Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 06.12.2001, Seite 16

Landung in Australien

Auf den Spuren von Egon Erwin Kisch

Der Journalist Egon Erwin Kisch machte sich in der Weimarer Republik einen Namen als Schöpfer einer neuen literarischen Form der sozialkritischen Reportage. Kisch schrieb in der ersten Person und griff auch häufig selbst in die Geschehnisse ein, über die er berichtete. Mit dieser Methode deckte er einige politische Skandale auf, weshalb der Titel seines Buches Der Rasende Reporter irgendwann zum Spitznamen für den Autor wurde.
Eine der spektakulärsten Geschichten, in denen Kisch eine herausragende Rolle übernahm, spielte 1934/35 im fernen Australien. Und dort sorgt der "Fall Kisch" noch heute, mehr als 65 Jahre später, für brisante politische Debatten.
Egon Erwin Kisch wurde 1885 in Prag geboren, lebte und publizierte jedoch in Deutschland, als die Nazis 1933 an die Macht kamen. Nach dem Reichstagsbrand wurde Kisch zusammen mit dem anarchistischen Autor Erich Mühsam verhaftet. Doch anders als Mühsam, der in den faschistischen Kerkern zu Tode gequält wurde, kam Kisch wieder frei, weil er die tschechische Staatsbürgerschaft hatte. Doch aufgrund seiner jüdischen Abstammung musste er das Land verlassen und ging nach Paris. Dort schloss er sich der von linken Intellektuellen gegründeten internationalen "Bewegung gegen Krieg und Faschismus" an. Als deren Delegierter wurde Kisch 1934 nach Australien eingeladen, um auf einem antifaschistischen Kongress in Melbourne eine Rede zu halten.
Sechs Wochen dauerte die Überfahrt, doch als das Schiff endlich auf dem fünften Kontinent landete, verweigerte die australische Regierung Kisch die Einreise. Damit wäre die Geschichte möglicherweise schon zu Ende gewesen, hätte der antifaschistische Delegierte aus Europa nicht Egon Erwin Kisch geheißen. Kisch schmuggelte seine Rede für den Melbourner Kongress von Bord des Schiffes und seine australischen Gastgeber inszenierten damit eine breitangelegte Kampagne unter dem Motto "Kisch must land!" — "Kisch muss landen!", "Kisch must speak!" — "Kisch muss reden!".
Einer, die sich für Kisch einsetzte, war John Fisher, damals Journalist beim Melbourne Herald. Sein Sohn erinnert sich: "Mein Vater war damals gerade 24 Jahre alt, politisch sehr interessiert und hatte Kontakt zur ‚Bewegung gegen Krieg und Faschismus‘. Er besuchte Kisch in Hafen von Melbourne auch an Bord des Schiffes, auf dem er festgehalten wurde." So wurde John Fisher Augenzeuge von Kischs spektakulärer Landung in Australien: "Mein Vater war am Pier, als die Vertäuung gelöst wurde und das Schiff ablegte. Wie viele andere winkte er den Passagieren an Deck zum Abschied zu, als Kisch, der nicht nur ein Mann der Feder, sondern auch der Aktion war, über die Reling kletterte und auf den Kai hinunter sprang, eine wahrlich couragierte Handlung für einen Mann von 45 Jahren. Leider landete Kisch unsanft auf dem Schienenstrang und brach sich ein Bein, weshalb er später auch seinem Buch über diese Erlebnisse den doppeldeutigen Titel Landung in Australien geben sollte."

Popularität

Obwohl Kisch schwer verletzt war, schleppten ihn australische Polizisten zurück an Bord des Schiffes, das in Richtung Sydney weiterfuhr. Doch durch seinen spektakulären Sprung, über den alle australischen Zeitungen berichteten, hatte sich Kisch im sportbegeisterten Australien große Sympathien erworben. Wenig später demonstrierten schon Zehntausende für seine Einreise und sein Rederecht. Sherley Andrews, die heute als Rentnerin in Melbourne lebt und damals an der dortigen Universität studierte, erinnert sich:
"Freunde nahmen mich mit zu einer Großdemonstration zur Unterstützung von Kisch im Zentrum von der Stadt. Es war Abend, und wir alle trugen brennende Fackeln. Kischs mutiger Sprung von Bord hatte ihm große Anerkennung eingebracht, und weil in Australien so wenig über das bekannt war, was in Europa geschah, wollten viele die Gelegenheit nutzen, von Kisch Informationen aus erster Hand zu erhalten. In der australischen Öffentlichkeit war Hitler bis dahin als Witzfigur angesehen worden, die nicht ernst zu nehmen sei, was natürlich nicht stimmte. Nur in den Studentenzeitungen fanden sich seriöse Berichte von Kommilitonen aus Europa über den Faschismus und auch über den Fall Kisch."
Kischs Schiff lief eine Woche später im Hafen von Sydney ein, wo es den Anwälten der antifaschistischen Bewegung endlich gelang, die Einweisung des verletzten Autors in ein städtisches Krankenhaus durchzusetzen. Um jedoch offiziell einreisen zu können, musste Kisch — wie damals alle Neuankömmlinge in Australien — einen Sprachtest absolvieren. Nun beherrschte der kosmopolitische Autor sieben Sprachen fließend, darunter auch Englisch. Das war auch der australischen Einwanderungsbehörde bekannt. Deshalb setzten sie Kisch ein Diktat in schottischem Gälisch vor.
Doch damit schoss die australische Regierung schon ihr zweites Eigentor im Fall Kisch, denn dessen Anwälte stritten bis zum obersten Gerichtshof Australiens erfolgreich gegen diese Farce und Kisch nutzte das Verfahren, um die rassistische australische Einwanderungspolitik jener Zeit anzuprangern. Noch heute gehört Kischs Prozess zum Vorlesungsstoff von Jurastudenten in Australien. Damals machte er den antifaschistischen Autor aus Europa, der die australische Regierung lächerlich erscheinen ließ, landesweit bekannt.
Entsprechend groß war der Andrang, als Kisch danach den fünften Kontinent bereiste, um — immer noch auf Krücken gestützt und humpelnd — auf antifaschistischen Veranstaltungen zu reden. Eine der größten — mit zehntausend Zuhörern — fand im Stadion von West-Melbourne statt. Len Fox, heute 96 Jahre alt, erinnert sich noch gut an diese Veranstaltung: "Wie populär Kisch inzwischen war, erwies sich, als er auf die Bühne trat und sagte: ‚Mein Englisch ist gebrochen, mein Bein ist gebrochen, nur mein Herz ist nicht gebrochen.‘ Der Beifallssturm danach war unbeschreiblich."
Kisch hinterließ nicht nur einen großen Eindruck in der australischen Öffentlichkeit, sondern auch bei seinen australischen Unterstützern, wie Len Fox erzählt: "Kisch hat mein Leben verändert. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich Lehrer geworden und als altes Schulmeisterlein geendet. So jedoch wurde ich zunächst Sekretär der ‚Bewegung gegen Krieg und Faschismus‘ im Bundesstaat Victoria, arbeitete dann in der Solidaritätsbewegung für die Republikaner im spanischen Bürgerkrieg und engagierte mich später in Solidaritätsbewegungen wie denen gegen den Vietnamkrieg und für Osttimor."
Nachdem Kisch den fünften Kontinent von Queensland im hohen Norden bis Adelaide im Süden und Perth im Westen bereist hatte, willigte die australische Regierung, um ihn endlich loszuwerden, schließlich ein, alle Gerichtsverfahren gegen ihn einzustellen und die angefallenen, nicht unerheblichen Prozesskosten zu übernehmen.

Nachkriegsaktualität

Am 11.März 1935 trat Kisch, nach fünf überaus erfolgreichen Monaten als antifaschistischer Redner in Australien, die Rückreise nach Europa an. Zu seinen Begleitern gehörte der australische Journalist John Fisher, der Kisch in den spanischen Bürgerkrieg folgen sollte. An Bord des Schiffs lieferte er Kisch wertvolle Hintergrundinformationen über Geschichte und Politik des fünften Kontinents für dessen Buch Landung in Australien. Fisher übersetzte es später auch ins Englische.
Trotzdem geriet der Fall Kisch in Australien zunächst in Vergessenheit. Denn bald darauf zogen auch australische Soldaten an der Seite der Alliierten in den Krieg gegen das faschistische Deutschland und Japan, und die australische Regierung mochte in dieser Situation mehr daran erinnert werden, wie sie noch kurz zuvor mit dem Antifaschisten Kisch umgesprungen war.
Nach dem Krieg übernahm mit Robert Menzies der Mann für lange Jahre das Amt des Premierministers in Australien, der in den 30er Jahren Generalstaatsanwalt und damit Kischs prominentester Gegenspieler in der Regierung gewesen war. Menzies amtierte von 1949 bis 1966 und schickte 1965 auch australische Truppen an der Seite der USA in den Vietnamkrieg. Die Protestbewegung, die dagegen demonstrierte und die auch in Australien weitgehend aus Studenten bestand, beschäftigte sich auch mit dem Werdegang von Premierminister Menzies und stieß dabei auf seine Rolle im Fall Kisch. So wurde denn auch Kischs Buch Landung in Australien 1968 von einem Verlag in Sydney neu aufgelegt.
John Fisher, Sohn des Übersetzers, erklärt, warum sich australische Studenten in den 60er Jahren erneut mit Kisch beschäftigten: "Sein Besuch in Australien machte uns deutlich, dass es Leute gegeben hatte, die schon frühzeitig vor der Gefahr des Nazismus gewarnt hatten, als in der westlichen Welt noch viele in den Regierungsetagen mit Hitler sympathisierten, weil er gegen Kommunisten und Gewerkschaften vorging und scheinbar Ordnung schaffte in Deutschland. Und zu den Sympathisanten der europäischen Faschisten hatte hier in Australien auch Robert Menzies gehört."
Robert Menzies starb 1978. Bis dahin war seine fragwürdige Haltung zu den faschistischen Regimes in Europa in der australischen Öffentlichkeit schon wieder vergessen. Erst in den 80er Jahren sollte sie erneut diskutiert werden. Ausgangspunkt dafür war wieder der Fall Kisch. 1984/85 drehten Studenten der Filmhochschule in Sydney einen Dokumentarfilm über Kisch, und auf Australiens Bühnen erlebten damals gleich zwei Theaterstücke zum Thema Kisch ihre Uraufführungen.
Einer der Theater-Autoren war Ken Horler, der vor der Verfassung seines Stücks "viel Zeit damit verbracht hat, die Presse aus jener Zeit nachzulesen. Tatsächlich findet sich darin so gut wie keine Kritik an den Zuständen in Nazi-Deutschland". Horler stellte für sein Stück umfangreiche historische Recherchen an, auch über den Einfluss des Nazibotschafters im Australien der 30er Jahre, Dr.Rudolf Asmis.

Verschlossene Akten

Unter dem Stichwort "Kisch" finden sich im Lesesaal des Nationalarchivs Australiens mehrere Aktenordner mit Zeitungsausschnitten, Dokumenten aus dem Innen- und Außenministerium, Protokollen der politischen Polizei und Berichten des australischen Geheimdienstes. Daraus geht hervor, dass staatliche Spitzel Kisch damals auf Schritt und Tritt verfolgten und jeden seiner öffentlichen Auftritte protokollierten, z.B. den in der "Domain", einem Stadtpark in Sydney. Über einen Auftritt Kischs bei einer Antikriegsveranstaltung vermerkten die Staatsschützer: "Kischs Rede war hauptsächlich Anti-Hitler. Die beobachtenden Beamten kamen zu dem Schluss, dass er vor allem jüdische Interessen vertritt."
So viel Aufschluss diese Dokumente auch über die antisemitischen Ressentiments australischer Regierungsbehörden jener Zeit liefern, ursprünglich müssen die Kisch-Akten noch weitaus brisanteres Material enthalten haben. Denn auch 65 Jahre nach Kischs Landung in Australien fehlen in den Kisch-Ordnern weiterhin zahlreiche Dokumente, weil sie — so die Begründung — der Sicherheit, Verteidigung und den internationalen Beziehungen Australiens schaden könnten.
Bleibt die Frage: Welche Informationen in den Kisch-Akten sind noch immer so brisant und von welchen ausländischen Regierungen sind sie damals geliefert worden?
Einer zumindest hat eine klare, wenn auch äußerst umstrittene Antwort auf diese Fragen gegeben: der Anwalt und Schriftsteller Nicholas Hasluck aus Westaustralien. Hasluck verarbeitete seine Schlussfolgerungen sogar zu einem Roman über Kisch. Sein Buch erschien 1999 unter dem Titel Our Man K., eine kitschige Politschnulze im Stile Konsaliks, die trotzdem eine australische Variante des Historikerstreits auslöste. Denn Hasluck, selbst Sohn eines Außenministers unter Menzies, rechtfertigt darin das skandalöse Vorgehen der australischen Regierung gegen Kisch damit, "dass Kisch Verbindungen zur Komintern und zu stalinistischen Kräften unterhielt. Sie musste deshalb annehmen, dass er nach Australien kam, um im Sinne der Komintern politischen Aufruhr anzuzetteln. Die Regierung hatte also gute Gründe, anzunehmen, dass Kisch zum Problem für sie hätte werden können."
Ken Horler, der für sein Theaterstück über Kisch die gleichen Quellen studiert hat, hält Haslucks Schlussfolgerung für absurd: "Alles an Kischs extravagantem theatralischem Auftreten in Australien spricht gegen die These, dass er irgendjemandem als Agent gedient haben könnte. Dafür war sein Ego zu groß und sein Misstrauen gegenüber Politikern zu gesund. Spione pflegen im übrigen nicht vom Schiff zu springen und sich ein Bein zu brechen."
Marian Dzurik, Kurator einer Ausstellung zeitgenössischer tschechischer Kunst in Sydney, in die er auch Bücher und Collagen von Kisch aufnahm, hat eine ganz andere Vermutung, warum Teile der Kisch-Akten bis heute unter Verschluss gehalten werden: "Es könnte sich um die Korrespondenz der deutschen Botschaft und Agenten des Dritten Reiches mit dem australischen Geheimdienst handeln. Immerhin gab es damals einen Versuch, Kisch direkt an Deutschland auszuliefern. Schließlich sympathisierte die australische Regierung noch bis zum Kriegsbeginn mit Nazi-Deutschland. Allerdings passt das nicht zur konservativen Neuschreibung der Geschichte, wie sie derzeit von unserem Premierminister John Howard betrieben wird."
Im australischen Nationalarchiv werden auch die persönlichen Aufzeichnungen von Robert Menzies aufbewahrt. Fast alle sind der Öffentlichkeit zugänglich. Nur nicht die von 1938 über seinen Besuch bei den italienischen und deutschen Faschisten. Auf Anfrage ist zu erfahren, dass es der spätere australische Premierminister Menzies selbst war, der vor seinem Tod angeordnet habe, diese Dokumente unter Verschluss zu halten. Er wusste wohl warum. Schließlich geriet unlängst ein Brief vom 11.September 1939 an die Öffentlichkeit, in dem Menzies auch noch wenige Tage nach dem Überfall auf Polen um Verständnis für die Deutschen warb. Darin heißt es: "Es steht uns nicht zu, darüber zu befinden, welche Form von Regierung die Deutschen haben sollten", zumal "niemand irgendetwas auf Polen gebe" (‘Nobody gives a damn about Poland‘). Menzies plädierte in diesem Brief für eine Übereinkunft mit Hitler-Deutschland bei der "Neu-Gestaltung der gesamten Karte Europas".
So skandalös diese Formulierungen schon damals waren, so peinlich müssen sie der heutigen politische Elite des Landes sein. Immerhin hat Australiens amtierender Premierminister, John Howard, stets Robert Menzies als sein großes Vorbild bezeichnet. Howards Verehrung geht sogar so weit, dass er seinen Amtssitz im Stil der Menzies-Ära einrichten ließ. Möglich, dass auch darin bald wieder der Geist des rasenden Reporters Egon Erwin Kisch herumspukt.

Karl Rössel
(Rheinisches JournalistInnenbüro)

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