Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 22.11.2001, Seite 16

Kollisionskurs

Uri Avnery über den israelisch-palästinensischen Konflikt und die neue Politik der USA

Er hat immer wieder provoziert und sehr oft auch Recht bekommen. Der israelische Autor und Friedensaktivist Uri Avnery geht nach dem 11.September davon aus, dass es zu einem offenen Konflikt zwischen dem israelischen Kabinett unter Premierminister Ariel Sharon und der Bush-Regierung kommen wird. Erstmals klaffen die Interessen einer amerikanischen und einer israelischen Regierung weit auseinander. Bin Laden, so Avnery, nutzt den israelisch-palästinensischen Konflikt für sein Ziel, eine große islamische Weltmacht zu schaffen. Der nachfolgende Text ist ein Vortrag, den Avnery am 21.Oktober in New York gehalten hat.
Die Ereignisse des 11.September sind ein Wendepunkt in dem nun schon 120 Jahre lang dauernden Konflikt zwischen Juden und Arabern, respektive Palästinensern. Wenn man an diese Wahnsinnstat denkt, stellt man sich zuerst die Frage: Warum ist das ausgerechnet im September 2001 passiert? Bin Laden und seine Leute haben Jahre gebraucht, um diese Aktion vorzubereiten. Sie mussten Leute trainieren, hochkomplexe Flugzeuge zu steuern und diese Leute in den USA unterbringen. Sie hätten wahrscheinlich bereits vor einem Jahr zuschlagen können, oder auch erst in einem Jahr.
Warum aber nun genau zu diesem Zeitpunkt? Die Antwort ist einfach: Bin Laden schätzte die Stimmung in der arabischen Welt so ein, dass die Massen einen solchen Schlag gegen die USA befürworten würden. Der Grad an Hass und Wut gegen die USA hatten nach der Einschätzung der Terroristen ein Ausmaß erreicht, so dass eine solche Aktion einen Popularitätsgewinn versprechen ließ. Eine Terroraktion wird ja nicht durchgeführt, um an Popularität einzubüßen, sondern um solche zu gewinnen.
Bin Ladens wirkliche Ziele haben nichts mit den USA zu tun, auch nicht mit Israel oder mit den Palästinensern, für deren Sache er sich nicht eigentlich interessiert. Was er wirklich anstrebt, ist der Sturz der gegenwärtigen Regierungen in der arabischen Welt und insbesondere derjenigen in Saudi- Arabien. Er betrachtet diese Regierungen als gottlos und korrupt. Er will diese Nationen zerstören und an deren Stelle eine neue islamische Repulik errichten. Um aber diese Ziele zu erreichen, muss er die arabischen Massen hinter sich scharen. Und nur aus diesem Grund hat er sich die Sache der Palästinenser auf seine Fahne geschrieben.
Die Palästinenserfrage ruft auf arabischer Seite die mit Abstand stärksten Emotionen hervor. Es gibt im Nahen Osten ein neues Phänomen: Al Dshasira, eine neue Fernsehstation. Erstmals gibt es einen von Regierungen völlig unabhängigen arabischen Nachrichtensender. Diese Fernsehstation erreicht jede arabische Familie im ganzen Nahen Osten. Jeden Tag strahlt sie Bilder von der Westbank und von Gaza aus. Jeden Tag ist zu sehen, wie unsere Soldaten auf palästinensische Demonstranten schießen, wie israelische Soldaten palästinensische Häuser zerstören, das Land der Palästinenser konfiszieren und israelische Siedlungen auf diesem Land installieren. Es gibt täglich Bilder von gedemütigten Palästinensern. In den USA sieht man diese Bilder auch ab und zu, aber es sind Bilder aus einer entfernten Ecke dieser Welt. Wir in Israel sehen diese Bilder jeden Tag, aber sie betreffen eigentlich nur den Feind. Für die Araber — nicht nur in Palästina, in der ganzen arabischen Welt — sind dies Bilder, die ihre eigenen Familien betreffen, ihre Brüder und Schwestern.
Diese Bilder rufen sehr starke Emotionen gegen die USA hervor, vielleicht noch stärker gegen die USA als gegen Israel. Israel gilt ohnehin als der Feind, von dem nur Schreckliches zu erwarten ist. Aber die USA sind dasjenige Land, das Israel ohne Vorbehalte unterstützt, ungeachtet der politischen Ausrichtung der jeweiligen israelischen Regierung. Die USA finanzieren die israelische Armee und rüsten sie aus. Es sind amerikanische Waffen, mit denen die Intifada niedergeschlagen wird, die Angriffe gegen palästinensische Stellungen werden mit amerikanischen Helikoptern geflogen, amerikanisch sind auch die Kampfflugzeuge und Raketen. Der Hass und die Wut gegen die Amerikaner ist deshalb auf Seiten der Palästinenser stetig angestiegen. Es ist wie bei einem gestauten Fluss: der Wasserpegel hinter dem Damm steigt langsam an, aber wenn die kritische Masse erreicht wird, dann bricht der Damm und es gibt ein Desaster.
Dies ist die Stimmungslage in der arabischen Welt, und diese Stimmungslage hat sich Bin Laden zu Nutze gemacht. Dies ist auch der Grund, warum all die arabischen Regierungen, die sehr enge Bindungen zu den USA haben, nun nach Washington rennen und sagen: "Rettet uns, wir sind in Gefahr. Unser Volk ist in Aufruhr. Und wenn ihr nicht etwas macht, um das Palästinenserproblem zu lösen, um die Situation zu entgiften, dann wird es für uns sehr bedrohlich."
Dies erklärt, warum die Regierung Bush praktisch über Nacht ihre Nahostpolitik von einem Extrem ins andere verkehrt hat. Vor dem 11.September hieß es in Washington noch: Lasst sie bluten. Sie, damit waren die Israelis und die Palästinenser gemeint. Lasst sie sich gegenseitig umbringen. Wenn auf beiden Seiten genug Leute umgebracht wurden, dann ist immer noch genügend Zeit für eine amerikanische Intervention. Bereits am Tag nach den schrecklichen Anschlägen in New York und Washington hat Außenminister Colin Powell — anlässlich einer Pressekonferenz zum Thema Terrorismus — zum nicht geringen Erstaunen vieler Israelis die Notwendigkeit betont, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen.
Den Amerikanern war also bereits in diesem sehr frühen Stadium die Verknüpfung zwischen dem Anschlag Bin Ladens, der Stimmung in der arabischen Welt und damit dem israelisch-palästinensischen Konflikt klar. Danach hat auch Präsident Bush von der Vision eines palästinensischen Staates gesprochen. In den darauffolgenden Tagen ist Außenminister Powell dann in seinen Forderungen nach einer Lösung des Konflikts noch deutlicher geworden. Schließlich hat der "wichtigste Sprecher" der amerikanischen Politik, der britische Premier Tony Blair, Arafat eingeladen und ihm gegenüber betont, dass die Palästinenser die Unabhängigkeit erreichen müssen.
Dies ist letztlich eine logische Konsequenz der amerikanischen Politik. Wenn man den Terrorismus bekämpfen will, dann braucht man nicht eigentlich Artillerie und Bomber und all die anderen Dinge, die man zurzeit am Fernsehen sehen kann. Was wirklich erfolgversprechend ist, ist die Terroristen zu isolieren und die sie umgebende öffentliche Meinung für sich zu gewinnen.
Als ich sehr jung war, war ich Mitglied einer Untergrundorganisation — wir nannten uns Freiheitskämpfer, die britische Mandatsregierung in Palästina bezeichnete uns als Terroristen. In der Zwischenzeit habe ich verstanden, dass es eigentlich nur folgenden Unterschied zwischen Freiheitskämpfern und Terroristen gibt: Die Freiheitskämpfer sind auf meiner Seite, die Terroristen sind auf der Gegenseite. Aber ich glaube, ich habe aufgrund dieser Erfahrung wichtige Grundsätze über Terrorismus und über die Bekämpfung des Terrorismus gelernt. Eine terroristische Organisation kann sehr klein sein, je kleiner sie ist, desto effektiver ist sie wahrscheinlich.
Wenn es der amerikanischen Armee gelingt, die Taliban zu stürzen und Osama Bin Laden zu töten, wird der Terrorismus wohl nur noch effektiver werden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht mehr von einem publizitätssüchtigen, saudischen Millionär angeführt werden, sondern von den effektiven Drahtziehern. Bin Laden ist eigentlich "zu gut, um wahr zu sein". Er entspricht genau dem, was sich wohl Regisseure in Hollywood unter einem Terroristenführer vorstellen. Ein attraktiver Mann, schwarzer Bart, guter Redner und sehr gute Präsenz an den Fernsehbildschirmen. Als ich bei Irgun war, wusste ich nicht, wer meine Kommandanten sind. Ich habe sie nie gesehen, nie von ihnen gehört, nie auch nur ihre Namen erfahren. Nach diesem Prinzip der Geheimhaltung wird eine Untergrundorganisation geführt. Wenn Bin Laden getötet wird, werden andere, diskretere und effizientere Terroristenführer an die Macht kommen.
Eine kleine Untergrundorganisation kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt und getragen wird. Das hängt einerseits mit ganz praktischen Fragen zusammen: Eine solche Organisation braucht Geld, sie braucht Leute, die ihre Botschaften verbreiten, sie braucht ein Rekrutierungsfeld für neue Kämpfer, es braucht Leute, die bereit sind, Terroristen nötigenfalls zu verstecken. Es braucht insgesamt eine den Terroristen gegenüber positiv eingestellt Umgebung. Mao hat die Terroristen einst mit Fischen verglichen. Das Wasser, in dem sie schwimmen, ist die Bevölkerung.
Dieses Bild gilt grundsätzlich für alle derartigen Organisationen. Wenn die Unterstützung der arabischen Massen für die Terroristen wegfällt, verlieren diese sofort an Bedeutung. Deshalb muss der wirkliche Krieg gegen den Terrorismus in der öffentlichen Meinung der arabischen und der muslimischen Welt geführt werden. Und um dies zu erreichen, muss der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst werden, damit die Stimmung in der arabischen Welt nicht weiter vergiftet werden kann.
Und deshalb betrachtet die amerikanische Regierung nun eine Lösung dieses Konflikts plötzlich als zentrales nationales Interesse der USA. Bis zum 11.September war dieses Problem als eines betrachtet worden, das man sowohl behandeln, aber auch beseite schieben konnte. Es war quasi ein Hobby von Präsident Clinton, der in der Tat sehr viel Energie in die Lösung des Konflikts investiert hat. Clintons Motiv war nicht ganz klar, vielleicht wollte er den Nobelpreis gewinnen und in die Geschichtsbücher eingehen, auf jeden Fall war der Nahe Osten kein den Kern der amerikanischen Interessen betreffender Konflikt.
Nun ist die Sachlage eine völlig andere. Washington betrachtet die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts als eine die zentralen amerikanischen Interessen betreffende Frage. Ich glaube, dass sich die amerikanische und die israelische Regierung nun auf Kollisionskurs befinden. Die Regierung Sharon lehnt zurzeit einen möglichen Frieden ab, was aber nicht heißt, dass Sharon gegen den Frieden ist. Aber er will einen Frieden, ohne dafür einen Preis zu entrichten. Aber es gibt nichts umsonst. Frieden hat einen Preis. Und der Preis für diesen Preis steht weitgehend fest.
Dieser "Preis" umfasst folgende Punkte: Die Bildung eines palästinensischen Staates, der neben Israel existieren kann; Israel muss sich auf die Grenzen von vor dem Krieg von 1967 zurückziehen. Jerusalem muss geteilt werden; Ostjerusalem wird die Hauptstadt des palästinensischen Staates, Westjerusalem bleibt die Hauptstadt Israels. Alle israelischen Siedlungen müssen geräumt werden, außer wenn sich beide Seiten auf einen entsprechenden Gebietsabtausch einigen können. Weiter braucht es eine gerechte und praktikable Lösung der Flüchtlingsfrage.
Herr Sharon will diesen Frieden nicht. Er lehnt jeden einzelnen Punkt ab. Er ist insbesondere gegen einen lebensfähigen palästinensischen Staat. Er ist höchstens bereit, den Palästinensern vier oder fünf Enklaven zuzugestehen, die jeweils von israelischen Siedlungen umkreist wären. Und er ist auf jeden Fall nicht bereit, über den Status von Jerusalem zu diskutieren. Und da er derjenige ist, der für die Schaffung vieler Siedlungen verantwortlich ist, lehnt er natürlich deren Räumung kategorisch ab.
Jede Friedensinitiative, so wie sie jetzt nach meiner Einschätzung in Washington vorbereitet wird, steht der Politik der Regierung Sharon diametral entgegen. Und das könnte dazu führen, dass sich gerade auch die amerikanischen Juden in Kürze die Frage stellen müssen, ob sie sich hinter die Politik der amerikanischen oder die Politik der israelischen Regierung stellen wollen. Dies bedeutet nicht — davon bin ich im Innersten überzeugt — dass sie zwischen den USA und Israel wählen müssen. Ich glaube vielmehr, dass ein solcher Friede, wie er nun vorbereitet wird, den wirklichen Interessen Israels entspricht. Nur so kann Friede und Sicherheit erreicht werden, die Politik Ariel Sharons stellt auf lange Sicht eine Gefährdung Israels dar. Eine amerikanische Friedensinitiative in den skizzierten Umrissen würden dagegen keine antiisraelische oder gar antisemitische Politik darstellen.
Israel befindet sich im Kriegszustand, der Konflikt eskaliert weiter. Ich befürworte deswegen den Einsatz von internationalen Friedenstruppen, die eine Entflechtung der Konfliktparteien ermöglichen würden. Die amerikanische Regierung sollte eine internationale Friedenskonferenz einberufen, ähnlich derer vor zehn Jahren in Madrid, die dann schlussendlich zum Oslo-Abkommen führte. Wir sollten mit diesem Schritt nicht bis zum Ende dieses Krieges warten, weil es kein Ende dieses Krieges gibt.

Uri Avnery wurde 1923 in Beckum bei Hannover geboren. 1933 wanderte seine Familie nach Palästina aus. Als 15-Jähriger trat Avnery der Untergrundorganisation Irgun bei, die gegen die britische Mandatsmacht den Kampf für einen jüdischen Staat führte. Nach drei Jahren sagte sich Avnery von wegen ihrer antiarabischer Haltung Irgun los. 1948 kämpfte er im Unabhängigkeitskrieg und wurde zweimal verwundet. Von 1950 bis 1990 war er Herausgeber der Zeitschrift Haolam Hazeh. Über Jahrzehnte setzte sich Avnery, der auch dreimal in die Knesseth gewählt wurde, für den Ausgleich mit den Palästinensern ein. Lange vor der israelischen Regierung knüpfte er Kontakte zur PLO. 1982 — auf dem Höhepunkt des Libanonfeldzugs — traf er sich öffentlich mit PLO-Chef Yasser Arafat. 1992 gründete er die Friedensbewegung Gush Shalom. In diesem Jahr wurde er für sein Wirken mit dem alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet.



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