SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar, Seite 6

Arme Hauptstadt

Berlins wirtschaftlicher Niedergang

Mehr als andere Regionen in Deutschland war und ist die Berliner Wirtschaft an die politische Großwetterlage gebunden. Die desolate Finanzlage und notorische Überschuldung der Stadt war vor dem Fall der Mauer von der Berlin-Förderung verdeckt — die Kosten für eine in sich nicht lebensfähige Frontstadt trug der Bund, die Gebote des Kalten Krieges wogen schwerer als wirtschaftliche Erwägungen. Nach der Wende fiel die Stadt der Propagandalüge von den "blühenden Landschaften im Osten" zum Opfer, die ihr eine Brückenfunktion zu einem Wirtschaftsboom in Ostdeutschland verschaffen sollte. Der "Gründerboom" in der ersten Hälfte der 90er Jahre war jedoch auf Sand gebaut und brach zusammen. Seitdem versucht der Senat in wechselnder Besetzung, sein Defizit mit drakonischen Sparmaßnahmen in den Griff zu bekommen und die Kosten für die Lasten aus dem Kalten Krieg und dem Anschluß der DDR auf die abhängig Beschäftigten und Armen abzuwälzen. Die neue "rosa-rote" Koalition verspricht da keinen grundlegenden Kurswechsel.
Auf ihrem Höhepunkt 1991 betrug die Berlinförderung 17,2 Mrd. DM — bei einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von knapp 100 Mrd. DM und einem Steueraufkommen von etwas über 6 Mrd. DM. Sie finanzierte einen aufgeblähten öffentlichen Verwaltungsapparat, dessen Personalkosten 1989 mit 9,4 Mrd. DM weit über den Steuereinnahmen lag, und förderte eine Industriestruktur, die vor allem aus arbeitsintensiven "verlängerten Werkbänken" bestand, die ökonomisch kaum untereinander verbunden waren.
Nach dem Fall der Mauer gab es in der Stadt eine geteilte wirtschaftliche Entwicklung: In Ostberlin wurde ein rabiates De- Industrialisierungsprogramm durchgesetzt, das die industrielle Basis der Stadt dauerhaft vernichtete. Die Industrieproduktion ging hier allein im 2.Halbjahr 1990 um die Hälfte, im ersten Halbjahr 1991 auf ein Drittel des Stands von 1989 zurück. Die zentralen DDR-Behörden wurden abgewickelt.
Ostberlin erreichte Ende 1990 mit 9,3% Erwerbslosigkeit Westniveau. Westberlin hingegen wiegte sich zunächst in der Illusion eines Anschlussbooms. Das Wirtschaftsaufkommen (BIP) stieg bis 1991 um über 15 Mrd. DM. Die Zahl der Beschäftigten nahm in diesem Zeitraum um etwa 30000 zu, die der Erwerbslosen ging geringfügig auf immer noch 9,4% zurück.
Der Westberliner Wirtschaft fehlte die Kapazität, von den neuen Märkten im Osten ähnlich zu profitieren wie westdeutsche Unternehmen. Während in Westdeutschland der Vereinigungsboom die Krise hinausschob, profitierte in Westberlin das produzierende Gewerbe nicht. Von 1991 an wurden die Zuschüsse des Bundes dramatisch zurückgefahren. Mit dem Wegfall der Subventionen lohnte sich für viele Unternehmen die Produktion in Berlin nicht mehr; nun wurde auch die Westberliner Industrie abgebaut. Von den 400000 Industriearbeitsplätzen, die Berlin 1989 zählte, sind weniger als 30% übriggeblieben. Die Zahl der Industriebeschäftigten je Einwohner liegt hier halb so hoch wie in der Finanzmetropole Frankfurt am Main.
Die einzigen Bereiche, die berlinweit bis ins Jahr 1993 hinein expandierten, waren der Dienstleistungsbereich und das Baugewerbe: Westbeamte und Abwickler strömten in die Stadt, und im Vorgriff auf eine künftige glänzende Rolle Berlins als "Drehscheibe zwischen Ost und West" ließ der Senat bauen, was Zeug hielt. Bis Ende der 90er Jahre sollte die Stadt um 200000 Einwohner wachsen. Grundlage dafür sollten blühende Geschäfte mit Ostdeutschland und Osteuropa, der Regierungsumzug und ein neuer Metropolenglanz sein — mit Olympischen Spielen 2004 als Krönung. Hunderte Millionen Mark investierte der Senat in den Umbau Berlins zur "Dienstleistungsmetropole", den Bau neuer Büroflächen sowie die Erneuerung der Infrastruktur. Anstelle von Subventionen erhielten die Unternehmen jetzt Sonderabschreibungsmöglichkeiten.
Die Spekulation auf Wachstum ging nicht auf. Der "Anschlussboom" ging 1994 zu Ende. Eine neue industrielle Basis wurde nicht geschaffen; der Regierungsumzug war kein Ersatz; die Olympia-Bewerbung versank im Streit und im Skandal.
In den 90er Jahren stagnierte das Wirtschaftsaufkommen bei einer Steigerung um insgesamt 2,3% — gegen 14,8% bundesweit! Seit 1995 sinkt es beständig; 2000 lag es 1% unter dem Niveau von 1992. Das Steueraufkommen erhöhte sich auf 16 Mrd. DM, die Berlinförderung ging auf 7,5 Mrd. zurück, so dass die Einnahmen sich trotz steigender Belastungen verringerten. Die Verschuldung der Stadt stieg in der Boomphase 1990 bis 1994 von 12,6 Mrd. DM auf über 30 Mrd. DM; Ende 2000 erreichte sie 80 Milliarden DM. Das sind jeden Tag 11 Millionen DM Zinsen an die Banken.
Der Rückstand zu den anderen Bundesländern hat sich vergrößert. Büroflächen liegen auf Halde; große Stadtentwicklungsprojekte wie die Wasserstadt Oberhavel belasten den Haushalt; und so manch gigantomanes Projekt wie eine erneute Olympiabewerbung oder der Wiederaufbau des Stadtschlosses ist von der neuen Koalition ohne großen Aufschrei aus Kostengründen gestrichen, oder wie der Bau von Klein-Manhattan am Alexanderplatz redimensioniert worden.
Der wirtschaftliche Niedergang Berlins drückt sich auch in einem demografischen Stillstand aus. Seit 1996 ziehen mehr Menschen aus der Stadt ab als dazukommen. Die Schülerzahlen sinken. Das Umland Brandenburg bietet trotz "Speckgürtel" nur in geringem Umfang zusätzliche Arbeitsplätze; der Anteil derer, die zur Arbeit vom Umland in die Stadt pendeln liegt erheblich höher als umgekehrt. Ins Umland ist vor allem der Handel mit seinen Großmärkten auf der grünen Wiese gezogen — und die Berliner Wohnbevölkerung, die es sich leisten kann.

Antworten der Politik

Überweisungen aus dem Fonds Deutsche Einheit, später aus dem Länderfinanzausgleich konnten den Rückgang der Bundeszuschüsse nicht kompensieren. Der Versuch, durch die Fusion mit Brandenburg die Stadt finanziell auf andere Füße zu stellen, scheiterte am Nein der Brandenburger, für das die PDS wesentlich verantwortlich war. (Heute hat sie diese Position revidiert.)
In der zweiten Hälfte der 90er Jahre verordnete die Große Koalition unter der Federführung der SPD- Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing der Stadt deshalb einen thatcheristischen Sparkurs. Die öffentlichen Versorgungsunternehmen (Gasag, Bewag, Wasserwerke, Wohnungsbaugesellschaften) wurden privatisiert; das brachte der Stadt in den Jahren 1996 bis 1998 Einnahmen von 10 Mrd. DM. Gleichzeitig wurden die öffentlichen Investitionsvorhaben zurückgefahren (von 7 Mrd. DM 1991 auf 4 Mrd. 2001); rechnet man die Investitionszuschüsse des Bundes und der Europäischen Union heraus, liegt das Investitionsvolumen des Senats inzwischen unter dem Niveau der Kreditaufnahme.
Im öffentlichen Dienst wurden 35000 Stellen abgebaut, ABM-Maßnahmen drastisch zurückgefahren, die Gelder für freie Projekte, aber auch für zahlreiche und renommierte Kultureinrichtungen zusammengestrichen. An den Schulen herrscht der Notstand, zentrale Einrichtungen für Jugend und Freizeit wurden geschlossen, ebenso große Krankenhäuser und wissenschaftliche Einrichtungen. Das Lohnniveau ist — vor allem im Dienstleistungs- und Baugewerbe — stark gesunken, die Gebühren steigen, Arbeitslosigkeit und Armut liegen in Westberlin inzwischen auf ostdeutschem Niveau und höher als in Ostberlin. Die Bezirksverwaltungen können nur noch den Mangel verwalten. Ihrer Struktur nach ist Berlin eine ostdeutsche Stadt.
Die Gewerkschaften — hier vor allem die ÖTV — haben diese Politik mitgetragen und sich darauf beschränkt, die Sparmaßnahmen für die Beschäftigten "sozialverträglich" zu gestalten.
Dennoch ist die Verschuldung in astronomische Höhen gestiegen — d.h. diese Politik ist eigentlich gescheitert. Aber sie wird unwidersprochen fortgesetzt, wie ein neurotischer Zwang. Und die Große Koalition würde immer noch weitermachen, hätte es da nicht den Skandal um die Berliner Bankgesellschaft gegeben, der eigentlich ein Pleitenskandal ist, aber wie ein Spendenskandal behandelt wird.
Die Pleite der Berliner Bankgesellschaft ist ein Ergebnis des Ende des "Anschlussbooms". Die Bankgesellschaft entstand 1994 (am Ende der Boomphase) aus der Fusion der vom Senat kontrollierten Berliner Bank, der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank und der Landeszentrale der Berliner Sparkassen; damit sollte der Grundstein für eine überregional erfolgreiche Berliner Geschäftsbank gelegt werden. In Ermangelung anderer Geschäftsfelder wurde der Immobilienbereich — traditionell ein Hauptbereich Berliner Geschäftsaktivität und Drehscheibe des Stadtfilzes — auch für die neue Bank das wichtigste Betätigungsfeld. Der Rückgang des Immobiliengeschäfts, die angehäuften Leerstände und faulen Kredite führten schließlich dazu, dass das Bundesaufsichtsamt für Kreditwesen Ende Mai letzten Jahres einen fehlenden Eigenkapitalbedarf von 4 Mrd. DM feststellte. Angemerkt sei immerhin, dass die Bankgesellschaft mit 16200 Beschäftigten das zweitgrößte private Unternehmen der Stadt ist, nur die Bahn mit 18000 Beschäftigten ist größer!
Zum Landeshaushalt hat die Bankgesellschaft über Jahre hinweg einen Beitrag geleistet; der entfällt jetzt. Ihr Defizit hat zusammen mit ausbleibenden Steuer- und Dividendenzahlungen der Bank an das Land eine Haushaltslücke zwischen 6 und 8 Mrd. DM gerissen. Der Senat wird also neue Schulden aufnehmen, dafür Zinsen zahlen und weitere Sparmaßnahmen verordnen. Im März letzten Jahres wurde eine Haushaltssperre verhängt. Rund 4 Mrd. DM mussten in die Bankgesellschaft gepumpt werden. Der nach dem Platzen der Großen Koalition gebildete Übergangssenat aus SPD und Grünen beschloss zusätzlich, auch alle Altrisiken des Immobiliengeschäfts zu übernehmen — ein Fass ohne Boden und eine Sozialisierung der Verluste im großen Stil. Doch über den Systemfehler, der in diesem Umgang mit dem Geld der Steuerzahlenden und in der Abwälzung der Lasten auf die arbeitende Bevölkerung liegt, diskutiert niemand — auch die PDS hat dies vor den Wahlen nicht getan und nach den Wahlen erst recht nicht.
Zu den Neuwahlen am 21.Oktober haben sich die im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien mit Sanierungs- und Sparvorschlägen nur so gegenseitig überboten. Die PDS macht da keine Ausnahme, sie will die bittere Pille nur versüßen. Noch vor der Wahl erklärte Gregor Gysi gegenüber der Illustrierten Super-Illu: "Die PDS wäre in einem rot-roten Senat dafür zuständig, dass die Menschen — selbst wenn sie unter Sparmaßnahmen leiden — das Gefühl haben: Zumindest geht‘s gerecht dabei zu."
Der drakonische Sparkurs konnte zwar die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben verringern, doch den Schuldenanstieg nicht verhindern. Eine wirtschaftliche Perspektive ergibt sich daraus für die Stadt nicht, weil die Sparpolitik sich negativ auf die Wirtschaftstätigkeit auswirkt. Unter einem kapitalistischen Krisenmanagement könnte sich dies nur ändern, wenn Berlin aus dem Bundeshaushalt finanziert würde. Im Bereich Kultur scheint die neue Koalition dies anzudenken (Projekt "Gemeinschaftsaufgabe Kultur"; Haushaltsentlastung: 5 Mrd. DM) — aber politisch ist da alles noch offen.

Angela Klein

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