zur praktischen Durchsetzung der neuen Doktrin schuf Carter die Rapid Deployment Force, eine Zusammenstellung von Kampfeinheiten die zwar in den USA stationiert, jedoch für den Einsatz im Persischen Golf verfügbar sind. Carter stationierte außerdem US-Kriegsschiffe im Golf und arrangierte die zeitweilige Nutzung von Militärbasen in Bahrain, Diego Garcia, Oman und Saudi-Arabien durch US-Streitkräfte — all diese Standorte wurden während des Golfkriegs 1990—91 genutzt und werden es heute wieder.
Da Carter weiterhin die sowjetische Präsenz in Afghanistan als Bedrohung für die US-Dominanz in der Golfregion ansah, autorisierte er den Beginn verdeckter Operationen zur Unterminierung des dortigen von der Sowjetunion unterstützten Regime. (Von Bedeutung ist hierbei die enge Einbindung des saudischen Regimes in diese Aktionen, indem es den größten Teil der finanziellen Unterstützung der antisowjetischen Rebellion bestritt und seinen Bürgern wie z.B. Osama Bin Laden die Teilnahme an den Kriegsanstrengungen als Mitkämpfer und Fundraiser erlaubte.)
Präsident Reagan fügte der Carter-Doktrin eine wichtige Erweiterung hinzu: die USA würden nicht zulassen,dass das saudische Regime durch Dissidenten im Innern gestürzt werde. "We will not permit (Saudi Arabia) to be an Iran", erklärte er vor Reportern 1981.
Dann kam der Golfkrieg. Als irakische Truppen am 2.August in Kuwait einmarschierten galten die Hauptsorgen von Präsident Bush Saudi-Arabien, nicht Kuwait. Um die erfolgreiche Verteidigung des saudischen Königreichs gegen mögliche irakische Angriffe sicherzustellen, schickte Bush seinen Sekretär für Verteidigungsfragen, Dick Cheney, nach Riyadh, der dort die königliche Familie zu überzeugen hatte, die Stationierung von US-Bodentruppen auf saudischem Gebiet sowie die Nutzung von saudischen Flugbasen für die Luftangriffe auf den Irak zu erlauben.
Von Bedeutung ist heute die Tatsache, dass diese starke militärische Präsenz der USA in Saudi-Arabien nach dem Ende der Kämpfe in Kuwait niemals gänzlich zurückgenommen wurde. Präsident Clinton verstärkte die US-Position im Golf weiter. Außerdem bemühte sich Clinton den Einfluss der USA auf die Region um das Kaspische Meer, ein energiereiches Gebiet nördlich des Persischen Golfs, auszuweiten.
Diese Politik hat verschiedene Konsequenzen. Die Sanktionen gegen den Irak haben der dortigen Bevölkerung enormes Leid zugefügt, und die regelmäßigen Bombenangriffe auf Militäranlagen vergrößern immer weiter die Todeszahlen unter irakischen Zivilisten. Währenddessen haben die USA es versäumt, sich aktiv um das Drosseln der israelischen Gewalt gegen die Palästinenser zu bemühen. Genau diese Punkte sind es, die viele junge Muslime dazu veranlasst haben, sich Bin Laden anzuschließen. Bin Laden selbst hat seit dem Ende des Golfkriegs seine Bemühungen auf zwei übergeordnete Ziele fokussiert: die Vertreibung der amerikanischen "Ungläubigen" aus Saudi-Arabien (dem Herzen des moslemischen Heiligen Landes) und der Niederwerfung des gegenwärtigen saudischen Regimes sowie seine Ersetzung durch eines, das mit seinem fundamentalistischen Islamismus mehr übereinstimmt.
Jedes dieser Ziele stellt Bin Laden in direkte Opposition zu den USA. Es ist eben diese Realität, die mehr als alle anderen die terroristischen Anschläge auf US-Militärpersonal und US-Einrichtungen im Mittleren Osten und auch auf die Schlüsselsymbole der amerikanischen Macht in New York und Washington erklärt. All diese Anschläge, wie auch die auf das World Trade Center und das Pentagon, sind Teil einer langfristigen Strategie, die die Allianz der Saudis und der USA untergraben und schlussendlich den 1945 geschlossenen Pakt zwischen Präsident Roosevelt und König Abd al-Aziz Ibn Saud zerstören soll.
Indem sich die USA gegen diese Anstrengungen wehren, agieren sie in erster Linie um sich selbst, ihre Bürger und ihr militärisches Personal vor terroristischen Angriffen zu schützen. Gleichzeitig stützen die USA aber auch ihre strategische Position am Persischen Golf ab. Denn die dominante Rolle der USA in der Golfregion wäre ohne Bin Laden, mit einem in inneren Aufruhr verwickelten Iran und dem durch unverminderte amerikanische Luftangriffe zur Regungslosigkeit verdammten Saddam Hussein für die weitere Zukunft abgesichert.
Also hat dieser Konflikt für beide Seiten bedeutsame geopolitische Dimensionen. Es wäre zu erwarten, dass ein von Osama Bin Laden kontrolliertes saudisches Regime alle Verbindungen zu US-Erdölfirmen abbrechen und eine neue Politik in Bezug auf die Erdölproduktion und die Vertreibung der Ölreichtümer des Landes entwickeln würde — Schritte, die potenziell verheerende Folgen für die US-Ökonomie und durchaus auch für die Weltwirtschaft hätten. Dagegen kämpfen die USA, natürlich.
Während sich die Sitution weiterentwickelt, werden wir von den Schlüsselfiguren des Konflikts zu den obengenannten Aspekten kaum etwas hören. Bei seinen Bemühungen um die öffentliche Zustimmung zu seiner Kampagne gegen den Terrorismus wird Präsident Bush niemals zugeben, dass konventionelle geopolitische Strategien in der aktuellen US-Politik eine Rolle spielen. Und auf der anderen Seite wird Osama Bin Laden ebensowenig etwas in dieser Art von sich geben. Doch es bleibt die Tatsache, dass dieser Krieg, ebenso wie der Golfkrieg zuvor, auf den heftigen geopolitischen Wettbewerb zurückzuführen ist.

Michael T. Klare

Aus: The Nation vom 5.November 2001. Der Autor Michael T. Klare ist u.a. Mitarbeiter der US-amerikanischen außenpolitischen Zeitung Foreign Affairs.


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