SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar, Seite 11

Entlassung auf Vorrat

Der Sanierungskurs bei Alcatel-Deutschland offenbart die Schwächen des Widerstands

Seit Jahresmitte 2001 fährt der Alcatel-Konzern, der Anfang des Jahres noch 130000 Beschäftigte hatte, einen harten Sanierungskurs. Schon im Juli und September diesen Jahres hatte Alcatel Stellenabbaupläne bekannt gegeben, die 23000 Mitarbeiter betrafen. Jetzt will Alcatel an seinen europäischen Standorten weitere 10000 Stellen streichen. Weltweit würden damit innerhalb eines Jahres 33000 Arbeitsplätze wegfallen, teilte der Vorstand mit.
Vorstandschef Serge Tchuruk begründete den weiteren Stellenabbau mit der weltweiten konjunkturellen Talfahrt, die auch Europa ergriffen habe. Als Telekommunikationsausrüster ist Alcatel maßgeblich vom Absturz des IT-Sektors betroffen, der in den ersten Monaten des Jahres 2001 die einstigen Stars der Branche von Wolke Sieben zurück in die Niederungen der kapitalistischen Konjunktur holte, die eben nicht nur Aufschwünge, sondern auch Überproduktionskrisen kennt. Laut Aussagen des Managements wurde Alcatel vor allem vom Einbruch in den USA und der Mobiltelefon-Krise getroffen.
Allerdings kam Alcatel auf Grund der "Gnade der späten Geburt" im Vergleich zu Mitkonkurrenten wie Nortel, Lucent oder Marconi noch relativ glimpflich davon. Denn Alcatel war noch gar nicht richtig in das Geschäft mit Datenleitungen eingestiegen, als in der Zwischenzeit große Kapazitäten aufgebaut worden waren. Diesen steht keine entsprechende Nachfrage gegenüber — derzeit sind z.B. in den USA die Glasfaserstrecken nur zu 2,5% ihrer Kapazität ausgelastet.

Schwarze Zahlen

Neben Belgien, Frankreich, Italien und Spanien ist auch die deutsche Tochtergesellschaft von den Entlassungsplänen des Managements betroffen. Nach Berichten der Financial Times Deutschland vom 16.November 2001 sollen 800 bis 850 der bisher 9012 Arbeitsplätze der Alcatel SEL wegfallen. Personalvorstand Thomas Edig schloss auch betriebsbedingte Kündigungen nicht aus. Alcatel SEL will bei der Vermittlungstechnik rund 550 von etwa 3850 Arbeitsplätzen und in Verwaltung und Service 250 von 1750 Jobs streichen. Betroffen seien die Standorte Stuttgart, Berlin und Gunzenhausen. Das Werk für Vermittlungstechnik im fränkischen Gunzenhausen steht nach Angaben des Betriebsrats zum Verkauf. Für die deutschen Schwester- und Tochterunternehmen der Alcatel SEL gebe es bisher noch keine konkreten Planungen, sagte Edig.
Diese Entlassungen werden angekündigt, obwohl auch der Vorstandsvorsitzende einräumt, die deutsche Alcatel SEL habe sich im laufenden Jahr "erfolgreich gegen den Branchentrend" gestellt (Südwestpresse, 17.11.). Laut Financial Times Deutschland wird Alcatel SEL im laufenden Geschäftsjahr die Erwartungen erfüllen und den Umsatz um 5—15% steigern. Interessant ist übrigens in diesem Zusammenhang, dass der deutsche Ableger der Alcatel momentan deswegen ganz gut da steht, weil bei ihm die Strategie der "Konzentration aufs Kerngeschäft" noch nicht so weit gediehen ist wie anderswo. Alcatel SEL profitiert gerade von Bereichen, die der Konzernvorstand als nicht zum Kerngeschäft gehörig definiert: bei der Produktion von Kleinmotoren, der Eisenbahnsignaltechnik und auch dem Bereich Übertragungstechnik. Das gleiche gilt übrigens auch für Siemens, wo momentan in der Medizintechnik und der Eisenbahnsignaltechnik gute Geschäfte gemacht werden, während es in den Zukunftsbereichen Netzwerktechnik, Mobilfunk, Chipproduktion und Bauelemente finster aussieht.

Dampf im Kessel

IG Metall und Betriebsrat reagierten empört, als sie von den Entlassungsplänen erfuhren. "Das ist eine nackte Konzernentscheidung, die hier bei uns exekutiert wird", so der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats, Alois Süss. Die deutsche Alcatel SEL blicke auf ein erfolgreiches Jahr zurück und arbeite profitabel. "Die Leute werden auf Vorrat auf die Straße gesetzt. Wir sind nicht bereit, für eine verfehlte Konzernpolitik in anderen Erdteilen die Zeche zu bezahlen."
Am 20.November riefen die europäischen Gewerkschaften und der Eurobetriebsrat bei Alcatel zu europaweiten Protesten auf. In Arnstadt, Berlin, Bonndorf und Stuttgart machten an diesem Tag 4200 Alcatel SEL-Beschäftigte ihrem Ärger auf den Vorstand Luft. Der Betriebsratsvorsitzende Alois Süss nannte die Demonstration mit ca. 3000 Teilnehmenden am Standort Stuttgart die größte, die er seit Jahren erlebt habe. Zeitgleich demonstrierten nach Angaben der IG Metall an diesem Tag europaweit ca. 13500 Alcatel-Beschäftigte in Belgien, Deutschland, Italien, Spanien und Frankreich.
Die Proteste scheinen in Deutschland zumindest in zwei Punkten Wirkung zu zeigen. An die Umsetzung der Abbaupläne traut sich das Management bisher noch nicht ran. Auch wurden die Abbauzahlen etwas nach unten korrigiert. Jetzt ist nur noch von 710 abzubauenden Arbeitsplätzen die Rede. Das geschieht wohl auch mit der Absicht, "Dampf aus dem Kessel" zu nehmen, ist umgekehrt aber ein erster Hinweis darauf, dass Widerstand sich lohnt.
Es ist davon auszugehen, dass wieder mehr "Dampf in den Kessel" kommt, wenn das Management sich an die Umsetzung seiner Pläne macht. Denn in den deutschen Alcatel-Standorten haben — im Gegensatz zu weiten Teilen des Siemens-Konzerns — in Betriebsräten und IG Metall jene Kräfte Gewicht, die nicht auf Co-Management setzen, sondern auf Mobilisierung der Beschäftigten. Alcatel SEL gilt im IGM-Bezirk Stuttgart als einer der "Kampfbetriebe". Der gemeinsame europaweite Aktionstag zeigt, dass es bei den betroffenen Belegschaften ein ernsthaftes Bemühen um internationale Zusammenarbeit gibt. Dahinter steckt die Einsicht, dass gegen einen international organisierten Konzern auf der einzelbetrieblichen Ebene allein nicht viel auszurichten ist.

Arbeiterpolitik in Zeiten der Schwäche

Am Beispiel der Alcatel SEL wird sich zeigen, was in einem neoliberal geprägten gesellschaftlichen Umfeld in Zeiten der Rezession an betrieblich-gewerkschaftlicher Gegenwehr gegen Massenentlassungen machbar ist. Hier werden aber auch die generellen politisch-konzeptionellen Schwächen der bundesdeutschen Arbeiterbewegung offenkundig.
Jeder wurstelt herum, so gut er kann. Es gibt keine wirklich umfassenden gewerkschaftlichen Konzepte für den Kampf gegen die Folgen der Krise, geschweige denn für am real existierenden Bewusstsein anknüpfende Forderungen, die wirklich mobilisierend wirken können. Sucht man nach politischen Konzepten der Linken gegen Massenarbeitslosigkeit, bleibt einem zumeist nichts anderes übrig, als in den Speicher zu gehen und noch einmal in alten Broschüren zu schmökern.
Damals, in der ersten großen Nachkriegsrezession Mitte der 70er Jahre, bemühten sich die betrieblichen Linken, mit eigenen Konzepten in die Kämpfe einzugreifen. Es lohnt durchaus, sich mit diesen alten Texten auseinander zu setzen. In ihnen findet man gute und richtige Gedanken und Forderungen, die auch heute nicht verkehrt sind. Prüft man diese Forderungen aber vor dem Hintergrund des im Jahre 2001 herrschenden Bewusstseins daraufhin, ob sie in einer Situation vorantreibend wirken könnten, in der das Management Massenentlassungen ankündigt und durchsetzt, stellt sich Skepsis ein.
Zwei Beispiele mögen zeigen, wo das Problem liegt:
Die Forderung "Keine Entlassungen" ist sicherlich richtig. Dennoch wird sie bei der Belegschaft eines Konzernablegers wie Alcatel SEL, der während der letzten Jahre durch Verkäufe, Ausgliederungen, Werkschließungen und Entlassungen einen Personalabbau von rund 33000 Beschäftigten auf mittlerweile unter 10000 Beschäftigte hinnehmen musste, nicht für "realistisch" gehalten — realistisch im Sinne der Durchsetzbarkeit gegen das nationale und internationale Management. De facto können auch kämpferische Belegschaften ohne breite gewerkschaftliche und gesellschaftliche Mobilisierungen einen Personalabbau nicht gänzlich verhindern. Es ist zumeist schon ein Erfolg, wenn sie in den Auseinandersetzungen die ursprünglichen Entlassungspläne des Management kappen und den Preis für Abfindungen möglichst hoch hinauftreiben können.
Ähnlich verhält es sich mit der Forderung "Kein Lohnverzicht". In einer Broschüre aus dem Jahre 1975 wird die durchaus wichtige Forderung nach "vollem Lohnausgleich bei Kurzarbeit" erhoben. Auch diese Forderung gilt in kämpferischen Belegschaften als nicht durchsetzbar. Betriebliche Realität ist vielmehr, dass man meist froh ist, wenn Entlassungen mittels Kurzarbeit vorerst verhindert werden können. Im Übrigen erlaubt es der Beschäftigungssicherungstarifvertrag der IG Metall, zeitweilig die Arbeitszeit zu verkürzen, wobei die Kürzung des Lohns deutlich geringer ausfällt, als die Verkürzung der Arbeitszeit.
Offenbar gibt es eine große Diskrepanz zwischen dem, was heutzutage "betriebliche Übung" ist und den sich weitgehend auf einer propagandistischen Ebene bewegenden Texten aus den 70er Jahren. Die Benennung dieses Widerspruchs ist kein Plädoyer dafür, die alten Theorien zu beerdigen und nur noch "Realpolitik" zu machen.
Die neu zu entwickelnden "Übergangsforderungen" müssten versuchen, konkreter auf bestehende Probleme einzugehen und viel detaillierter Handlungsmöglichkeiten herauszuarbeiten. Unverzichtbar ist dabei eine branchenweite Herangehensweise über nationale Grenzen hinweg.
Es ist höchste Zeit, dass sich die gewerkschaftliche Linke damit befasst, wie im dritten Jahrtausend eine klassenkämpferische Antwort auf die Krise aussehen könnte, die da ansetzt, wo die Menschen in den Betrieben stehen. Die Auseinandersetzung um den geplanten massiven Personalabbau bei SEL Alcatel könnte ein Anlass sein, endlich in diese längst überfällige Diskussion einzusteigen.

Franz Mayer

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