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Es ist kaum noch zu übersehen, dass die Geschichte der alten Bundesrepublik nicht nur der Vergangenheit angehört, sondern auch als solche zunehmend behandelt wird. Mag es
auch jenen nicht gefallen, die in allem nur eine Entsorgung der Vergangenheit zu sehen vermögen, so hat es in den letzten Jahren doch eine Menge an Veröffentlichungen bspw. zu
"1968" und den 60er Jahren gegeben, die zur reflexiven Aufarbeitung jener Zeit Gewichtiges beizutragen wissen. Auch die Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno, um ein
anderes Beispiel zu nennen, ist durch umfangreiche Studien wieder ins Gespräch gekommen.
Mit dem von Friedrich-Martin Balzer, Hans Manfred Bock und Uli Schöler herausgegebenen Band ist nun auch Wolfgang
Abendroth in die publizistische Öffentlichkeit zurückgekehrt. "Und das ist gut so!", ist man verleitet, auszurufen. Nimmt doch Abendroth eine besondere Stellung in der
Nachkriegsgeschichte der westdeutschen Linken ein. Wie kein anderer war er dazu bestimmt, eine strömungsübergreifende und oftmals noch dazu treibende Rolle in den
verwickelten Fraktionskämpfen derselben zu spielen.
Aufgewachsen in einer kleinbürgerlichen und sozialdemokratischen Familie, stieß Abendroth bereits Anfang der
20er Jahre zur revolutionären Arbeiterbewegung, zur kommunistisch orientierten Jugendbewegung und tat sich bereits vor der Machtübergabe an die Faschisten als
selbstständige Führungsfigur des "Bundes freier sozialistischer Jugend" hervor. Unter dem politischen Einfluss der KPD-Opposition um August Thalheimer und
Heinrich Brandler und dem intellektuellen Einfluss des Austromarxismus (speziell der Otto Bauerschen Variante) machte er die als "Bolschewisierung" verkaufte
Stalinisierung der KP nicht mit.
Zwischen den Hauptströmungen der organisierten Arbeiterbewegung stehend, ging der junge promovierte Jurist zuerst ins
Exil und dann zurück nach Deutschland in den Widerstand. Nach Zuchthaus und Strafbataillon 999 kam er nach dem Krieg über London nach Deutschland zurück. Nach
kurzer Zeit in der sowjetischen Besatzungszone, ging er 1949 nach Wilhelmshaven und 1951 schließlich nach Marburg, wo er zum anerkannten Verfassungsrechtler und politischen
Wissenschaftler in und um die SPD wurde.
Mit seiner Interpretation des Grundgesetzes als Produkt eines Klassenkompromisses, der sich in der Konzeption des
demokratischen und sozialen Rechtsstaats niederschlage und Möglichkeiten einer sozialistischen Transformation eröffne, legte Abendroth über seine biografische Disposition
hinaus auch politisch-konzeptionell die Basis für seine spezielle Rolle im Westdeutschland der 50er und 60er Jahre. Immer wieder versuchte er, die verschiedenartigen Gruppen der
sozialistischen und radikaldemokratischen Linken zusammenzuführen und zu moderieren, um mittels radikaler Transformation von SPD, Gewerkschaften und des verfassungsrechtlichen
Rahmens Schritte zum Sozialismus einzuleiten.
Als jedoch der Verfasser des Gegenentwurfs zum berühmt-berüchtigten Godesberger Parteiprogramm der SPD
kurze Zeit später aus dieser hinausgeworfen wurde, musste er seine Kampftaktik in Richtung einer stärker eigenständigen Organisierung verändern. Mit dem wesentlich
von ihm bestimmten Sozialistischen Bund und seiner Einflussnahme auf den sich radikalisierenden Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) beteiligte er sich federführend an der
Formierung einer westdeutschen "Neuen Linken" (siehe SoZ 19/01). Doch auch dieser Versuch eines organisierten Linkssozialismus scheiterte nach 1968.
Abendroth zog sich danach auf eine Position jenseits aller Stühle zurück und spielte fortan eine weniger praktisch-
organisatorische denn intellektuelle Vermittlerrolle zwischen sich zunehmend auseinander driftenden Linksgruppierungen. Der Spagat zwischen SPD und DKP (den antiautoritären
Fraktionen begegnete er mit tiefster Missbilligung) wurde immer größer, und für viele unverständlicher, wie H.M.Bock treffend schreibt: "Seinem Grundsatz
entsprechend, dass die ganze Arbeiterbewegung der Ausgangs- und Zielpunkt politisch-strategischen Denkens sein müsse, war er in den siebziger und frühen achtziger Jahren
Adressat zunehmend gegensätzlicher politischer Erwartungen, denen er nur in fortgesetzten Akten diskursiver Äquilibristik [Gleichgewichtskunst] gerecht werden konnte."
Dass das Erbe gerade eines solchen Menschen umstritten ist, wen mag das wundern? So auch im neuen Buch. Versuchen die
einen ihn natürlich sehr vorsichtig und behutsam für den Parteikommunismus zu vereinnahmen, ist er anderen eigentlich ein verstoßener Sohn der
Sozialdemokratie. Beides war Wolfgang Abendroth, der Neue Linke, wenn auch hin- und her pendelnd, nie wirklich. Entsprechend leidet Uli Schölers durchsichtiger Versuch, ihn heim ins
sozialdemokratische Reich zu holen, zwangsläufig daran, Abendroths Leben und Werk als eines "voller Brüche und Wandlungen" zu betrachten. Sein politisches
Lebenswerk könne "nur fruchtbar gemacht werden … wenn wir uns endlich von Lesarten lösen, die aus seinem ganzen Lebensweg eine Kontinuitätslinie zu
konstruieren versuchen", schreibt er und gibt damit zu verstehen, dass er Abendroth nicht in den Griff zu bekommen vermag.
Erfrischend dagegen der längere Beitrag von H.M.Bock, der dem Intellektuellentyp Abendroth soziologisch und historisch
nachforscht und dabei faszinierende Entwicklungslinien herausarbeitet, voll von Einsichten und Anregungen, Geschichte gegen den Strich zu lesen. Schmerzlich bewusst wird spätestens
hier, wie wichtig eine politische Biografie Abendroths und seiner Zeit gerade heute sein könnte.
Die Hälfte des Bandes besteht aus bereits früher veröffentlichten Beiträgen namhafter Zeitgenossen
(Oskar Negt, Jürgen Habermas, Frank Deppe, Jürgen Seifert, Richard Löwenthal, Jakob Moneta, Georg Fülberth u.a.), die sich dem verfassungsrechtlichen Werk
Abendroths, seiner politischen Soziologie und biografischen Erinnerungen widmen. Die andere Hälfte besteht aus biografisch angelegten Beiträgen der Herausgeber und einer
über hundert Seiten langen, weitgehend vollständigen Bibliografie der Abendrothschen Schriften. Ein Muss für alle, die sich fortan mit Abendroth beschäftigen
wollen. Und dass sie es sollten, dafür bietet der Band reichhaltige Begründung.
F.M.Balzer verbindet seine bibliografische Fleißarbeit mit der expliziten Hoffnung, das fast vollständig vergriffene
Werk Abendroths zu seinem hundertsten Geburtstag 2006 möglichst umfassend wieder zugänglich gemacht wird. Als Appetithappen hat er separat das Abendrothsche Werk
Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie zusammen mit der Gesamtbibliografie, einem unveröffentlichten Abendroth-Text und anderem Begleitmaterial auf CD-ROM gepresst
und vertreibt es über den Pahl-Rugenstein-Verlag selbst.
Doch ob mehr daraus werden wird, ist fraglich. Für einen Linkssozialismus in der Tradition Abendroths gibt es im
heutigen Deutschland erfahrungsgemäß kein Geld. Auch auf die im Band geäußerte Hoffnung auf eine Abendroth nicht vergessende, demokratisch gereifte politische
Kultur in Deutschland sollte man sich nicht verlassen. Einzig ein erneuerter deutscher Linkssozialismus dürfte an einer mehr als sporadischen Sichtung dessen interessiert sein,
wofür Wolfgang Abendroth stand. Bis dahin bieten die beiden angezeigten Arbeiten gewichtiges Material.
Christoph Jünke
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