SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar, Seite 21

Die Kunst des Gleichgewichts

Annäherungen an Wolfgang Abendroth

Friedrich-Martin Balzer/Hans Manfred Bock/Uli Schöler (Hrsg.),Wolfgang Abendroth — Wissenschaftlicher Politiker. Bio-bibliographische Beiträge, Leske & Budrich, Opladen, 2001, 505 Seiten, 34 Euro

CD-ROM: Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.), Wolfgang Abendroth. Für Einsteiger und Fortgeschrittene, Pahl-Rugenstein, Bonn, 420 Seiten, 25 Euro

Es ist kaum noch zu übersehen, dass die Geschichte der alten Bundesrepublik nicht nur der Vergangenheit angehört, sondern auch als solche zunehmend behandelt wird. Mag es auch jenen nicht gefallen, die in allem nur eine Entsorgung der Vergangenheit zu sehen vermögen, so hat es in den letzten Jahren doch eine Menge an Veröffentlichungen bspw. zu "1968" und den 60er Jahren gegeben, die zur reflexiven Aufarbeitung jener Zeit Gewichtiges beizutragen wissen. Auch die Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno, um ein anderes Beispiel zu nennen, ist durch umfangreiche Studien wieder ins Gespräch gekommen.
Mit dem von Friedrich-Martin Balzer, Hans Manfred Bock und Uli Schöler herausgegebenen Band ist nun auch Wolfgang Abendroth in die publizistische Öffentlichkeit zurückgekehrt. "Und das ist gut so!", ist man verleitet, auszurufen. Nimmt doch Abendroth eine besondere Stellung in der Nachkriegsgeschichte der westdeutschen Linken ein. Wie kein anderer war er dazu bestimmt, eine strömungsübergreifende und oftmals noch dazu treibende Rolle in den verwickelten Fraktionskämpfen derselben zu spielen.
Aufgewachsen in einer kleinbürgerlichen und sozialdemokratischen Familie, stieß Abendroth bereits Anfang der 20er Jahre zur revolutionären Arbeiterbewegung, zur kommunistisch orientierten Jugendbewegung und tat sich bereits vor der Machtübergabe an die Faschisten als selbstständige Führungsfigur des "Bundes freier sozialistischer Jugend" hervor. Unter dem politischen Einfluss der KPD-Opposition um August Thalheimer und Heinrich Brandler und dem intellektuellen Einfluss des Austromarxismus (speziell der Otto Bauer‘schen Variante) machte er die als "Bolschewisierung" verkaufte Stalinisierung der KP nicht mit.
Zwischen den Hauptströmungen der organisierten Arbeiterbewegung stehend, ging der junge promovierte Jurist zuerst ins Exil und dann zurück nach Deutschland in den Widerstand. Nach Zuchthaus und Strafbataillon 999 kam er nach dem Krieg über London nach Deutschland zurück. Nach kurzer Zeit in der sowjetischen Besatzungszone, ging er 1949 nach Wilhelmshaven und 1951 schließlich nach Marburg, wo er zum anerkannten Verfassungsrechtler und politischen Wissenschaftler in und um die SPD wurde.
Mit seiner Interpretation des Grundgesetzes als Produkt eines Klassenkompromisses, der sich in der Konzeption des demokratischen und sozialen Rechtsstaats niederschlage und Möglichkeiten einer sozialistischen Transformation eröffne, legte Abendroth über seine biografische Disposition hinaus auch politisch-konzeptionell die Basis für seine spezielle Rolle im Westdeutschland der 50er und 60er Jahre. Immer wieder versuchte er, die verschiedenartigen Gruppen der sozialistischen und radikaldemokratischen Linken zusammenzuführen und zu moderieren, um mittels radikaler Transformation von SPD, Gewerkschaften und des verfassungsrechtlichen Rahmens Schritte zum Sozialismus einzuleiten.
Als jedoch der Verfasser des Gegenentwurfs zum berühmt-berüchtigten Godesberger Parteiprogramm der SPD kurze Zeit später aus dieser hinausgeworfen wurde, musste er seine Kampftaktik in Richtung einer stärker eigenständigen Organisierung verändern. Mit dem wesentlich von ihm bestimmten Sozialistischen Bund und seiner Einflussnahme auf den sich radikalisierenden Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) beteiligte er sich federführend an der Formierung einer westdeutschen "Neuen Linken" (siehe SoZ 19/01). Doch auch dieser Versuch eines organisierten Linkssozialismus scheiterte nach 1968.
Abendroth zog sich danach auf eine Position jenseits aller Stühle zurück und spielte fortan eine weniger praktisch- organisatorische denn intellektuelle Vermittlerrolle zwischen sich zunehmend auseinander driftenden Linksgruppierungen. Der Spagat zwischen SPD und DKP (den antiautoritären Fraktionen begegnete er mit tiefster Missbilligung) wurde immer größer, und für viele unverständlicher, wie H.M.Bock treffend schreibt: "Seinem Grundsatz entsprechend, dass die ganze Arbeiterbewegung der Ausgangs- und Zielpunkt politisch-strategischen Denkens sein müsse, war er in den siebziger und frühen achtziger Jahren Adressat zunehmend gegensätzlicher politischer Erwartungen, denen er nur in fortgesetzten Akten diskursiver Äquilibristik [Gleichgewichtskunst] gerecht werden konnte."
Dass das Erbe gerade eines solchen Menschen umstritten ist, wen mag das wundern? So auch im neuen Buch. Versuchen die einen ihn — natürlich sehr vorsichtig und behutsam — für den Parteikommunismus zu vereinnahmen, ist er anderen eigentlich ein verstoßener Sohn der Sozialdemokratie. Beides war Wolfgang Abendroth, der Neue Linke, wenn auch hin- und her pendelnd, nie wirklich. Entsprechend leidet Uli Schölers durchsichtiger Versuch, ihn heim ins sozialdemokratische Reich zu holen, zwangsläufig daran, Abendroths Leben und Werk als eines "voller Brüche und Wandlungen" zu betrachten. Sein politisches Lebenswerk könne "nur fruchtbar gemacht werden … wenn wir uns endlich von Lesarten lösen, die aus seinem ganzen Lebensweg eine Kontinuitätslinie zu konstruieren versuchen", schreibt er und gibt damit zu verstehen, dass er Abendroth nicht in den Griff zu bekommen vermag.
Erfrischend dagegen der längere Beitrag von H.M.Bock, der dem Intellektuellentyp Abendroth soziologisch und historisch nachforscht und dabei faszinierende Entwicklungslinien herausarbeitet, voll von Einsichten und Anregungen, Geschichte gegen den Strich zu lesen. Schmerzlich bewusst wird spätestens hier, wie wichtig eine politische Biografie Abendroths und seiner Zeit gerade heute sein könnte.
Die Hälfte des Bandes besteht aus bereits früher veröffentlichten Beiträgen namhafter Zeitgenossen (Oskar Negt, Jürgen Habermas, Frank Deppe, Jürgen Seifert, Richard Löwenthal, Jakob Moneta, Georg Fülberth u.a.), die sich dem verfassungsrechtlichen Werk Abendroths, seiner politischen Soziologie und biografischen Erinnerungen widmen. Die andere Hälfte besteht aus biografisch angelegten Beiträgen der Herausgeber und einer über hundert Seiten langen, weitgehend vollständigen Bibliografie der Abendroth‘schen Schriften. Ein Muss für alle, die sich fortan mit Abendroth beschäftigen wollen. Und dass sie es sollten, dafür bietet der Band reichhaltige Begründung.
F.M.Balzer verbindet seine bibliografische Fleißarbeit mit der expliziten Hoffnung, das fast vollständig vergriffene Werk Abendroths zu seinem hundertsten Geburtstag 2006 möglichst umfassend wieder zugänglich gemacht wird. Als Appetithappen hat er separat das Abendroth‘sche Werk Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie zusammen mit der Gesamtbibliografie, einem unveröffentlichten Abendroth-Text und anderem Begleitmaterial auf CD-ROM gepresst und vertreibt es über den Pahl-Rugenstein-Verlag selbst.
Doch ob mehr daraus werden wird, ist fraglich. Für einen Linkssozialismus in der Tradition Abendroths gibt es im heutigen Deutschland erfahrungsgemäß kein Geld. Auch auf die im Band geäußerte Hoffnung auf eine Abendroth nicht vergessende, demokratisch gereifte politische Kultur in Deutschland sollte man sich nicht verlassen. Einzig ein erneuerter deutscher Linkssozialismus dürfte an einer mehr als sporadischen Sichtung dessen interessiert sein, wofür Wolfgang Abendroth stand. Bis dahin bieten die beiden angezeigten Arbeiten gewichtiges Material.

Christoph Jünke

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang