SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar, Seite 15

Nur durch Krisen kommen sie weiter

Die Europäische Union zwischen Nationalstaatlichkeit und Supranationalität

Die Europäische Union vermittelt ein widersprüchliches Bild: einerseits eine Aneinanderreihung von Krisen, Konflikten und Halbniederlagen; andererseits zeichnet sich mindestens ab der Mitte der 80er Jahre ein in sich schlüssiger Prozess der schrittweisen Integration ab. Nachstehend ein Interview mit FRAN€OIS VERCAMMEN über den Stand der Europäischen Union; das Interview wurde teils vor, teils nach dem Gipfel von Laeken/Brüssel geführt. (Fran‡ois Vercammen ist führendes Mitglied der IV.Internationale aus Belgien)

Wie funktionieren denn Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene?
Man muss verschiedene Ebenen unterscheiden: die praktische, die der politischen Manöver, die ideologische. Auf der praktischen Ebene zählen vor allem die erzielten Ergebnisse. Wenn die Zeit reif scheint, werden konkrete Vorhaben in Angriff genommen, die einen Schritt nach vorn versprechen. Interessant ist, wie sie mit Niederlagen umgehen. Angekündigte Vorhaben, die sich beim ersten Mal nicht realisieren lassen, kommen in anderem Gewand wieder auf den Tisch. Krisen und endlose Debatten sind fast zu einer Methode der Entscheidungsfindung geworden.
Die politischen Manöver dienen dazu, Entscheidungen auf europäischer Ebene innenpolitisch abzusichern, aber auch dazu, dem jeweiligen Land einen Platz im europäischen Orchester zu verschaffen. Nehmen wir den Text von Bodo Hombach und Peter Mandelson — die gemeinsame Erklärung der britischen und deutschen Sozialdemokraten über den "Dritten Weg".
Der konservative spanische Außenminister qualifizierte ihn damals gegenüber der französischen Tageszeitung Le Monde als rein ideologische Debatte innerhalb der Sozialdemokratie. In Wirklichkeit war das eher ein Manöver, um Frankreich an die Wand zu spielen. Das Abkommen zwischen Blair und Aznar hat die Erklärung von Lissabon und die Politik des aktivierenden Sozialstaats in Gang gebracht und den französischen Premierminister Jospin ein weiteres Mal ausgebootet. Ich glaube, Schröder war mit diesem Manöver einverstanden, aber offen sagen konnte er es natürlich nicht. In Deutschland ist noch sehr viel vom alten Sozialstaat erhalten.
Es gibt auch ideologische Manöver. Jeder Staat muss unter Beweis stellen, dass er den "europäischen Werten" anhängt. Die Rede von Josef Fischer vor dem Gipfel von Nizza war ein Ausdruck da von. Da ist unablässig von Demokratie die Rede, aber nicht einmal wird gesagt, wann die Bevölkerungen denn entscheiden dürfen. Wahrscheinlich erst, wenn alle Vertragstexte unter Dach und Fach sind.
Der wichtigste Punkte ist aber, dass die obersten Etagen der europäischen Bourgeoisien und der Konzerne ein geeintes Europa mit einer Regierung und einem Parlament wollen. Davon bin ich überzeugt ...

Bis vor kurzem gab es daran noch Zweifel, auch bei uns.
Das ist wahr. Ein wichtiger Maßstab dafür ist die Dynamik der Fusionsprozesse unter den Multis. Spielt sich die Kapitalkonzentration hauptsächlich auf europäischer Ebene ab, oder gibt es eher die Tendenz, dass europäisches und amerikanisches Kapital fusionieren? Beide Prozesse laufen. Am Anfang und unter dem Einfluss der wirtschaftlichen Expansion der USA konnten wir Fusionsprozesse zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Kapital beobachten.
Das Kapital strömte an die US-Börsen, aber es wurden auch reale Investitionen getätigt, um Zugang zum großen und stark geschützten US-Markt zu bekommen. Daraus konnte man Schlüsse über die Stärke des US-Kapitalismus ziehen. Aber der Prozess sagte auch etwas über die Fähigkeit großer europäischer Unternehmensgruppen aus, in diesen Markt einzudringen und wirklich multinationale Unternehmen aufzubauen. Daimler- Chrysler ist dafür ein Beispiel. Es war ein wichtiges Signal.
Der European Round Table of Industrialists, der Führungskreis europäischer Industrieller, interveniert gegenüber der Europäischen Union aktiver und offener denn je. Er fordert günstige Bedingungen für europäische Multis, er nimmt Einfluss auf die Direktiven aus Brüssel, auf die Entscheidungen betreffend die Angleichung der Finanzmärkte, die Steuerpolitik, das europäische Unternehmensrecht usw. Die herrschenden Klassen haben sich eindeutig für den Aufbau eines supranationalen Europa entschieden.
Die Instabilität und die Risiken der globalisierten Wirtschaft drängen sie in diese Richtung, das gilt für die Asienkrise, die Russlandkrise usf. Vielleicht wirkt auch die derzeitige Rezession in den USA in diesem Sinn. Immerhin können sich die amerikanischen Multis auf einen starken Staatsapparat stützen und unterstreichen dessen Bedeutung immer wieder. Die aggressive Politik von Bush hat nochmals als Katalysator gewirkt.

Die europäischen Konzerne wollen da nicht ins Hintertreffen geraten?
Ja. Eine zunehmende Zahl europäischer Multis führt den größten Teil seiner Handelsaktivitäten nicht mehr im Ursprungsland. Das tritt in Widerspruch zur Tatsache, dass die Eigentumsstruktur national geblieben ist. Das Führungspersonal bleibt ebenfalls der politischen Klasse des Ursprungslands verbunden. Die Frage ist, wie sich eine herrschende Klasse definiert. Ein deutscher Manager bei Ford identifiziert sich mit der deutschen herrschenden Klasse. Das ist nicht nur eine Frage der Kapitalstruktur, auch eine der Identität und der Geschichte. Regelmäßig kann man in den Zeitungen Berichte über amerikanische Manager lesen, die in Europa arbeiten, es aber nicht schaffen, hier Fuß zu fassen. Und dies, obwohl die amerikanische Unternehmenskultur in Europa immer mehr um sich greift.

Dennoch gibt es auf dem Weg zur europäischen Einigung immer wieder Krisen und Konflikte. Warum?
Hauptsächlich aus zwei Gründen. Zunächst einmal deshalb, weil es keine europäische Nation gibt. Es ist nicht einfach, einen Staat gegen ein bestehendes Nationalgefühl zu errichten. Das Nationalgefühl spielt eine wichtige Rolle für die einzelnen Mitgliedstaaten. Es stellt gewissermaßen den Zement dar, der die Gesellschaft zusammenhält und den politischen Institutionen ihre Legitimität verleiht, selbst in Momenten, wo diese stark unter Beschuss geraten. In einigen Ländern ist es stärker ausgeprägt, in anderen weniger. Das hängt damit zusammen, wie sich der Staatsapparat herausgebildet hat.
Wollte man einen europäischen Staat schaffen, müsste man also ein europäisches Nationalgefühl schaffen, das über die Mitgliedstaaten hinausgeht. Manchmal wird eine europäische Identität zum Teil einer nationalen Identität. Die Schotten und die Flamen z.B. haben ein Nationalgefühl, das sich mit dem britischen bzw. dem belgischen Staat nicht identifiziert. Sie sagen dann: "Wir sind keine Nationalisten, sondern Europäer." Das kann man auch im Baskenland und in Katalonien beobachten, überall dort, wo der Nationalstaat schwach verankert ist.
Die europäische Geschichte ist reich an sehr langen nationalen Entwicklungen, das erschwert den europäischen Aufbau. Europa wird deshalb im wesentlichen negativ definiert: weder US-Amerikaner noch Japaner. Dann rühmt man sich der Sozialstandards, der langen europäischen Geschichte, ihrer Zivilisation, ihres Entwicklungsgrads usw. Die Anderen sind dann die "neureichen Cowboys von der anderen Seite des Ozeans".

Reicht die Negatividentität für die Ausprägung eines europäischen Bewusstseins?
Die Rivalität mit den USA, die häufig auf brutale und eigensinnige Weise in andere Länder und deren Außenpolitik intervenieren, stachelt die Bildung eines europäischen Staates an. Um das zu befördern, wird man dazu übergehen, einen europäischen Chauvinismus zu kultivieren (der begründet eine europäische Armee), aber man wird auch gewisse soziale Zugeständnisse machen: alles, um "Europa zu retten", d.h. die Konkurrenz mit den USA zu gewinnen.
Die Frage ist, ob das so funktioniert. Wie wird sich die Jugend entwickeln, für die die Geschichte Vergangenheit ist und die einen der wichtigsten Generationenbrüche des 20.Jahrhunderts durchlebt? Die Jugend heute ist kosmopolitisch und international, ihr Horizont ist breiter als der der vorangegangenen Generationen. Wie wird sich das politisch niederschlagen?
Das zweite große Hindernis auf dem Weg zum Aufbau der Europäischen Union sind die Staatsapparate. Sie sind der nationalen Geschichte verhaftet. Sie sind älter als die Bourgeoisien und blicken auf eine lange Geschichte zurück, die tief in die Psychologie und die Vorurteile der Eliten wirkt: Deutschland gegen Frankreich z.B. oder England gegen Frankreich. Wenn sie getrunken haben und ihre Selbstkontrolle verlieren, tritt das zutage.
Das ist gefährlich und man versucht es zu überwinden. Viele europäische Beamte sind heute durch die Schule europäischer Institutionen gegangen, das hat sie verändert. Sie meinen immer noch, den Interessen ihres Landes zu dienen, aber am besten im europäischen Rahmen. Sie grenzen sich hauptsächlich gegenüber Amerika ab.

Wie können dann Fortschritte in der europäischen Integration erreicht werden?
Es scheint paradox, aber es ist so: Ihre Art, sich fortzubewegen, läuft über Krisen. Es gibt immer wieder Krisen, auch anhaltende, aber die Bourgeoisie kann sie sich leisten. Es gibt sehr wenig Druck von unten. Nirgendwo drängen die Gewerkschaften oder soziale Bewegungen auf Beteiligung und Mitsprache, um das Europa des Kapitals durch ein anderes Europa zu ersetzen. Deshalb funktioniert es.
Sie bewegen sich in Richtung eines europäischen Staates. Sie haben kein klar formuliertes Projekt, aber sie wissen, was sie wollen. Die Intellektuellen spielen eine wichtige Rolle in diesem Prozess. Die Europa-Idee wird von einer Reihe von akademischen Gesellschaften gepflegt, die auch fundierte Publikationen herausgeben. Einen Vorläufer davon gab es nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71. Damals verfassten französische Intellektuelle einen Aufruf für ein Europa, wie es im Mittelalter war, als es die Nationalstaaten noch nicht gab: "Der Kontinent ist gespalten, wir müssen ihn wieder vereinigen, wir müssen Frieden schließen."
Um die alten Vorbehalte und Vorurteile zu überwinden, definiert man gemeinsame Normen und Regeln, die wie eine freiwillige Zwangsjacke wirken, um die Widersprüche unter Kontrolle zu halten. Anders geht es nicht. Die Einführung des Euro verdankt sich nicht allein der wirtschaftlichen Entwicklung und der Globalisierung.
Auch der Fall der Mauer hat eine Rolle gespielt. Damals stellte man sich die Frage: Wird Deutschland Teil der Europäischen Union bleiben oder sich über Investitionen, Handel und wirtschaftliche Beherrschung nach Osten ausdehnen? Die Unruhe war groß, denn weder die französische noch die britische Bourgeoisie konnten zulassen, dass ein starkes Deutschland eigene Wege geht. Damals war Mitterrand überzeugt, Deutschland werde eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame europäische Zentralbank — also eine kollegiale Währungspolitik — akzeptieren. So stellen sie gemeinsame Regeln und Normen auf, setzen aber auch Fristen, um Prozesse in Gang zu bringen. So verfuhr Jacques Delors mit seinem Weißbuch über die Herstellung eines gemeinsamen Binnenmarkts, der 1993 in der Wirtschafts- und Währungsunion münden sollte. Sie nehmen ständig in Kauf, Krisen zu provozieren, in der Hoffnung, dass sich daraus ein Fortschritt ergibt. Ohne ein solches Verfahren hätte es den Euro nie gegeben.

Stellt der Euro einen Schritt in Richtung Superstaat dar?
Wenn es Fortschritte in dieser Richtung gibt, dann über die Währungsunion. Dabei muss man zwei Dinge unterscheiden: Maßnahmen, die Staatseinrichtungen im eigentlichen Wortsinn schaffen oder stärken (die Währung, die Armee, die Polizei.), und Maßnahmen, die den Binnenmarkt weiterentwickeln wollen. Beide sind supranational — sie bewirken einen Machttransfer von der nationalen auf die europäische Ebene. Aber die letzteren sind darauf gerichtet, Marktkräfte — also nichtstaatliche Kräfte — zu regulieren. Im Grundsatz ist der Unterschied klar, in der Praxis gibt es viele Durchlässigkeiten. Denn der Kapitalismus als verallgemeinerte Marktwirtschaft würde ohne die tägliche und außerordentliche Unterstützung durch den Staat zusammenbrechen. Im Rahmen der Europäischen Union garantiert die EU-Kommission das Funktionieren des Binnenmarkts; der Rat regiert; über die Währung tut es die Europäische Zentralbank.
Die Währung ist ein wichtiges Attribut des Staates. Eine supranationale Währung wie der Euro, der dem Dollar Konkurrenz machen will, kann sich nicht damit zufrieden geben, dass in der Europäischen Zentralbank ein Rat von Mumien über die Währung nur nach dem Gebot der Kontrolle über die Inflation und nach den starren Regeln der Kriterien von Maastricht und des Stabilitätspakts wacht. Das funktioniert nicht. Wenn es eine Dynamik in Richtung auf einen supranationalen Staat gibt, kommt sie von dort.
Eine Währung ohne (supranationale) Regierung ist vom bürgerlichen Standpunkt aus eine gefährliche Utopie. Aber der Weg dahin wird nicht leicht sein. Eine Möglichkeit zeichnet sich ab, das ist die Einrichtung eines Hochkommissars mit eigener Behörde, wie sie für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geschaffen wurde. So könnten die Regierungschefs einen Mister Euro benennen, der dem Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (der Eurogruppe) verantwortlich wäre, am Zentralrat der EZB teilnähme, die Wirtschafts- und Währungspolitik erklärte. Schließlich hat sich der Ecofin auch die Kompetenz für soziale Fragen unter den Nagel gerissen — darunter auch für solche, die in den Verträgen gar nicht auftauchen!
Für die Demokratie und die arbeitende Bevölkerung bedeutet diese ganze Entwicklung eine große Gefahr.

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