SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar, Seite 18

Argentiniens Wirtschaftskrise

Schuldenstreichung jetzt

Der Aufstand vom 19. und 20.Dezember zwang erst den argentinischen Wirtschaftsminister Domingo Cavallo und dann den Staatspräsidenten Fernando de la Rua zum Rücktritt. Der nachfolgende Artikel von Claudio Katz wurde unmittelbar vor der Entlassung Cavallos und dem Rücktritt de la Ruas geschrieben. Er analysiert die Wirtschaftspolitik Cavallos und die Bedingungen, die zum Aufstand führten, und umreißt Perspektiven für eine Lösung im Sinne der Erwerbslosen, Lohnabhängigen und Ausgegrenzten.
Mit dem Beschluss Anfang Dezember, die Spareinlagen einzufrieren, um die Banken auf Kosten der Kleinsparer zu retten, hat Wirtschaftsminister Cavallo eine neue Phase der argentinischen Wirtschaftskrise eingeläutet. Der Rückzug von Anlegern brachte das Finanzsystem an den Rand des Kollaps, weil nach vier Jahren der Rezession und einem dramatischen Rückgang der Investitionen und des Konsums ein großer Teil der Unternehmen hochverschuldet ist und am Rande des Zusammenbruchs steht.
Die gegenwärtige Krise ist ohne Beispiel und übertrifft ähnliche Entwicklungen in anderen Länder der Peripherie in den 90ern. In den letzten zwei Jahren haben 3000 Unternehmen geschlossen, Dutzende weitere wanderten ins Ausland ab. Das Bruttosozialprodukt wird 2001 schätzungsweise um 3,5% fallen, 2002 wahrscheinlich sogar um 7 bis 9%. Die offizielle bei 20% liegende Erwerbslosenquote steigt auf 40 %, wenn man das Ausmaß der Unterbeschäftigung berücksichtigt; ein Staatsbeamter erklärte neulich, "nur in Afghanistan" gebe es noch so viele Arbeitslose. Von den 14 Millionen Armen im Lande sind mehr als 5 Millionen Indígenas, sie verfügen über weniger als die 63 Pesos monatlich, die nötig sind, um die für eine minimale Kalorienversorgung notwendigen Grundnahrungsmittel zu bekommen.
Angesichts dieses sozialen Zusammenbruchs zielen alle Entscheidungen Cavallos auf zwei grundsätzliche Handlungslinien: die Krise auf die Arbeiter abzuwälzen und die verschiedenen Kapitalfraktionen über eine Einkommensumverteilung zu retten. Kurz gesagt, die Armen sollen die herrschende Klasse stützen, indem sie noch ärmer werden.

Die Opfer

Die Angriffe der Regierung richten sich in erster Linie gegen die Staatsangestellten. Sie werden als die Verantwortlichen für das aktuelle Desaster hingestellt, während in Wirklichkeit ihre Arbeit (in den Bereichen Erziehung, Justiz, Gesundheit) die vollständige Lahmlegung der einheimischen Wirtschaft verhindert hat. Die Staatsangestellten wurden einer gleitenden Lohnskala unterworfen, die an die Steuereinnahmen gekoppelt ist. Das heißt, es gab Gehaltskürzungen, erst um 13%, dann um 21%; das Weihnachtsgeld wurde gestrichen, aufgeteilt oder verschoben. Geplant ist, die Lehrerzulage zu senken und 90000 Beschäftigte in diesem Bereich zu entlassen.
Die Regierung bereitet auf weitere Kürzungen im sozialen Bereich vor, so bei den Stipendien und beim Schulgeld; die Haushaltsansätze werden ständig zurückgefahren. Auf diese Weise bleiben die Rentner ohne Medikamentenunterstützung, die Behinderten ohne ärztliche Hilfe und einige Hilflose haben bereits Selbstmord begangen.
In den Provinzen hat man die Gehaltskürzungen über den Weg des Naturallohnes (Lebensmittelgutscheine) eingeführt, je nach Region macht er zwischen 5 und 50% des Lohns aus. Ein großer Teil der Steuereinnahmen wird von den Gläubigerbanken blockiert, die von jedem Peso zwischen 60 und 90 Centavos bekommen, je nach der Lage in den 14 meistverschuldeten Provinzen.
Die absurde neoliberale Theorie, wonach der öffentliche Sektor schrumpfen muss, um den privaten aufrechtzuerhalten, wird Tag für Tag durch die rezessive Wirkung der Haushaltskürzungen widerlegt, die zu Gehaltskürzungen führen — 60% der 2001 geschlossenen Verträge waren davon betroffen, dazu gab es neue Verordnungen der Flexibilisierung und Anhebung der Arbeitszeiten. Außerdem droht eine neue Welle von Entlassungen in Folge der Tatsache, dass 45% der Unternehmen, die bisher Schwarzarbeiter beschäftigten, diese nun ausweisen müssen.
Die Schicht jedoch, der gegenwärtig die größte Verarmung droht, ist der Teil der Mittelklasse, dessen Bankguthaben eingefroren wurden. Die Regierung wollte sie für die Refinanzierung der öffentlichen Schulden verwenden, oder um den Banken zu helfen, die unter der Aushöhlung und Entwertung ihrer Aktiva leiden. Die Kleinsparer wurden mit beschwichtigenden Worten abgespeist ("Haben Sie Vertrauen in die Solidität des Banksystems!"), die Regierung verschwieg aber, dass seit Jahresbeginn 15 Milliarden Dollar verschwunden waren, weil Großinvestoren sie abgezogen hatten. Die Bankguthaben wurden erst eingefroren, als jene ihre Schäfchen ins Trockene gebracht hatten.
Die eingefrorenen Einlagen werden nun entwertet, weil sie dazu verwendet werden, Güter zu höheren Preisen zu kaufen als dem Wechselkurs in Dollar entspricht.

Das Ende des Gleichgewichts

Seit seinem Amtsantritt versucht Cavallo, durch gleichgewichtige Verteilung von Regierungshilfen alle kapitalistischen Sektoren am Leben zu erhalten. Aber die Verschärfung der Depression versperrt diesen Ausweg. Bei Investitionsverlusten in Höhe von 40 Milliarden Dollar innerhalb von zwei Jahren gibt es keinen gemeinsamen Ausweg für die herrschende Klasse. Die argentinische Wirtschaft befindet sich in einem Teufelskreis und das angestrebte Gleichgewicht gerät aus den Fugen (der Haushalt wird gekürzt, um die Auslandsschuld zu bezahlen, das wiederum führt zu Defiziten, die neue Anpassungen erfordern).
In dieser kritischen Situation muss die Regierung Partei für bestimmte kapitalistische Gruppen und gegen andere ergreifen. Wie die kürzlich erfolgte Sperrung der Spareinlagen zeigt, sind die Begünstigten dieser Wahl die Banken.
1. Die Regierung hat ihr neoliberales Credo beiseitegelegt und ist zu einem extremen Interventionismus zurückgekehrt, um den Banken zu helfen. Alles Reden über die "Effizienz der Märkte" und die Wirkungslosigkeit staatlicher Eingriffe ist verstummt, statt dessen wurden Devisenkontrollen, eine Reglementierung der Außenwirtschaft und der Finanztransaktionen eingeführt. Die Ursache dafür ist, dass die ausländischen Banken sich weigern, ihrerseits Devisen aus dem Ausland zur Behebung der Krise einzusetzen. Statt dessen beschleunigt sich mit Hilfe der Zentralbank die Flucht in den Dollar. Der Ausverkauf der Banken ans Ausland infolge der Krise von 1995 hat diesen Kapitalabfluss erleichtert. Die ausländischen Institute haben sich in nur 48 Stunden den besseren Teil der Bankgeschäfte gesichert, indem sie mehrheitlich die Kommissionen besetzten, die alle kommerziellen Aktivitäten koordinieren sollen. Dabei ist die Finanzkrise noch nicht am Ende, weil die Angst vor Beschlagnahmung dazu geführt hat, dass ein Teil der Einlagen aufgelöst wurde und nun auf seine Weise den informellen Sektor speist.
2. Die Regierung unterstützt die örtlichen Gläubiger (Banken, Versicherungsgesellschaften, AFJP), die rund 40% der Schuldentitel halten. Ihnen wurde erlaubt, diese Titel zu refinanzieren, um Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. Durch den Austausch gegen neue, über Steuereinnahmen finanzierte Titel konnten sie der Entwertung der alten Titel, die nur noch die Hälfte wert sind, und dem damit entstehenden Bilanzdefizit entgehen. Der Zinssatz für die neuen Schuldentitel (7%) ist sehr hoch verglichen mit der sehr niedrigen Rentabilität jeder Art von Investitionen derzeit und macht Papiere rentabel, die in Wirklichkeit keinen Wert haben. Aber die Krise zwingt Cavallo, der einen Seite zu nehmen, um der anderen zu geben, und so benutzt der Minister das Anlagevermögen der AFJP, um fällige Schulden an die ausländischen Gläubiger zu zahlen. Auf diese Weise werden auch diese Kassen geleert wie früher die Rentenkassen — und führt unweigerlich wie bei diesen zur Insolvenz.
3. Cavallo scheut keine Anstrengung, die ausländischen Gläubiger günstig zustimmen, weil Verhandlungen über die Auslandsschuld kurz bevorstehen. Um Punkte zu sammeln, rühmte sich der Minister am 14.Dezember, dieser Gruppe von Gläubigern 1 Milliarde Dollar zurückgezahlt zu haben — und das mitten im sozialen Zusammenbruch, in dem das Land sich befindet.
4. Dabei wäre es ein Fehler, zu meinen, Cavallo wäre nur den Spekulanten zu Willen, und zu ignorieren, dass seine Maßnahmen auf die 500 größten Industrie- und Dienstleistungsbetriebe des Landes zielen. Diese nützen die hohen Dollargewinne aus der Konvertibilität aus, indem sie Devisen an ihre Muttergesellschaften zurücküberweisen. Der Transfer sichert ihnen enorme Gewinne, weil sie von staatlich garantierten Monopolpreisen profitieren. Die Lobby dieser Unternehmen blockierte bisher alle Gesetzesvorhaben, ihre Extraprofite mit einer 10%igen Steuer zu belasten. Aber selbst hier gibt es Konkurse und drohen Betriebsschließungen.
5. Die Regierung hat angekündigt, die großen lokalen Unternehmen der sog. "Produktiven Gruppe" (UIA, Bauwesen) zu unterstützen. Diese hatten die Privatisierungen von Carlos Menem unterstützt, blieben dann aber gegenüber ihren ausländischen Mitwettbewerbern völlig konkurrenzunfähig zurück. Cavallo hat ihnen im Sommer Steuerbefreiung in Höhe von mehr als 2 Milliarden Dollar vorgeschlagen. Aber die Tiefe der Depression macht es unmöglich, die Nachfrageverluste durch eine Stärkung des Angebots (geringere Kosten) aufzufangen. Jetzt rudert die Regierung zurück und annulliert die Steuerprivilegien, weil die Banken auf Zahlung bestehen und sogar höhere Steuern fordern, um ihre Schulden bezahlen zu können. Dadurch werden auch die Steuervorteile und Exportsubventionen für Industriebetriebe gekappt.
6. Die Regierung beabsichtigt auch, die großen hoch verschuldeten nationalen Unternehmen (Macri, Eurenekian) zu retten, die verlangen, dass der Staat ihre Verbindlichkeiten übernimmt. Eine derartige Lösung ignoriert jedoch, dass die Staatskasse zahlungsunfähig ist und ähnliche Rettungsaktionen aus der Vergangenheit nicht wiederholt werden können.
Cavallo will alle Gruppen der herrschenden Klasse auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung bedienen. Aber das Gleichgewicht zwischen den kapitalistischen Gruppen ist schon nicht mehr herstellbar. Deshalb hat ein Kampf um unterschiedliche Entwürfe begonnen, welche Sektoren in der kommende Periode überleben und welche verschwinden sollen.

"Dollarisierer" und "Abwerter"

Das Ende scheint sich zu beschleunigen, weil Argentinien ein Versuchskaninchen für deflationäre Experimente ist. Der Internationale Währungsfonds hat seine Refinanzierungshilfen an die Banken eingestellt und statt dessen begonnen, den endgültigen Kollaps von Ländern wie Argentinien voranzutreiben. Dies geschieht unter dem Druck der US-Industrie und der US-Banken, die nicht mit Krediten aus der Peripherie belastet sind und die Extraprofite, die die Gläubiger der Dritten Welt in der letzten Dekade eingestrichen haben, zu ihren Gunsten umleiten wollen.
Außerdem ist man im Direktorium des IWF der Auffassung, die Zahlungsunfähigkeit Argentiniens werde auf Brasilien und den Rest Lateinamerikas keine Auswirkung haben, weil die großen Konzerne Zeit genug hatten, sich vor einem Kollaps, der lange vorhergesagt wurde, zu schützen. Die großen Gläubiger bereiten eine neuen internationalen Gesetzgebung vor, die die Erklärung des Staatsbankrotts beinhaltet und kleineren Konkurrenten und Abenteurern den Weg der gerichtlichen Eintreibung von Guthaben versperrt.
Angesichts dieser Perspektive gibt es eine tiefe Spaltung der herrschenden Klasse in Argentinien zwischen einem Sektor, der auf den Dollar setzt, und einem, der auf Abwertung setzt. Die erste Gruppe bilden vorwiegend ausländische Unternehmen und solche Privatunternehmen gebildet, die Devisen zum jeweiligen Kurs ins Ausland verschieben. Dieser Weg wird andererseits durch ausländische Banken behindert, die zum Nachteil lokaler Banken den Zugang zu Dollarprovisionen komplett beherrschen. Ihr Ziel ist die völlige Übernahme des Finanzsystems, nachdem die sog. Tequilakrise bereits den von 90 Instituten verursachte (1994 kontrollierten sie 16,5% der Einlagen, jetzt 50%). Dieser Sektor will die Bankenstruktur extraterritorialisieren und einen Rechtsstatus schaffen, der Banken Extraterritorialität ermöglicht und nationale Konkurrenten damit praktisch liquidiert.
Die Befürworter der Dollarisierung sprechen von der segensreichen Wirkung einer harten Währung — z.B. um Freihandelszone FTAA beitreten zu können — als ob die Verwendung einer amerikanischen Banknote helfen würde, finanzielle Unterstützung von den USA zu bekommen. In Wirklichkeit macht die einseitige Dollarisierung die Zentralbank in letzter Instanz zum Pfandleiher, weil sie die Zentralbank ihrer letzten Instrumente beraubt, selbstständig den Geldmarkt zu steuern. Die Einführung des Dollar führte zum Verschwinden des Mercosur und könnte sogar ein Auseinanderbrechen des Landes oder eine unabschätzbaren Depression zur Folge haben. Denn im Gegensatz zu Ecuador soll der argentinische Peso mitten in einer Rezession und nicht wegen einer Inflation abgeschafft werden. Weil Argentinien eine für Länder der Peripherie mittelgroße Ökonomie hat (anders als Panama, Puerto Rico oder El Salvador) würde eine Dollarisierung einen großen Sprung in Richtung Transnationalisierung bedeuten.
Der Alternativvorschlag "Abwertung" wird von einer sehr heterogenen Gruppe unterbreitet; sie wird von diversen Direktoren des IWF und bestimmten Ökonomen (Hausman, Krugman und Samuelson) angeführt, die dafür plädieren, zur alten Politik der exportorientierten Wirtschaft zurückzukehren, um Devisen für die Bezahlung der Schulden zu akkumulieren. Die Abwertung ist die Standarte der "Produktiven Gruppe", die versucht, ihre Auslandsmärkte zurückzubekommen und die massive Abwertung zur Minderung ihrer Schulden zu nutzen. Es handelt sich also um eine Enteignungsaktion, die nicht sozial gestaltet werden kann. Einzig und allein die Verstaatlichung der Banken und des Außenhandels — die diese Gruppe natürlich ablehnt — würde dies vermeiden.
Andere Befürworter einer "Volksabwertung" beteuern, sie werde wegen der Tiefe der Depression keine Auswirkung auf die Preise habe,. Aber die jüngsten Erfahrungen zeigen, dass unkontrollierte Abwertung Inflation erzeugt. Auch diese Gefahr könnte nur durch eine zunehmende Planung der Ökonomie abgewehrt werden.
Schließlich gibt es noch den Vorschlag, durch Aufhebung der Konvertibilität des Peso die argentinische Wirtschaft nach außen abzuschließen. Er vergisst, dass die Mehrheit der Schlüsselunternehmen jetzt schon in ausländischer Hand ist und dass eine völlige Kontrolle ihrer Operationen nötig wäre, um zu erreichen, dass sie den internen Markt privilegiert bedienen.
Cavallo versucht, sowohl die Dollarisierung wie auch die Abwertung zu vermeiden. Seine Berater scheinen beides gleichzeitig zu wollen — gekoppelt mit einer kräftigen Absenkung der Gehälter, um die neue Währung von vorneherein auf einem erheblich niedrigeren Lohnniveau einzuführen. Aber wenn die argentinische Wirtschaft schon mit der freien Konvertibilität Probleme hatte, ist klar, dass der Schiffbruch bei einer Dollarisierung noch größer sein wird — aus den gleichen Gründen, die zu ihr geführt haben.

Das Programm des Volkes

Die Wirtschaftskrise ist nicht die Folge zu zögerlicher Reformen, wie die Neoliberalen glauben, und auch nicht der Konvertibilität, wie die Antiliberalen sagen, oder des "Pessimismus" der Argentinier, wie einige Soziologen meinen. Es ist die dreifache Folge aus Kapitalismus, der Lage eines Landes an der Peripherie und der Wirtschaftspolitik des letzten Jahrzehnts.
Dies hat zu einer akuten Depression geführt, die weder außergewöhnlich noch einzigartig in der Welt ist. Alle Ökonomien, die auf Ausbeutung und Gewinn beruhen, erzeugen periodisch Rezessionen, und alle abhängigen Länder leiden unter dem polarisierenden Effekt der Globalisierung und dem Griff der imperialistischen Mächte nach strategischen Märkten. Die ökonomische Krise Argentiniens ist ein Beispiel für die Schäden, die diejenigen Nationen erleiden, die am stärksten von den Änderungen der internationalen Arbeitsteilung betroffen sind.
Der "Kampf gegen das Modell" muss deshalb mit einer sozialistischen Perspektive verbunden werden. Nur eine solche emanzipatorische Perspektive öffnet einen Weg für die lohnabhängige Bevölkerung, und deshalb sollte sie auf drei Wegen gesucht werden.
Der erste ist die Nichtanerkennung, Aussetzung oder Suspendierung der Auslandsschulden. Jede dieser Maßnahmen erfordert den Abbruch der Verhandlungen mit dem IWF und die sofortige Einstellung der Schuldenzahlung.
Es gibt schon jetzt keinen Zweifel an der Illegitimität und dem betrügerischen Charakter dieser Schulden und auch nicht an der katastrophalen Wirkung der Schuldenzahlungen. Was kann sich am aktuellen Zustand noch verschlechtern, wenn die Schulden nicht gezahlt werden? Die Aussetzung der internationalen Kredite, die Argentinien eh seit über einem Jahr erlebt? Eine weitere Anhebung des sog. "Länderrisikos"? Investitionsstopp? Alle diese Schreckensbilder sind bereits Realität geworden und zwar deshalb, weil man sich zu der Entscheidung nicht durchringen konnte. Offensichtlich kommt man nicht weiter, indem man einen Waffenstillstand erbettelt, über einen Abschlag verhandelt oder für zwei Jahre die Zinsen reduziert, wie es viele Ökonomen vorschlagen. Genau diese Maßnahmen fordert jetzt Cavallo (Zahlungsaufschub, Zinssenkung auf 5%, Senkung der Schuldenmenge auf 20—35%). Aber der Schuldenberg ist inzwischen im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt und den Exporten so angestiegen, dass jedwede Neustrukturierung der Schulden in einer neuen Version des jetzigen Zustands enden würde. Außerdem fordern die Gläubiger als Bedingung für Verhandlungen die Fortsetzung der bevölkerungsfeindlichen Strukturanpassungspolitik. Nur die sofortige Aussetzung der Schuldenzahlungen kann die notwendigen Ressourcen für einen für die Bevölkerung akzeptablen Neuanfang freisetzen.
Die zweite Achse eines Programms für das Volk ist die Anhebung der Löhne, Gehälter und Renten sowie die Einführung einer Arbeitslosenversicherung — solange bis die Verteilung der Arbeitszeit auf alle Hände und die Wiederbelebung der Produktion Vollbeschäftigung ermöglicht. Wenn die Berechnung stimmt, die die Gewerkschaft CTA vorgelegt hat, können die notwendigen 11 Milliarden Pesos für eine Startfinanzierung der Arbeitslosenversicherung zum größten Teil aus den Zinszahlungen für die Schulden bestritten werden (9,6 Milliarden 2001). Zusätzlich könnte man Steuern auf Privateigentum erheben, auf privatisierte Unternehmen oder Zinseinkünfte. Aber es ist irreal zu glauben, dass man mit ausschließlich restriktiven Mitteln wirklich etwas für die Bevölkerung tun kann, oder dass man Sozialpläne entwickeln kann, ohne sofort die Schuldenzahlungen einzustellen.
Ein Wirtschaftsplan für das Volk erfordert drittens die direkte Kontrolle über die diejenigen Banken und Unternehmen, die die Ökonomie steuern. Wie soll man höhere Gehälter garantieren, progressiven Steuern eintreiben und gleichzeitig öffentliche Investitionen gegen den Widerstand von Unternehmen tätigen, die in weniger als einem Jahr das Verschwinden der Hälfte der Geldreserven zu verantworten haben? Wie soll man eine durchgreifende Preissenkung gegen privatisierte Staatsunternehmen durchführen? Wie soll man die Profite aus dem Energiesektor gesellschaftlich sinnvoll nutzen, wenn die Verarbeitung und der Handel mit Öl von Privaten kontrolliert wird? Die Wiederverstaatlichung dieser Unternehmen unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und der Verbraucher ist ein zwingend notwendiger Schritt, um eine ökonomische Erholung einzuleiten und das Leben der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern.
Viele Genossen der CTA glauben, dieser Prozess könne sich als ein "Umverteilungsschock" abspielen. Sie glauben, der erhöhte Konsum werde einen ökonomischen Wunderkreis erhöhter Produktion, wachsender Gewinne und steigender Investitionen auslösen, was wiederum eine wachsende Nachfrage stimulieren werde. Aber die Schuldenzahlung und die verschiedenen Mechanismen imperialistischer Aneignung schlucken die notwendigen Mittel für einen derartigen Nachfrageschub — das ist es, was in den Ländern der Peripherie keynesianische Maßnahmen wirkungslos macht. Außerdem würde eine hypothetische Reaktivierung der Nachfrage den Profitwettbewerb und den daraus folgenden Druck der Unternehmen auf erneute Gehaltskürzungen nicht beseitigen. Die Arbeitslosenversicherung wie jede andere Mindestabsicherung müssen wir als Teil unseres Kampfes für den Sozialismus und nicht für einen "anderen Kapitalismus" sehen.
Dieses System stützt sich auf die Ausbeutung und auf die Rivalität im Kampf um den Profit und es erzeugt periodisch dramatische Zusammenbrüche auf Kosten der Bevölkerung. Der Sozialismus ist die einzige Perspektive für eine grundsätzliche Umverteilung der Reichtümer zugunsten derer, die sie produzieren.
Die aktuelle Krise hat die Ausmaße der großen Katastrophen der letzten Jahrzehnte, und sie wird sich fortsetzen bis die herrschende Klasse ein neues Machtzentrum etabliert. Nach Rodrigazo (1975) kam die Diktatur und Martínez de Hoz; nach dem Ende der Abwertung von Sigaud (1981) kam die Stagnation der 80er Jahre; und auf die Hyperinflation von 1989 folgten Menem und sein Privatisierungen. Können wir diese Folge von Niederlagen beenden? Im Aufbau einer starken linken Kraft, die auf einen radikalen Sozialismus orientiert ist, liegt der Anfang der Antwort auf diese Frage.

Claudio Katz (17.12.2001)

*Claudio Katz ist Ökonom, Professor an der Universität von Buenos Aires.



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