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Die Reform der EU-Institutionen war auf dem Ratsgipfel in Nizza ein Jahr zuvor im Feilschen der Regierungschefs um Mehrheitsentscheidungen,
Stimmengewichtung im Rat und Sitze in der EU-Kommission in eine Sackgasse geraten. Die Außenminister einigten sich auf einer vorbereitenden Sitzung, ein anderes Verfahren zu
wählen, das erstmals erfolgreich bei der Ausarbeitung der Grundrechtecharta getestet worden war: nämlich einen "Konvent über die Zukunft Europas"
einzuberufen, in dem neben den Vertretern der Regierungen auch Parlamentarier sitzen.
Ein solcher Konvent wird erstmals im März dieses Jahres unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard dEstaing
zusammentreten. Er umfasst sage und schreibe 100 Personen, 15 Regierungsvertreter, 30 Vertreter der nationalen Parlamente, 16 Europarlamentarier, zwei EU-Kommissare. Hinzu kommen je
ein Minister und zwei Parlamentarier der Beitrittskandidaten, die jedoch einen gefundenen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten nicht mehr in Frage stellen können. Die Sozialpartner,
Vertreter des Rats der Regionen und des Wirtschafts- und Sozialrats sind als Beobachter eingeladen.
Allerdings hat der Konvent nichts zu entscheiden. Er soll den Ratsherren bis Juni 2003 "Empfehlungen" und
"Optionen" vorlegen, den diese als "Ausgangspunkt" für ihre Entscheidungen auf der Regierungskonferenz 2004 nehmen. Die "Einbeziehung der
Zivilgesellschaft", auf die sich dieses Verfahren viel zugute hält, beschränkt sich auf die Einrichtung eines Forums, das für Sozialpartner, Unternehmen,
Nichtregierungsorganisationen und Vertreter der Wissenschaft geöffnet ist. Sie werden regelmäßig über den Fortgang der Beratungen im Konvent informiert und
dürfen ihre Sichtweise dort einbringen, ohne Einfluss darauf, wie mit ihren Beiträgen umgegangen wird. Auf diesem Wege soll die EU eine Verfassung erhalten, die ihren
Institutionen mehr Legitimität verleihen soll. Dabei ist das Maximum an Demokratie, das die Ratsherren bereit sind zuzugestehen, ihre Bereitschaft, die Untergebenen anzuhören!
Wahrlich ein Muster an aufgeklärtem Absolutismus, das allein schon jede demokratische Gesinnung gegen diese EU auf die Barrikaden treiben muss!
Die Erklärung von Laeken, die die Ratsherren verabschiedet haben, besteht zum großen Teil aus einem umfangreichen Fragekatalog, den der Konvent bis Juni 2003 abarbeiten soll.
Darunter sind auch sehr umstrittene Fragen, über die sich bislang noch kein Konsens abzeichnet, z.B. wie die Kompetenzen zwischen der Union und den Einzelstaaten aufzuteilen sind.
Dass die EU nicht mehr darüber befinden soll, ob etwa die Schweden ihren geliebten Schnupftabak weiter verkaufen dürfen, darüber besteht Einigkeit. Soll sie aber eine
zusammenhängende, supranationale Außen- und Sicherheitspolitik formulieren, mit Hochkommissaren wie Javier Solana, die die Belange der EU nach außen vertreten und
dann für alle ihre Mitgliedstaaten sprechen? Soll es eine EU-Polizei und eine EU-Strafjustiz geben? Das sind Prärogativen, die neben einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik, die
heute schon in Bereichen wie Währungspolitik, Wettbewerbsrecht, Umweltpolitik u.a. auf EU-Ebene festgelegt wird, zu den zentralen Souveränitätsrechten von
Nationalstaaten gehören.
Was die Demokratisierung der EU anbelangt, die gerade die Erklärung von Laeken wortreich vor sich herträgt,
schrumpft sie im Wesentlichen auf die Fragen zusammen, ob der Präsident der EU-Kommission von den EU-Bürgern direkt oder vom Europaparlament gewählt werden soll.
Er würde damit gewissermaßen zum europäischen Bürgerkönig mutieren, während die anvisierte EU-Verfassung stark einer konstitutionellen Monarchie
ähnelt.
Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage des Zuschnitts der Wahlkreise: Soll es europaweit einheitliche Wahlkreise geben, in denen
sich europäische Parteien zur Wahl stellen, anstelle der bisherigen nationalen Verfahren, oder sollen beide Verfahren gemischt werden? Sollen die Mitwirkungsrechte des
Europaparlaments auf alle Fragen ausgedehnt werden? Ein Abkehr vom Prinzip, dass der Rat (also die Versammlung der Staats- und Regierungschefs) gleichzeitig legislative und exekutive
Befugnisse hat, sich also bestenfalls die Gesetzgebung mit dem Europaparlament teilen würde, ist nicht vorgesehen; die Gewaltenteilung bleibt auf EU-Ebene außer Kraft gesetzt.
Ein zentraler Streitpunkt bleibt natürlich, welche Fragen weiterhin dem Konsensprinzip unterworfen bleiben und welche
nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden. Ebenso soll der Konvent darüber nachdenken, ob die Ratsgipfel wie bisher halbjährlich rotierend in einem der Mitgliedstaaten
stattfinden oder alle nach Brüssel verlegt werden. Ein dafür geeignetes Gebäude will die Stadt bereits bauen.
Schließlich ist auch die Frage umstritten, ob es überhaupt so etwas wie eine EU-Verfassung geben soll. Tony Blair
hat in der Erklärung nur die Frage zugelassen, ob der Prozess der Vereinfachung und Reorganisation der Institutionen nicht langfristig in eine Verfassung münden könnte?
Jeder Anschein, es könne ein neues, supranationales Staatsgebilde entstehen, soll vermieden werden, und die Erklärung grenzt sich von einem solchen Vorhaben ausdrücklich
ab.
Aber ob ein institutionelles Gebilde de facto ein Staat ist oder nicht, hängt von seinen Kompetenzen ab, nicht davon, ob er
auf der Basis einer Verfassung handelt. Und wenn davon die Rede ist, dass die Mitgliedstaaten und Regionen verstärkt die Aufgabe erhalten sollen, die Politik der Union
auszuführen (statt sie selber vorzugeben), dann ist ziemlich klar, wohin die Reise geht. Es handelt sich dann um eine Staatsbildung von oben, in den engen Grenzen dessen, was die
Regierungen und die Konzerne, deren Interessen sie bedienen, für notwendig erachten, um den europäisch erweiterten Aktionsspielraum des Kapitals institutionell abzusichern. Die
Parallele zur deutschen Reichsbildung von 1870/71 drängt sich auf…
Die belgische Regierung hatte sich sehr bemüht, ihrer Präsidentschaft einen sozialen Anstrich zu geben. Im Anschluss an die EGB-Demonstration wurden EGB-
Generalsekretär Emilio Gabaglio und die Vorsitzenden der belgischen Gewerkschaften zu einem kleinen "Sozialgipfel" ins Schloss gebeten. Ihnen wurde ein Recht der
Belegschaften auf "Information und Konsultation" bei Umstrukturierungen der transnationalen Konzerne in Aussicht gestellt.
Die "Schlussfolgerungen des Rats" bekräftigen zugleich das Festhalten an den Großen
Wirtschaftspolitischen Leitlinien, d.h. an der Konsolidierung der Haushalte und der Fortführung "struktureller Reformen", um Wachstum zu erzielen. Ausdrücklich
begrüßte der Rat die Ergebnisse der WTO-Konferenz in Qatar, die eine neue Runde der Verhandlungen über die Liberalisierung des Welthandels beschlossen hat.
Das in Lissabon verkündete Ziel, die EU müsse zur "dynamischsten wissensbasierten Wirtschaft der
Welt" werden, wurde erneut bekräftigt. Damit auch die Strategien, über eine Einschränkung des Rechts auf Leistungsbezug die Erwerbslosigkeit nominell zu verringern
und bis zum Jahr 2010 eine Erwerbstätigenquote von 70% zu erreichen. Die Koordination der Arbeitsmarktpolitik soll intensiviert und künftig jährlich ein Sozialgipfel vor
dem Ratsgipfel im Frühjahr durchgeführt werden.
Acht neue Behörden wollte die belgische Präsidentschaft schaffen, nur zwei davon konnten eingerichtet werden, der Rest ging wieder im Feilschen um ihren Standort unter. Eine
Oberste Lebensmittelbehörde kommt nach Brüssel. Eine Oberste Strafverfolgungsbehörde, Eurojust genannt, wurde in Den Haag angesiedelt; sie kann einen
europäischen Haftbefehl ausstellen. Ihre Hauptaufgabe besteht in der Terrorismusbekämpfung; die Innenminister hatten sich im Vorfeld auf eine gemeinsame Terrorismusdefinition
geeinigt. Die spanische Regierung hat angekündigt, aus der Terrorismusbekämpfung eine zentrale Aufgabe ihrer Ratspräsidentschaft machen zu wollen.
Für die geplante 60.000 Mann starke Schnelle Eingreiftruppe der EU wurde in Laeken der Eintritt in die
"operationelle Phase" erklärt d.h. sie kann sog. "Krisenmanagementoperationen" durchführen, z.B. das NATO-Kommando in Makedonien
übernehmen; der für viele Operationen notwendige Zugang zu den Planungen und Einrichtungen der NATO scheiterte jedoch noch an Differenzen zwischen Griechenland und der
Türkei.
Zehn namentlich genannten osteuropäischen Ländern wurde der Beitritt bis 2004 in Aussicht gestellt; allerdings
bleiben die schwierigen Fragen der Reform der Agrarpolitik, der Regionalpolitik und des EU-Haushalts, die vor einem Beitritt zur Währungsunion gelöst werden müssten,
völlig offen.
Angela Klein
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